Außenwahrnehmung Nika

Außenwahrnehmung von Nika –  Komplette Zeit Kleinigen zusammen gewohnt, Freundschaft bis jetzt

Carlotta aka Zeitmemory:

Wie hast du Carlotta kennengelernt?

Nika:

Das muss 2005 gewesen sein. Vor dem Eingang zum Heim in Kleiningen, in dem ich lebte, gab es eine kleine flache Mauer, auf der wir Mädels gerne saßen und Zigaretten rauchten. An Carlottas Einzugstag schien die Sonne warm. Ich wusste, dass eine neue Mitbewohnerin einziehen sollte und wartete schon neugierig rauchend auf der Mauer. Der erste Eindruck war positiv – ich rollte nicht innerlich mit den Augen und dachte: Oh je, sondern Carlotta wirkte freundlich, nett, offen und „normal“ intelligent – was bei einigen Mitbewohnern nämlich nicht der Fall war. Wir kamen schnell ins Gespräch – rauchend auf der Mauer.

Carlotta aka Zeitmemory:

Wie hast du von Carlottas Geschichte erfahren?

Nika:

Ich hatte in den ersten Tagen oder vielleicht auch Wochen keinerlei Vorstellungen, was Carlotta für eine Geschichte mitbringt oder welche Diagnose bzw. Symptome sie hat. Wir haben uns aber auf Anhieb gut verstanden, die Wellenlänge und Chemie stimmten und wir fassten schnell Vertrauen und Freundschaft zueinander.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann und wie ich über Carlottas DIS und Täterhintergrund erfahren habe.

Carlotta aka Zeitmemory:

Wie hast du Carlotta erlebt?

Nika:

Wir waren im Heim eine Vierer Mädels Clique und hockten oft zusammen, lernten uns kennen und tauschten uns aus. Mal war die eine und mal die andere stärker in einer Krise.
Für mich war bei Carlotta die DIS nicht stark auffällig im Alltag. Ich hatte gefühlt dreiviertel oder sogar etwas mehr mit Carlotta Kontakt.
Woran ich mich erinnere sind schwere Krisen, teilweise schon Ausnahmezustände bei Carlotta.

In diesen Zeiten waren dann oft andere Innenpersonen vorne, die oft sehr problematisches Verhalten zeigten. Oder Carlotta war dann sehr ruhig, wahrscheinlich auch durch hochdosierte Medikamente. Für mich wirklich beängstigende Innenpersonen habe ich nie bewusst kennengelernt.

Carlotta aka Zeitmemory:

Gibt es Beispiele?

Nika:

Es gab eine Begegnung mit einem sehr verängstigtem jüngeren Mädchen (würde ich sagen). Sie versuchte, mir etwas zu erklären und verzweifelt, teilweise mit ihren Fingern auf den Tisch schreibend, sich auszudrücken. Ich wusste kaum wie ich ihr helfen konnte. Ich wollte ihr zeigen, dass sie mir vertrauen kann und im Heim sicher ist – da wusste ich noch nichts über den bestehenden Kontakt zu den Tätern, geschweige denn, dass die Täter auch schon längst vor Ort waren.
Ich habe auch mal einen Beschützer kennengelernt. Er saß mit mir im Raucherraum und war müde und angestrengt. Ich wollte den „Innies“ von Carlotta immer das Gefühl geben, dass sie mir vertrauen können, dass ich gerne ein offenes Ohr habe für ihre Sorgen und Ängste. Der Beschützer von Carlotta musste einfach mal Dampf ablassen und sich schon fast beschweren, wie anstrengend es ist, auf die ganzen Mädels im Innen aufzupassen, zu verhindern das nicht einen Blödsinn machen. Das stellte ich mir auch sehr schwer vor. Ich versuchte, ihm Mut zu zusprechen.

Carlotta aka Zeitmemory:

Wie erlebtest du Carlotta in Krisen?

Nika:


Insgesamt erlebte ich Carlottas schwere Krisen eher so, dass sie dann viel oder tagelang nur in ihrem Zimmer war und nur die Betreuer Zugang hatten. Oder sie musste in die Psychiatrie zur Intervention.
Ich erfuhr dann im Nachhinein, was los gewesen war, welche Schwierigkeiten und oft krasse, unmenschliche Taten oder „Symptome“ Carlotta erleben und erleiden musste.

Carlotta aka Zeitmemory:

Was würdest du über sie beschreibend sagen?

Nika:

Carlotta ist ein sehr kreativer Mensch. Sie kann sehr gut zeichnen und malen, aber auch tolle Texte verfassen. Sie schminkt sich besonders zu Festivals oder Gothic-Fotoshootings. Carlotta hat auch selbst ein gutes Auge für die Fotografie, und seit ich sie kenne, macht es ihr unglaublich viel Spaß, verschiedenste Motive und Situationen zu fotografieren – allerdings mussten auch die einen oder anderen darunter leiden, dass Carlotta so perfektionistisch ist. Ihr heutiger Hund beispielsweise hat von Anfang an gelernt, still zu halten und selbst in verschiedensten Kostümen zu posieren. Stundenlange Fotosessions – bis das schönste Bild im Kasten war. Das kostete Freunde und auch ihren Mann heute Nerven und Durchhaltevermögen. Doch die ansteckende Freude über das Ergebnis machten und machen alles wieder entspannt.

Ein Beispiel…
An meinem 30. Geburtstag waren wir mit unserer Mädelstruppe am Strand. Während wir im Wasser plantschten oder uns sonnten, saß Carlotta, bzw. wahrscheinlich ein jüngeres Mädchen die ganze Zeit in einem Gebüsch, um für mich Möwen zu fotografieren – ich mag Möwen und Möwenbilder sehr gern und Carlotta wollte mir unbedingt die Freude machen und schöne Möwenfotos knipsen. Diese Fotos sind mir heute wertvoll – weil ich diese Geduld so bewundere.

Carlotta aka Zeitmemory:

Wie ging/geht es dir als Freundin mit Carlottas Geschichte?

Nika:

Für mich als Freundin von Carlotta war es oft nicht einfach zu ertragen, was ihr angetan wurde oder was sie sich selbst antat oder antun musste.
Es stellte sich heraus, dass es trotz des Einzugs ins Heim Täterkontakt gab. Es fanden körperliche Misshandlungen statt, teilweise musste Carlotta deswegen ins Krankenhaus. In einigen Situationen wurde Carlotta im Heim nicht geglaubt. Es wurde ihr nicht geglaubt, dass die Verletzungen durch Fremdeinwirkung zustande kamen, sondern es wurde behauptet, dass alles Selbstverletzung war. Doch man sagte es ihr nicht direkt ins Gesicht. Die Betreuer tuschelten mit den Ärzten oder Klinikpersonal.
Teilweise bekam ich eine kleine Ahnung, wer oder was alles an Tätern in Frage kommt und wo es Verbindungen gibt. Und das wiederum warf selbst bei mir die Frage auf: Wie soll Carlotta da jemals rauskommen?
Manchmal vergingen Tage, manchmal sogar Wochen, in denen Carlotta quasi nicht „vorne“ war, sondern schwer traumatisierte oder vielleicht sogar täternahe Persönlichkeiten? Das kann ich nicht genau sagen, denn Carlotta hing das nie an die große Glocke und plauderte darüber. Sie war in diesen Zeiten natürlich nicht oft bei uns mit in der Mädelsrunde oder kam auch gar nicht aus ihrem Zimmer. Wenn Carlottas Platz auf dem Sofa im Mädchen-Wohnzimmer leer blieb, dann wussten wir, dass es ihr nicht gut ging, Krise oder sogar ein längerer Wechsel war.
Doch zum Glück gab es Carlotta und einige Innenpersonen, die ihr Ziel, frei zu leben, nicht aus den Augen verloren. Und wann immer es ging, erkämpften sie sich ein Stück mehr Sicherheit, Stabilität und Freiheit. Wobei diese Dinge erst seit wenigen Jahren nicht mehr so zerbrechlich sind als wie noch zu unserer Zeit im Heim oder während Carlottas Zeit im geschlossenen Heim.
Carlotta war und ist so stark. Sie ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Und das trotz der unfähigen Betreuer! Sie informierte sich, hörte auf ihr Bauchgefühl und probierte sämtliche Dinge aus, die helfen könnten.

Im Nachhinein sehe ich ein Bild vor mir, sehe ich Carlotta & Co, wie sie alle auf einem Weg laufen, schon fast intuitiv, und sich durch nichts aufhalten lassen. Und es gab so viele Gefahren auf dem Weg für Leib und Leben. Wie ein Schildkrötenbaby, das sich seinen Weg ins Meer sucht, obwohl es gar nicht weiß, wo das Meer ist oder was das Meer ist.
Immer wieder mussten Carlotta & Co sich aufrappeln – und dabei behielten sie ihren Humor, ihre Lebenslust, ihren Blick für das Schöne und waren/sind „eine“ vertrauensvolle, Rat gebende, zuhörende Freundin! Wie kann das gehen? Davor ziehe ich meinen Hut und bin so unglaublich stolz auf Carlotta & Co!
Letztendlich entschied sich Carlotta dafür, in ein geschlossenes Heim zu ziehen. Was für ein Schritt! Sie zog weg von ihren Freunden, weg aus dem gewohnten Umfeld und in eine ganz neue Stadt! Außerdem lebten in diesem neuen Heim in der fremden Stadt überwiegend ältere, körperlich und vor allem geistig behinderte Menschen! Wie schafft man das? Wie hält man das aus?

Carlotta hat diese Stärke! Und hatte sicherlich auch keine anderen Möglichkeiten mehr um zu überleben.