Carlotta & Co wurden irgendwann in den 2000er Jahren völlig zerschnitten, verängstigt und dissoziiert auf meiner Station eingeliefert. Ich arbeite auf einer geschützten psychiatrischen Akutstation.
Anfangs war es kaum möglich, mit ihr Kontakt aufzunehmen, sie kauerte sich zusammen unter dem Waschbecken oder schrie und wehrte sich mit Zähnen und Klauen, wenn man sich ihr nähern wollte, um die blutenden, klaffenden Wunden zu versorgen.
Also blieb leider erstmal nichts anderes übrig, als sie zu sichern.
Das heißt im Klartext: sie im Bett zu fixieren und nach z.B. Rasierklingen zu durchsuchen.
(Eine Fixierung ist das absolut letzte Mittel, um jemanden wie Carlotta & Co davor zu bewahren, sich noch mehr und möglicherweise tödliche Verletzungen zuzuziehen.)
Carlotta & Co hatten einige Rasierklingen und Medikamente am und im Körper versteckt, je mehr ich fand und je sorgfältiger ich die Wunden versorgte, um so böser und feindseliger wurden sie.
Sie wanden und wehrten sich und sie waren trotz der Fixiergurte extrem beweglich.
Der Einfallsreichtum und die Hartnäckigkeit, diese Fesseln loswerden zu wollen, führten zu einigen Situationen, in denen sie sich zumindest teilweise befreit haben, um sich dann eine nicht entdeckte Rasierklinge zu schnappen, die Zunge aufzuschneiden und mit blutiger Zunge „Satan“ an die Wand zu schreiben.
Eigentlich klingt das für beide Seiten nicht nach einem gelungenen Start für eine gute therapeutische Beziehung.
Carlotta & Co waren oft und viele Wochen und Monate bei uns.
Ich war oft schockiert von der kompromisslosen Brutalität, mit der sie versuchten, sich selbst zu zerstören.
Es gab trotz aller Sicherheitsvorkehrungen mehr als nur eine Situation, in der es fast gelungen wäre und wir sie im letzten Moment retten konnten.
Diese Seiten von Carlotta&Co führten zu Unterbringungen, Zwangsmaßnahmen und offenbarten eine Form von Selbstdestruktivität, die ich bis dahin so nicht kannte.
Nach und nach habe ich in vielen langen Gesprächen gelernt, was Carlotta & Co zu dem gemacht hatte, was sie zu dem Zeitpunkt war: eine unfassbar brutale, (willens-)starke, kämpferische, herzensgute, kreative, wunderbar humorvolle Frau, deren Seele zerfasert und zerstört worden ist.
Die abhängig und gefügig gehalten wurde, auf Codes in antrainierter Weise reagieren musste und keinerlei Chance hatte, sich daraus aus eigener Kraft zu befreien.
Die Macht der Täter*Innen war zu groß.
Die Bedrohung war im Außen, das Gefängnis war im Kopf.
Meine Herausforderung war es, die Bedrohung von außen (zumindest für die Zeit der stationären Aufenthalte) möglichst gering zu halten und das unendliche Chaos verschiedener Anteile mit verschiedenen Wünschen und Bedürfnissen wenigstens ein bisschen zu ordnen und das Selbstzerstörungsprogramm zu unterbrechen.
Am liebsten erinnere ich mich an unsere Gespräche, in denen Carlotta & Co mir ihre Welt erklärten, in denen wir zusammen gelacht und zusammen geheult haben, an innere Landkarten, satanische Feiertagskalender und das Musik hören im Stationsgarten.
Wir konnten uns aufeinander verlassen, sie sich auf mich und ich mich zunehmend auf sie.
Um sie vor allem vor der Bedrohung außen zu beschützen, wurden sie in eine geschlossene Einrichtung nach Sandenbeck verlegt. Danach habe ich lange nichts mehr von Carlotta & Co gehört.
Aber vergessen habe ich sie nie, sie hat mich Dinge gelehrt, mich sensibilisiert für die heute noch aktuelle Präsenz ritueller Gewalt, die von so vielen immer noch nicht gesehen werden will.
Sich daraus zu befreien und auch an sich selbst zu arbeiten, um ein einigermaßen ruhiges Leben führen zu können, gleicht einer unlösbaren Aufgabe.
Ich habe ihnen immer von tiefstem Herzen gewünscht, dass es gelingen möge.
Und ich wünsche ihnen, dass es Menschen um sie gibt, die sie glücklich machen.
Ich wünsche ihnen Ruhe und Frieden im Herzen und Kraft für alles, was noch kommt.
Frau Haiken