Außenwahrnehmung Herr Reiter

Außenwahrnehmung von Herrn Reiter (Leiter des späteren geschl. Wohnheims, wo uns der Ausstieg gelang)

Carlotta aka Zeitmemory:

Hatten Sie Bedenken vor der Aufnahme von uns?

Herr Reiter:


Ich recherchierte im Internet, sprach mit direkten Leitungskollegen, mit Ärzten und auch mit einer damaligen Vorgesetzten. Die Ablehnung die mir von fast ausnahmslos allen Seiten entgegenströmte, ließ mich aufhorchen. Insbesondere erinnere ich mich daran, wie Sachbearbeiter der (…) immer wieder versuchten, mir klar zu machen, dass ich den Fall nicht annehmen sollte. Und genau durch all diese Menschen fing ich an zu glauben bzw. zu befürchten, dass an der Geschichte (Kult) etwas dran sein könnte. (…) Ich erinnere mich aber sehr genau an den Argwohn, die Versuche der Behinderung meines Handelns und die Versuche der Manipulation meiner Person, mit der Absicht, Ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen.

Carlotta aka Zeitmemory:

Würden Sie mir das noch einmal genauer erklären? Was vermuteten Sie für Motive dahinter? Finanzielle Gründe? Glaubwürdigkeitsfragen? …oder möchten Sie hier etwas andeuten, dass Sie da etwas als „komisch“ erlebt haben?

Herr Reiter:


Das ist so eine Sache. Ich will mal versuchen, mich langsam an die Antwort anzunähern. Zu der damaligen Zeit waren Themen wie „ritueller Missbrauch“, „Satanskult“ etc. noch sehr viel unbekannter in unserer Gesellschaft als heute. Solche Themen machten und machen immer noch Angst. Das ist durchaus verständlich. Je mehr wir uns damit und mit Ihnen beschäftigten, desto mehr verängstigten wir wohl auch Menschen in unserem direkten Umfeld. An alleroberster Stelle seien hier noch einmal die Mitarbeiter genannt, die ich dann auf eigenen Wunsch versetzt habe, weil sie nicht bleiben wollten. Im Vorfeld Ihres Einzuges, nahmen Ärzte eines psychiatrischen Krankenhauses aus der Nähe Kontakt zu uns auf  mit der Absicht, uns davon abzubringen, Sie aufzunehmen. Man wollte sich wohl nicht gerne um Sie kümmern müssen, falls mal eine Krisenintervention nötig wäre.
Wir haben hier also schon zwei ablehnende Gründe: Erstens Angst vor dem Unbekannten und Furcht davor, selbst oder mit Familie in Schwierigkeiten zu kommen. Zweitens weil man Sorge hatte, durch unsere „Inkompetenz“ zusätzliche Arbeit bekommen zu können (mögliche Aufnahmen in der Psychiatrie).
Kommen wir zu Grund drei. Ich will da mal ganz vorsichtig sein. Wir hatten zumindest den Eindruck, dass die Bestrebungen der (…) nicht unbedingt zu Ihrem Vorteil waren.


Da man, wenn man sich mit solch dunklen Kapiteln der Menschheit beschäftigt, unweigerlich anfängt, anders zu denken, kommt man auf die Idee, dass irgendwo im Hintergrund möglicherweise der Sekte zugetane Kräfte am Wirken sind. Sie werden verstehen, was ich meine.
Irgendwann jedenfalls hörte der Druck ganz plötzlich auf. Urplötzlich und völlig unvermittelt. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich in einem meiner Gespräche mit der (…) Anmerkungen zu meiner Skepsis dem Verhalten der Sachbearbeiter gegenüber geäußert hatte. Kurz darauf gab es keinerlei Widerstände mehr. Es war plötzlich vorbei.
Wie dem auch sei, wer auch immer und aus welchen Gründen jemals in diesem Zusammenhang geglaubt hat, wir würden uns einschüchtern lassen, wurde eines Besseren belehrt. Mit jedem Versuch, uns zu blockieren wuchs unser ungebrochener Wille, Sie zu beschützen. So war das damals. Ist schon irre, wenn ich heute so daran zurück denke. Und es macht mich unbeschreiblich glücklich, dass wir damit dazu beitragen konnten, dass Sie ein eigenes und selbstbestimmtes Leben führen können.

Carlotta aka Zeitmemory:


Erinnern Sie noch einzelne Situationen mit uns?

Herr Reiter:


Ich erinnere mich z.B. an eine Situation, die mir noch lange sehr leid getan hat. Über Kollegen wurde ich zu Ihnen ins Zimmer gerufen. Es ging Ihnen nicht gut und die Situation schien körperlich in einer Art zu eskalieren, wie wir glaubten, es von anderen Bewohnern zu kennen. Wir wussten nicht, was auf uns zukam und reagierten, wie wir es gewohnt waren, wenn jemand „ausflippte“ (verzeihen Sie mir den Ausdruck). Ich “umarmte” sie von hinten, um Sie festzuhalten, damit Sie sich nicht verletzen. Dies ist in bestimmten Situationen bei bestimmten Menschen ein durchaus sinnvolles Mittel, um beruhigend auf sie einzuwirken. In dieser Situation war es absoluter Blödsinn. Es endete darin, dass Ihre Muskeln irgendwann nachgaben und Sie in sich zusammen sackten. Sie weinten so verzweifelt und bitterlich, dass ich zutiefst traurig darüber war, in Ihrem Fall genau den falschen Weg gewählt zu haben.

Carlotta aka Zeitmemory:

Was wäre denn die Alternative gewesen, frage ich immer in solchen Situationen!? Ich weiß jetzt zwar wirklich nicht, was „die Situation schien körperlich in einer Art zu eskalieren“ genau im Detail heißt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie abgewägt haben und überzeugt davon waren, dass diese Lösung die am wenigsten Invasive darstellte.

Herr Reiter:

Die Eskalation bezog sich auf Folgendes. Meine Kollegin rief um Hilfe. Sie war mit Ihnen auf Ihrem Zimmer und geriet in eine Situation, in der, wie ich mich zu erinnern glaube, eine Ihrer Persönlichkeit versuchte, Ihrem Körper, sagen wir mal, erheblichen Schaden zuzufügen. Ich schritt in dieser Situation ein, Sie switchten in eine andere Persönlichkeit und das Chaos war perfekt. Ich habe es damals so gedeutet, dass die Persönlichkeit, die plötzlich vorne war und erleben musste, wie sie festgehalten wurde, völlig überfordert war und das Gefühl gehabt haben musste, ihr würde Gewalt angetan. Und genau das war ja das, was wir eigentlich zu verhindern versuchten, damit Sie alle lernen konnten, dass Sie in Sicherheit sind. Nun verstehen Sie sicher mein Dilemma und meine Traurigkeit über diesen Schritt, den ich so bereute.
Gleichwohl war dieses Erlebnis der Grundstein für all unser zukünftiges Handeln mit Ihnen. Wir lernten so einige Ihrer Persönlichkeiten kennen, verstanden uns mit der einen und diskutierten mit der anderen.

Carlotta aka Zeitmemory:

Ja, da musste ich echt lachen und schmunzeln mit dem Diskutieren ;).

Herr Reiter:

Und einmal, so erinnere ich mich, war scheinbar plötzlich ein Baby vorne. Alle bisher erlernten Möglichkeiten, Sie, Carlotta, zurück nach vorne zu holen, scheiterten zunächst daran, dass ich mit dem Baby nicht kommunizieren konnte. Genauso wie meine umstehenden beiden Kolleginnen war ich zunächst ratlos, was ich tun könnte, um die Situation aufzulösen. Da fiel mir jemand ein, mit dem ich bereits in anderen Situationen kommuniziert hatte. „T.“, Ihr Beschützer. Ich rief ihn und bat ihn, mich in Kontakt mit Ihnen, Carlotta, zu bringen. Er half mir schließlich. Ich weiß noch sehr genau, wie eine meiner umstehenden Mitarbeiterinnen nachher zu mir kam, um mir zu sagen, wie sehr sie mich für mein Handeln bewundert hätte. Sie hatte keine Ahnung, wie weich meine Knie waren. Ich hatte instinktiv gehandelt und in diesem Moment keine Idee von professionellem Handeln gehabt.


Carlotta aka Zeitmemory:


“Wie haben Sie uns in der Bewohner-Gruppe, die überwiegend aus beeinträchtigten Menschen bestand,  erlebt?“

Herr Reiter:


Wir waren oft zutiefst bewegt darüber, wie Sie sich teilweise mit anderen Mitbewohnern auseinandergesetzt haben. Sie hatten keine Angst und keine Hemmungen und waren für andere Bewohner so manches Mal wie eine große Schwester. Zudem machten Sie gelegentlich den Eindruck, als wären Sie eine meiner Mitarbeiterinnen. Sie haben eine sehr große soziale Kompetenz.


Carlotta aka Zeitmemory:


Auch hier musste ich schmunzeln. 😉 Ja, das glaube ich gerne, dass ich wohl manchmal wie ein Mitarbeiter gewirkt habe. Ich glaube, ich brauchte das 1. um mich abzugrenzen 2. für den Selbstwert 3. als Aufgabe und um mir zu beweisen, dass ich etwas kann und Kompetenzen habe, die ich einsetzen kann. Aber ich bin mir auch sicher, dass das ein schmaler Grat war… mich nicht einmischen, ist nicht meine Kernkompetenz 😉 hihi

Herr Reiter:

Ich fand das sehr schön. Viele unserer schwächeren Bewohner haben Sie so sehr gemocht. Ich habe nie vergessen, dass Sie eine gelernte Fachkraft waren und ich wollte nicht, dass Sie wie ein dummes Kind behandelt werden!

Carlotta aka Zeitmemory:


Ich kam wirklich gut mit denen klar. Denn ich finde irgendwie: Sie sind grundehrlich. Wenn sie sauer sind, sind sie sauer. Wenn sie glücklich sind, sind sie glücklich.

Was können Sie zum Thema „Alltag“ sagen?

Herr Reiter:


Ich erlebte einen, wie ich finde, ganz reizenden Menschen, der zunächst verschüchtert und zurückgezogen sich auf den Weg machte, ein neues, selbstbestimmtes und eigenes Leben zu finden. Sie hatten so viel Mut und Kraft. Ich sah Ihnen manchmal auf dem Flur hinterher und war einfach sehr stolz auf Sie!


Carlotta aka Zeitmemory:


Können Sie etwas zum Thema „Weg im Heim zusammenfassend“ sagen?

Herr Reiter:


Mir hat sich Ihre Entwicklung dahingehend dargestellt, dass die Probleme und auch Reibungen mit unserem Personal intensiver wurden. Das war aus meiner Sicht ein gutes Zeichen. Wir konnten daran erkennen, dass Sie uns immer weniger brauchten. Und so konnten die Kolleginnen und Kollegen Sie darin unterstützen, Ihren Weg in ein eigenes Leben, außerhalb unserer Mauern, vorzubereiten.
Jeder hatte damals seine Aufgabe oder Rolle Ihnen gegenüber. Diejenigen, mit denen Sie gut klar kamen, und auch diejenigen, mit denen Sie Schwierigkeiten hatten. Sie alle spiegelten die Vielfalt des Lebens wieder. Es gibt nicht überall nur Sonnenschein. Hätten wir Ihnen das präsentiert, wären Sie gescheitert. Nur wenn man die Welt mit all ihren Facetten erkennt und lernt, mit ihnen zu leben, sie zu akzeptieren, wird man stark genug sein, um allen Anforderungen gewachsen zu sein. Ihr Bezugsbetreuer war sicher für eine ganze Weile ein ganz wichtiger Mensch für Sie. Auch andere für eine Weile. Aber alle anderen, auch die, die Ihnen anders gegenübertraten, waren sehr wichtig für Sie und Ihre Entwicklung. Auch die Konflikte mit einzelnen waren genauso wichtig wie die guten Zeiten, in denen Sie miteinander gelacht haben.


 Carlotta aka Zeitmemory:


Was wurde vom Team zurückgemeldet?

Herr Reiter:


(…) Je weiter Sie sich entwickelten, desto größer wurden auch die Probleme, die Sie mit unserem Team hatten. Manch ein Mitarbeitender war sicher auch mal mit seinen Nerven am Ende. All das war aber Teil Ihrer Entwicklung, vielleicht vergleichbar mit einem Kind, das in der Pubertät lernt, sich gegen die Eltern durchzusetzen. All das war in Ordnung. Und so schwer die Zeiten auch manchmal für Sie und natürlich auch unsere Mitarbeitenden waren, wir haben Sie sehr geschätzt und gern gehabt.
In den vergangenen Jahren taucht die Erinnerung an Sie immer mal wieder in Gesprächen zwischen mir und Kollegen auf. Noch immer freuen wir uns darüber, dass wir Sie kennenlernen durften. Sie (alle) haben uns viel beigebracht. Haben Sie großen Dank dafür!
Machen Sie weiter so. Leben Sie Ihr Leben mit aller Kraft, denn es lohnt sich! Es hält, neben vielen unangenehmen Dingen auch viele wundervolle Momente für uns bereit.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen etwas bedeutet? Ich bin noch immer wirklich sehr stolz auf Sie!