Teil 14

Nachdem Zeitmemorys sich nun entschieden haben, das Buch doch vollenden zu wollen, versuchen wir mal, mit der Beschreibung Carlotta & Cos Leben fortzufahren.

Geendet hatten wir mit der Situation, dass Jannis mal wieder in seiner Not die Betreuer des Wohnheims in Kleiningen, Frau Sommer und dann auch noch zu guter (schlechter) Letzt die Polizei angerufen hatte, um jeden darüber zu informieren, dass Carlotta noch immer Übergriffe ertragen musste und dass er wolle, dass sie endlich geschützt würden. Daraufhin brach in Carlotta erneut die Panik los, was das alles nun wieder für Folgen für sie haben würde. Sie versuchte, über ihren gesetzlichen Betreuer herauszufinden, was die Polizei nun machte.
Aber nach kurzer Zeit wurde klar, dass gar nichts gemacht wurde daraufhin. Doch das beruhigte Carlotta & Co nur partiell.

Alles schwierig

Ihre Situation war weiterhin sehr, sehr schwierig, fast hoffnungslos, und sie fühlte sich so oft alleingelassen mit ihrem So-Sein und So-Reagieren-Müssen. Mit ihrer neuen Bezugsbetreuerin lief es oberflächlich zwar ganz ok, aber wirklich anvertrauen mit all dem, was sie erlebten, fühlten, dachten das war unmöglich. Und auch mit Herrn Schukow lief es weiterhin suboptimal.

Frau Sommer hatte ja angeregt, auf die Suche nach neuen qualifizierteren Therapeuten zu gehen. Nur das gestaltete sich auch sehr schwierig. Carlotta & Co hatten zwar viele Therapeuten angeschrieben oder ihnen auf den Anrufbeantworter geredet, doch nur ein Bruchteil meldete sich überhaupt zurück – selbst bei mehrmalig versuchter Kontaktaufnahme. Andere sagten sofort ab. Entweder wegen „kein Platz“, „ich führe schon gar keine Warteliste mehr“ oder weil ihnen mit DIS-Patienten und dann noch mit einer noch nicht sicheren DIS-Patientin zu arbeiten zu viel gewesen wäre oder sie entsprechende Qualifikationen nicht hatten.

3 Vorgespräche führten Carlotta & Co allerdings doch. Aber auch das war jeweils ein Reinfall.
Die erste Therapeutin fragte, wohlbemerkt nachdem sie eigentlich den Anfragebrief inklusive Diagnosenennung und Schilderung der Situation gelesen haben musste: „Ach sie meinen multipel??? Nee sowas behandle ich nicht!“


Die zweite Therapeutin ließ sich erst auf ein eineinhalb stündiges Erstgespräch ein, in dem sie wirklich sehr viele auch schwierige Fragen stellte… und Carlotta & Co im Glauben ließ, Chancen auf einen Therapieplatz zu haben. Doch kurz vor Schluss sagte sie dann: „Nein. Es stand von Anfang an fest, dass ich nicht mit ihnen arbeite. Aber ich wollte mir das mal anhören. Das klang so interessant!“


Die dritte Therapeutin war sich nach dem Erstgespräch unsicher und bat um Bedenkzeit. Allerdings brauchte es diese für Carlotta gar nicht, denn sie empfand diese Therapeutin als so seltsam und unsympathisch, dass sie ablehnte, weil sie wusste, dass sie nie hätte mit ihr arbeiten können.

Carlotta & Co reagierten auf übliche Weise: Nach außen hin überdreht, happy, ständig aktiv. Innen wurde das unbestimmte Gefühl einer Bedrohung aber gefühlt und wahrgenommen. Doch es einzuordnen gelang nicht.

Die Haare wurden plötzlich schwarz gefärbt plus farbigem Pony, was zu Herrn Ahlfeld zu gehen noch unmöglicher machte.

Tagebuch aus dieser Zeit:

„In der Zwischenzeit echt gut abgestürzt. Kurz nach dem letzten Tagebucheintrag hier waren wir allein in der Stadt, und plötzlich steht da so ein Kerl vor uns… und echt jetzt, keine Ahnung wie der aussah. Ich kann mich verdammt noch mal an kein Gesicht erinnern… Nur alles so verschwommen und so ein Anblick wie heiße Luft im Sommer über dem Asphalt… alles so flimmerig… ich hab nichts sehen können. Hab nur noch mitgekriegt, dass er irgend nen Namen von uns genannt hat und irgendwas mit „heute“…, dann war ich weg… Und irgendwann irgendwie wieder im Wohnheim. Dort ging es uns mit dem ganzen voll schlecht irgendwie. Waren voll disso-mäßig drauf. Sind dann zum Betreuer gegangen und haben das erzählen müssen. Haben Bedarf ohne Ende genommen und dann ist es doch passiert. Wieder geschnitten – wahrscheinlich, weil wir beim Betreuer waren. Na klasse!
Dann also wieder in die Stadt zum Nähen ins Krankenhaus. Begleiten wollte oder konnte mich keiner. Naja, also musste es allein gehen, obwohl das schon echt beängstigend war… wir fühlten uns meeega unsicher.


Im Krankenhaus war zumindest der Arzt nett und hat ordentlich genäht, so dass zumindest das Unkomplizierte abgehakt werden konnte. Für den Heimweg hab ich uns aber ein Taxi bestellt, weil mir das alles zu kribbelig und unsicher wurde, je später es am Tag war. Die Betreuer waren dann auch echt froh, dass wir wieder im Wohnheim ankamen. Die hatten schon auf dem Schreibtisch ne Personenbeschreibung von uns liegen für den Fall, dass wir nicht ankommen. Das hat mich ganz schön erschreckt… tja, aber ja, es ist ja so. Nur manchmal mag ich das halt nicht sehen und ständig im Kopf haben.


Und es hat sich ja auch bewahrheitet. Aber was da dann nachts gelaufen ist … oder nicht… kann und will ich auch gar nicht schreiben, denn die sch… Betreuer wühlen ja doch ab und zu mal in unseren Sachen rum.


Und die eine Mitbewohnerin dreht schon wieder durch. Das nervt voll. Das regt mich alles so zusätzlich auf, dass hier so gelästert wird und falsch wiedergegeben wird. Das ist sooo scheiße! Oft hab ich mir vorgenommen, uns da rauszuhalten, aber das geht nicht, weil die eine geht voll auf uns ab. Ein Betreuergespräch außer der Reihe reicht, um wieder Gesprächsthema zu sein und angefeindet zu werden, weil wir ja zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Die dumme Kuh versteht es echt, die Stimmung von hoch oben bis in den Keller zu reißen und es gibt von Mögen bis Hassen innerhalb weniger Minuten. Das macht voll Stress, unfreiwillig Teil dieser Dynamiken zu sein!“

Die Wochen vergingen und nichts wandelte sich. Der Zustand, in dem Carlotta & Co waren, strengte sie nur noch weiter an und erschöpfte sie. Sie versuchte wieder, dem Ganzen durch ein Wochenende bei Sven und Julie zu entfliehen und mal den Kopf frei zu bekommen.


Doch die kleine einjährige Tochter der beiden triggerte immer wieder Gedanken in Carlotta & Co. Fragen, Gedanken und Gefühle drängten sich auf, wie es sein könnte, dass sie selbst in diesem Alter schon so viel Gewalt erleiden mussten… Wie konnten Menschen (wahrscheinlich haben diese sadistischen Kreaturen diese Bezeichnung gar nicht verdient) so sein?


Und nach zweieinhalb Tagen dann wieder im Heim zurück, guckte sie sich ein Kinderfoto von sich an. Eines der wenigen, die sie überhaupt hatte (hat), welches sie noch vor dem Auszug von „zu Hause“ schnell noch unauffällig mit anderen Sachen hatte zusammenraffen können. Und diesmal war es nicht Trauer und Traurigkeit, die da zum Vorschein kamen, sondern Wut. Wut und Vorwürfe, die die erwachsene Carlotta der „kleinen Carlotta“ machte. Sie schrie voller Verzweiflung durch ihre derzeitige Situation das Foto an: „Wie kannst du da so stehen und lächeln? Warum schreist du nicht? Warum verdammt? Denn dann hätte vielleicht wer geholfen und wir hätten es heute leichter! Ich hasse dich! Du bist schuld!“ 

Auch Selbstverletzungen in Form von Schneiden waren wieder Mittel der Wahl, um mit der Situation einigermaßen klar zu kommen. Der eine Chirurg beim Nähen war allerdings mal wieder einer der besonderen Spezies. Denn als er einen Fehler bei der lokalen Betäubung machte und das Lokalanästhetikum-Blutgemisch ihm ins Gesicht und in die Augen spritze, fluchte er nur noch, ließ uns inklusive Spritze noch im Arm steckend fluchtartig allein und ward eine halbe Stunde nicht mehr gesehen. Als er wiederkam, ließ er seine Wut an Carlotta & Co aus. Unterstellte ihr Drogenkonsum und freizügiges Sexualverhalten…. „und dann wären Hepatitis, HIV ja nicht weit“.
Er bestand auf ein Blutabnahme und Testung zu seiner Sicherheit, und als die Blutabnahme geschehen war, schrie er der Schwester über den Flur hinterher „HIV und Hepatitis Schnelltest an die Uniklinik bitte!“ Wohlbemerkt vor allen wartenden Menschen in der Notaufnahme. Carlotta & Co wurden sehr angestarrt, als sie den Raum verließen.

Aus dieser Zeit, mittlerweile ist April des Jahres 2006, Carlotta & Co sind 26 Jahre, stammt dieser Tagebucheintrag:

Wie geht es uns? Den einen Tag mal auf und dann wieder ab. Letzten Dienstag dachte ich echt – jetzt ist es vorbei. Nur noch Panik und Durcheinander nach einer schlimmen Nacht. War echt übel.
Aber anscheinend haben wir das ja überlebt… nur wie und was da alles war, ist mir wie immer ein Rätsel.

Und heute bin ich wieder in einem Zustand, den ich unausstehlich finde. Ich komme nicht hoch, bin gleichzeitig gelangweilt von allem und unruhig, unzufrieden… weiß nichts mit mir/uns anzufangen. Alles scheiße, wenn man das mal so sagen darf. Alles ist so aussichts- und hoffnungslos! Wenn ich daran denke, mit welchen Zielen ich hier ankam… Und wo wir jetzt stehen… Oh Mann!
Alles ist rückläufig und zeigt: All das Kämpfen scheint nicht zu lohnen. Wir stehen alleingelassen in all der scheiß Welt, gezwungen, gesteuert und können nichts tun. Zumindest hab ich des Rätsels Lösung und DEN Weg und Lösung noch nicht gefunden. Seit Jahren an der gleichen Stelle und in der gleichen Situation: Versuche und Scheitern. Jedes Mal voll auf die Fresse. Und gerade fühlt es sich an, als wären wir so weit entfernt von der Erlösung und Sicherheit wie nie zuvor.


Früher konnten wir wenigstens ab und zu zu Herrn Ahlfeld in die Klinik, um zu gucken, ob wir dort was reißen könnten. Aber wenn ich gerade an Ahlfeld denke, was der zu uns sagen würde, wenn er uns sieht uns erlebt, geht es mir noch schlechter…

Warum verdammt können wir diese verf*ckten Therapievertragsregeln nicht einhalten? Warum sind wir allein und entfernen uns immer weiter von der Hilfe? Warum kann uns nicht einfach mal einer dort abholen, wo wir stehen… und uns helfen, therapiebereiter zu werden???
Allein schaffen wir das doch nicht! Es ist alles so anstrengend und zerstörend, was passiert. Wir zerbröseln immer mehr und mehr… Welten müssen getrennt bleiben, sonst drehen wir durch. Wenn man hinguckt, würde, glaube ich, jeder Mensch verzweifeln, und so verzweifeln auch wir immer wieder. Denn gerade ist es manchmal einfach so, dass alles über uns hereinbricht – auch über das Alltagsteam.

Oh Mann…. Ich höre Herrn Ahlfeld schon förmlich brüllen: „So nicht, Frau Dietz!, Einigkeit!, Alle oder keiner!, Nach meinen Regeln!, Wenn das nicht hinhaut, dann gehen sie halt und lassen sich noch etwas missbrauchen. Anscheinend brauchen sie das noch!“


Es tut sooo weh! Was bringen die ganzen Gedanken, Ziele und der immer wieder aufgebrachte Wille, wenn es doch nicht klappt und das Ganze nur bestraft wird von den Tätern!?? Was nützt das Kämpfen, wenn es aussichtslos ist? Ich bin müde und frustriert!
Würde das alles gern beenden – habe keinen Bock mehr. Mir wird es zu viel. Irgendwie gibt es keinen Weg da raus. Suizid??? Würde eh niemanden interessieren… Ich hätte grad echt nicht schlecht Lust, dieser F*ck Welt tschüss zu sagen.

Und es wird noch schlimmer

In den darauf folgenden 3 Monaten sollte sich der Zustand Carlotta & Cos und die Umstände um sie herum noch drastischer nach und nach zuspitzen.


Die Bulimie und die Selbstverletzungen waren praktisch an der Tagesordnung. Genauso wie starke Alltagsdissoziationen, Kraftlosigkeit und wenig Hoffnung des Alltagsteams, einen gehbaren Weg zu finden.


Als dann im April 2006 unangekündigt ein Amtsrichter im Wohnheim aufschlug, um nach vorherigem Gespräch mit den Wohnbetreuern Carlotta anzuhören, ob sie die gesetzliche Betreuung noch benötigte, war das Chaos fast perfekt. Denn dieser Termin verlief wirklich sehr ungut für Carlotta & Co. Die Wohnbetreuer hatten nämlich die Empfehlung gegeben und den Wunsch geäußert, die Betreuung beizubehalten – anderen Falls würde Carlotta nur schwer dort wohnen bleiben dürfen. Es war also eher pro forma, dass der Amtsrichter Carlotta & Co überhaupt noch anhörte. Und so verlief das Gespräch auch: Er hörte im Prinzip gar nicht richtig zu, was Carlotta darlegte, um zu erklären, warum sie keine weitere rechtliche Betreuung mehr wollte. Und von dem, was er hörte, verstand er nur maximal die Hälfte. Carlotta & Co gerieten sehr in Not während des Gesprächs, weil sie den Druck hatten, sich zu erklären…  rüberzubringen, was sie dachten, fühlten, wollten, und warum. Dass es eh vergebens und längst anders entschieden war, wussten sie zu dem Zeitpunkt nicht. Er würde empfehlen, die Betreuung noch um weitere 2 Jahre zu verlängern. Als er dann auch noch schlussfolgerte, dass Carlotta & Co revolutzermäßig drauf wären, keine Regeln akzeptieren könnten und nur auf Freiheit aus wären, die sie aber gar nicht absichern könnten, sagte er: „Ziehen Sie sich erstmal ihr Hundehalsband aus und lernen Sie, Regeln zu akzeptieren, dann können wir weiterreden!“ und: „Ich empfehle die Betreuung aufrecht zu halten. Ich muss schreiben, dass Sie damit nicht einverstanden sind. Aber sollten Sie damit durchkommen, verspreche ich Ihnen, werde ich Ihnen den Weg so schwer wie möglich machen!“, war Carlotta alles völlig egal und sie konterte: „Eigentlich hatte ich mir von einem studierten Menschen, der so viel zu über andere Menschen zu entscheiden hat im sozialen Bereich, etwas anderes vorgestellt und nicht, dass er gar nicht zuhört und nach dem Äußeren urteilt! Aber da habe ich mich wohl getäuscht“. Als er dann den Raum, in dem das Gespräch stattgefunden hatte, verließ, sagte er noch „Sie sind eine ganz schöne Zicke!“ , woraufhin Carlotta ihm hinterherbrüllte „… und Sie sind ein großes Arschloch!“


Hinterher waren Carlotta & Co mehr als aufgewühlt, wütend und traurig-ängstlich… Aber auch ein klein bisschen stolz, so für sich eingestanden zu sein. Sie entschieden auch noch einmal ,den Wohnbetreuern mitzuteilen, was sie von deren Verhalten hielt… warum und was sie sich stattdessen gewünscht hätten. In Form eines langen Briefes versuchte sie sich zu erklären.


Doch die Reaktion, die daraufhin folgte, ließ Carlotta & Co noch tiefer fallen. Kerstin teilte ihnen mit, dass das Betreuerteam sich besprochen hätte und dass es das, was sie sich wünschten, so dort nicht geben könnte und nicht viele Möglichkeiten bestünden, solch eine Zusammenarbeit zu haben. Sie thematisierte sogar den Auszug und dass sie sie dabei unterstützen würden.

Kurz nach dem Gespräch schrieb Carlotta in ihr Tagebuch:


„Irgendwie ist da im Gespräch mit Kerstin und wie sie auf den Auszug zu sprechen kam und der Unmöglichkeit, unsere Bedürfnisse hier zu erfüllen etwas zusammengebrochen. Wir dachten „Scheiße!!! Allein… unverstanden… keine Hilfe… kein Weg… kein Entkommen!“…und immer wieder das gleiche. Wir werden abgeschoben, sobald sie an Grenzen geraten.


Wir haben soooo geheult und waren voller Verzweiflung. Warum gibt es keinen Weg? Warum gibt es keinen Platz? Warum gibt es keine adäquate Hilfe? Warum kann uns keiner da abholen, wo wir sind? … irgendwie werden wir immer weiter in die dunkle Welt getrieben, wenn in der hellen alle ständig wegbrechen. Die Täter werden sich die Hände reiben.


Sooo düstere, riesige Gedanken und Gefühle und diese kaum noch zu kontrollieren. Es macht mir Angst. Wir machen mir Angst!“

Kurz darauf war das alljährliche Hilfeplangespräch im Wohnheim geplant und Carlotta & Co wurden fast positiv überrascht, dass es nicht um den Auszug ging, sondern um Bedingungen und Hausaufgaben, die sie abarbeiten sollten. Das war 1. eine Ausarbeitung von Fragen ans Betreuerteam, „auf welche Situationen (Aussagen) sie WIE reagieren (müssen) 2. ein Brief an Herrn Ahlfeld mit ehrlicher Schilderung der momentanen Situation und Zusammenfassung der vergangenen Zeit und 3. die Verabredung, täglich die Imaginationsübung „Besprechungsraum“ zu machen, um die innere Kommunikation und innere Absprachen zu verbessern.

Als daraufhin wieder einmal von dunklen Anteilen geschnitten wurde und Carlotta & Co ins Krankenhaus zum Nähen mussten, und der Chirurg ihnen eigentlich aus Fürsorge ein Taxi zur sicheren Rückfahrt bestellt hatte und sagte: „Bitte warten Sie hier, Sie werden gleich abgeholt!“, schalteten sich Carlottas „Gefahrsensoren“ ein. Sie war davon überzeugt, er hätte einen Krankentransport in die Geschlossene bestellt und so rannte sie aus dem Krankenhaus weg. Auch auf dem Fußweg zum Bus drückte sie sich jedes Mal in irgendwelche Hecken oder Ecken, wenn sie Polizei sah oder vermutete, dass jemand ihr folgte. Es war der Horror.

Und auch von Herrn Schukow fühlte sie sich mal wieder abgelehnt. Carlotta hatte ihm nämlich ein Buch zum Thema Satanismus und DIS mitgebracht, wo sie etwas verdeutlichen wollte,  und hatte ihn gefragt, ob er bereit wäre, das zu lesen. Aber er entgegnete: „Nein, damit will ich mich nicht beschäftigen. Das ist mir zu belastend!“

Sie schrieb daraufhin in ihr Tagebuch:

„Irgendwie türmt sich das gerade alles immer mehr auf. Alles viel zu viel. Es stapeln sich die Trümmer… und nichts wird besser oder läuft mal positiv. Ava hat schon mal gesagt letztens „Immer weiter obendrauf, bis wir endgültig zusammenbrechen. Der Punkt, zu reagieren und alles abzubrechen, ist längst überschritten!“


Stattdessen versuchen wir immer wieder verzweifelt, irgendwas zu retten, was nicht zu retten ist. Und reagieren paradox… sind ständig außerhalb des Zimmers in der Gruppe, sind laut, überdreht, labern nur Mist, sind aggro… pfeifen jeden zusammen, der uns blöd kommt… es ist einfach alles so furchtbar egal grad. Es gibt kein großartiges Überlegen mehr. All das, weil es mit uns allein kein Halten mehr gibt. Es ist sooo laut, chaotisch und einfach sehr, sehr ungut… können nicht allein sein gerade. Denn dann kacken wir voll ab und es wird nur Mist gemacht.“

Das einzige, was noch Halt gab zu dieser Zeit und einen geplanten Suizidversuch verhinderte, war die Aussicht auf einen neuen Therapeuten. Carlotta stürzten sich regelrecht mit letzter Hoffnung auf diesen neuen Herrn Kübler. Er war erstmal bereit, Probesitzungen mit Carlotta & Co zu führen. Und jedes Mal bereiteten sich Carlotta & Co extrem vor, um alles für eine positive Entscheidung seinerseits zu tun.

„Die Zeit plätschert irgendwie dahin…  naja plätschern klingt zu harmlos… eigentlich sind es eher reißende Strömungen… die immer weiter ins Verderben ziehen…. Aber wir überleben … IRGENDWIE…, aber es ist ein Kampf. Es ist echt so schlimm, dass wir in die Zukunft kaum noch schauen können und jedes Mal denken müssen: Ob wir das noch erleben? Oder sind wir dann längst tot?


Gestern wars ja eigentlich schon geplant und ich hätte es nicht mehr versucht zu verhindern. Ich kann nicht mehr…


Und abends war es dann ein saukomisches Gefühl oben mit den Mädels, Nika und den anderen, zu sitzen und zu denken: Ok… eigentlich wären wir jetzt tot, wenn es denn diesmal geklappt hätte. Und nun ist es nicht so… und nun??


Alles war nur bis heute Morgen geplant und danach nichts mehr.

Ich glaube das, was es verhindert hat, ist die minikleine Hoffnung, dass Herr Kübler vielleicht hilfreich sein könnte…“

Als sie dann aber in der darauf folgenden Sitzung mit der Anamnese weitermachten und Carlotta auch berichtete, wie hoffnungslos sich alles anfühlte, äußerte er Zweifel, ob er die Therapie mit ihnen schaffen könnte. Sie wären ihm zu viele und vielleicht zu anstrengend.


Carlortta & Co reagierten regelrecht panisch auf diese Äußerung. Sie gerieten regelrecht in einen Film und bettelten, dass er doch bitte nicht ablehnen sollte. Sie flehten ihn an zu helfen…

So wie einst bei Herrn Ahlfeld. Und genau DAS war auch der Film.
„Ganz oder gar nicht!“ „Alle!“ „Dann hängen sie sich in ihr Zimmer ein christliches Kreuz und Knoblauchzehen… sie wissen ja, gegen Vampire hilft es ja auch!“ Wir sind kein Sterbehospiz“  „Ich sehe nicht ein, mit ihnen monatelang zu arbeiten, was die Täter dann in einer Nacht kaputt machen!“ „Wenn die Einigkeit noch nicht da ist, dann müssen sie wohl noch ein paar Runden missbraucht werden… dann brauchen sie das wohl!“


Die eventuell drohende Ablehnung bei all der Hoffnung, die sie ihn Herrn Kübler gesetzt hatten, tat so sehr weh.

Erschreckt und beeindruckt von dieser Reaktion Carlottas setzte er die Bedingung, ihm auszuarbeiten, was sie bereit wären, für eine gute Zusammenarbeit zu tun.

Hindernislauf
Sprinten auf stolpernden Füßen über Löcher, Abgründe, laufen zick zack,
um nicht tief zu fallen.
Hetzen blind an Dingen vorbei
– wollen nicht länger sehen und fühlen –
Verlaufen uns in einem Labyrinth aus Trümmern
und haben einfach keinen Atem mehr.
Wegweiser fehlen.
Energie fehlt an allen Ecken.
Hinter jeder Biegung kann der Tod lauern
– er wartet darauf zuzuschlagen –
Spannung und Angst,
Lähmung und Beben
– ein Alptraum.
Wo ist das Ziel?
Wie kommen wir dorthin?
Lohnt sich der Kampf?
Oder sollen wir aufgeben???

Dann bildete sich auch noch unter dem einen tiefen Schnitt einer Selbstverletzung, die zu dieser Zeit ziemlich oft waren, ein Serom. Das heißt Wund- und Lymphflüssigkeit hatte unter dem oberflächlich verheilten Schnitt eine „Zyste“ gebildet, die immer größer wurde. Damit mussten Carlotta & Co zum Arzt, der den Schnitt wieder öffnete um die Flüssigkeit abzulassen.
Die Wunde musste ab dem Zeitpunkt dann offen heilen und musste 2x täglich versorgt werden. Es dauerte einige Wochen, und in dieser Zeit konnten Carlotta & Co für Herrn Kübler ausarbeiten, was sie für eine Zusammenarbeit tun und an Wissen freigeben würden.


Und endlich verlief mal etwas positiv. Herr Kübler sagte schlussendlich zu es versuchen zu wollen.

Tagebucheitrag aus dieser Zeit:

„Puh… ich bin so froh, dass Herr Kübler es versuchen möchte. Auch wenn ich ihn gar nicht einschätzen kann und wir uns wieder auf wen anderes einlassen müssen… wieder alles von vorne. Fragen uns ständig, wenn es denn so sein sollte, dass er fähig ist: Sind wir gut genug und therapiebereit gerade oder wird das nur wieder ein ermüdender Kampf? … lauter Ängste, die die Freude irgendwie nicht aufkommen lassen.


Außerdem: Immer wieder und gerade recht extrem die Gedanken an das, was nachts manchmal passiert…. Und die Schmerzen und der kaputte Körper… puh, …und au weia, ja, die kommenden Feiertage. Man kann es ja doch nicht immer verdrängen.


Außerdem haben wir grad ständig Erinnerungen und schlimme Träume. Naja, und so quält man sich dann durch die Tage, lächelt und versucht so viel Normalität, wie geht, zu „leben“.“

Trotzdem schafften Carlotta & Co, sich aus der gröbsten Dunkelheit heraus zu kämpfen. Sie nutzten wieder ihre Verdrängungsstrategie, um funktionaler zu werden. Sie versuchten, sich darauf zu fokussieren, so viel wie möglich für Herrn Kübler zu erarbeiten und die Bedingungen des Heims zu erfüllen.

Von den Ergebnissen auf die Fragen: „Was passiert jeweils auf welche Situationen/Aussagen?“, die Carlotta von dem Heim schriftlich bekamen, berichtete sie in ihrem Tagebuch:

„Jetzt haben die Betreuer endlich mal reagiert auf unsere Fragen. Ergebnis:

  1. Bei Suizidaliät müssen wir sofort in ne Klinik.
  2. Bei Täterkontakt werden sie zukünftig sofort die Polizei einschalten und ne Anzeige machen.
  3. Es wird für den weiteren Verbleib hier im Heim eine klare Entscheidung PRO Ausstieg von uns erwartet
  4. Wenn Feiertage anstehen, bitten sie um Prävention und Zusammenarbeit, um ein Sicherheitskonzept aufzustellen.
  5. Unser gesetzlicher Betreuer wird stets informiert.

Aber wie wir das alles schaffen und den Druck aushalten sollen, der von allen Seiten auf uns ausgeübt wird, verrät uns keiner.
Und wie soll ich mich dann anvertrauen können??…Wenn ich weiß: es wird sofort ne Polizeiaktion gestartet und ich lande in der scheiß Klinik, die uns genauso kaputt macht, wie die Täter- nur unter dem Decknamen der Hilf … pfff.

Boah… das geht so alles gar nicht! Was denken die denn? Man macht mal „schnipp“ und alles funktioniert plötzlich, was jahrelang nicht geklappt hat!?

Wir kapieren ja so viel selber noch nicht von dem ganzen System.

Es ist echt zum Verzweifeln. Wir sehen keinen Weg. Es geht nicht… obwohl wir uns das immer wieder versuchen vorzumachen. Aber wo denn sonst? Wahrscheinlich nirgends, denn überall ist Voraussetzung: kein Täterkontakt. Tja… und wie sollen wir das erreichen????????


Die Welt scheint echt keinen anderen Platz für uns zu haben, außer bei den Tätern. So wie sie es uns immer wieder gesagt haben.“

Und als hätten es die Täter, die natürlich immer über alles informiert waren, durch die Anteile mit der Aufgabe den Alltag /Therapiesitzungen/ Gespräche mit Wohnbetreuern zu belauschen, sich zu merken und auf Abfrage alle Infos rauszugeben, genau darauf angelegt, den Abstand von den Betreuern und Carlotta & Co noch mehr zu erweitern, kam es in einer Nacht Ende Juni zu einem erneuten Übergriff mit einigen hinterlassenen Spuren. Diese waren drastischer und konnten von Carlotta nicht wegdissoziiert, verdrängt, weggelächelt werden. Sie war gezwungen, damit zu den Wohnbetreuern zu gehen… in den großen Kampf und dem Wissen, dass darauf vieles folgen würde, was ihr Angst machte.

Wieder einmal

„Nun ist es mal wieder passiert. Kommen nachts um 4 Uhr völlig fertig wieder ins Zimmer… saumäßige Schmerzen… Waren auch sooo durcheinander. Haben dann erstmal geduscht und sind dann irgendwann hoch zur Gruppe. Wussten nicht, was zu tun klug wäre. Hatten Angst, es so zu belassen ohne Arzt und hatten aber auch Angst, es zu sagen wegen der Folgen. Irgendwelche Anteile wollten dann abhauen… aber das konnte ich grad noch so verhindern. Im Gespräch mit Isa sind wir dann heulend zusammengeklappt… und wurden zum Arzt und zur Gyn gebracht. Wieder Horroruntersuchungen, Fotos ,…  soooo ein Trigger… puh… Haben einige schlimme Prellungen, Hautverletzungen und Verbrennungen auf der Zunge. Die Ärztin sagte, es sehe aus wie ausgedrückte Zigaretten auf der Zunge. Wir haben nun Novalgin, Mundspülung und sollen uns schonen und erholen.


Seitdem haben wir auch viel geschlafen. Aber es macht auch so fertig. Alle scheinen das zu wissen und glotzen mich doof an. Und ich hab so ne Angst vor der Anzeige, die sicherlich gemacht wird. Ach… wären die Schmerzen und Verletzungen doch geringer gewesen, dann hätte ich zu 1000% nichts gesagt… tja, aber das Leben ist kein Wunschkonzert. Leider.“

Schmerzen
Der Körper liegt ruhiggestellt da
Vollgepumpt mit Schmerzmitteln
Doch gibt es kein Mittel gegen den inneren Schmerz
Keinen gegen die befürchteten, konstruierten Bilder,
die sich aus den Verletzungen ergeben-
durch die dissoziativen Barrieren hindurch
Auch keine Hilfe von außen
Allein, hilflos, am Ende
Angst und Druck

In Folge dieses Tage und der folgenden eröffneten die Wohnbetreuer Carlotta & Co, dass sie nun noch mal besprechen müssten, ob sie Carlotta & ihr System dort überhaupt noch adäquat unterstützen könnten und wie… oder welche anderen Möglichkeiten nun angedacht werden müssten!
Da fielen bei Carlotta & Co alle Schranken. Wieder einmal hatten sie das Gefühl, zu kompliziert zu sein und dann abgeschoben zu werden. Es tat ihnen sehr weh, weil sie es schon allzu oft erlebt hatten.

Den vorläufigen Höhepunkt hatte das Drama darum dann in der folgenden Therapiesitzung bei Herrn Kübler. Er berichtete es hätte nach der Benachrichtigung über diesen Vorfall durch das Wohnheim mit der Ärztin telefoniert und diese hätte gesagt, dass sie Carlotta & Co nicht glaube. Ihrer Meinung nach gab es keine Vergewaltigung, da keine Spermaspuren und Abwehrverletzungen gefunden wurden. Herr Kübler erzählte sogar, selbst sehr empört über diese Aussagen und Schlussfolgerungen, dass die Ärztin Carlotta als Spinnerin betitelt hatte. Er berichtete weiterhin, dass auch seine Worte, dass fehlende und bzw. unspezifische Hinweise gar nichts aussagen und dass diese Täterkreise genau das vielleicht beabsichtigt hätten. Dass dies aber alles nichts nutze und die Ärztin nicht darauf reagierte, sondern steif auf ihrer Meinung beharrte. Trotz Herrn Küblers Parteilichkeit und den Äußerungen, dass ER ihnen glaubte, lösten die zitierten Worte der Ärztin wieder sehr viel aus bei Carlotta & Co. Trauer, Wut…. „wir sind Lügner“… keiner glaubt/versteht.


Sie erinnerte sich daran, dass sowas ähnliches vor einiger Zeit auch schon mal mit einer Mitbewohnerin, die auch DIS war, geschehen war. Ähnliche Situation mit ähnlichem Ergebnis -> die Psychos spinnen. Aber was sollte sie mit ihrem Wissen anfangen? Sie konnte sich nicht wehren, verteidigen, anderen Falls hätte sie viel zu viel preisgeben müssen, was dann wieder nur mehr Bestrafungen nach sich gezogen hätte, weil sie nicht in Sicherheit war.
Carlotta ging es sehr, sehr schlecht. Ihr war nicht länger vergönnt zu verdrängen, weil all das sehr an der Oberfläche war.

„Bald muss nach all dem echt gehandelt werden. Wohin die Reise wohl geht??
Ich sehe derzeit keine Möglichkeit am Abgrund/Tod vorbei…
Aber trotzdem hysterisch lächeln, quasseln wie ein Wasserfall…
Es geht nicht. Jetzt haben wir auch noch ne Nachricht von den Tätern „zu Hause“.
EINE UNSERER COUSINEN HAT DIE FINGER GEBROCHEN!!!
Das macht Angst, das macht konfus und völlig fertig. Machtdemonstration…
Nachricht und Warnung an uns…

Hab Angst durchzudrehen! Aber was können wir tun? Zu den Betreuern gehen?
Nur im allergrößten Notfall!!!
Angst vor Suizidprogramm… warum weiß ich nicht… so ein Gefühl“

Carlotta & Co sollten am nächsten Tag ein Gespräch mit Isa und Kerstin haben, weil angekündigt wurde, dass es Neues gäbe, was sie in der Dienstbesprechung festgelegt hatten.

Filmriss

Für den ersten Tag, den Carlotta & Co auf der geschlossenen Akutstation in Kleiningen wahrnahmen, steht im Tagebuch:

„Nun ist es bereits wieder geschehen. Voll durchgedreh t- geschnitten und Tabletten geschluckt. Irgendwer hat uns dann wohl auf dem Boden liegend gefunden. Waren aber total weg und wurden daraufhin ins Krankenhaus gebracht – auf Intensiv. Dort wurden wir wohl wieder an alles Mögliche angeschlossen… war alles so wirr… ich weiß auch nicht. Hab irgendwie nur einzelne Fetzen im Hirn. Musste mir auch viel berichten lassen, aber weiß immer noch nicht alles. Auf jeden Fall bin ich wohl nun in der Geschlossenen , in nem vierer Zimmer. Ich soll schon mit zwei Ärzten geredet haben, kann mich aber null daran erinnern. Was dort auf der Intensiv oder vorher gelaufen ist oder warum der ganze Scheiß, weiß ich nicht. Ich weiß nur dass der Arsch Amtsrichter schon hier war und mir nen Beschluss von 2 Wochen reingedrückt hat und gesagt hat, dass er nun erst recht die Anordnung geben wird, die gesetzliche Betreuung weiterzuführen… Dieser Arsch… er schien richtig freudig zu triumphieren.
Tja,… so heißt es wohl nun hier erstmal klarkommen, ankommen… hoffen dass die Betreuer mir endlich mal Klamotten bringen und dass die hier eventuell etwas Ahnung von DIS haben.“

Ein Kopf, der fast zerplatzt.

Zu voll
und doch zu leer
oder zu unsortiert.
Zu lange und zu Vieles gestapelt,
nicht verarbeitet,
sondern weggedrückt.
Bis sich die negative Energie zu stark gesammelt hat
und zur Bombe wird.
Es schmerzt
und macht die Augen fast blind.
Doch kann man nicht immer sehen, fühlen, durchdenken
was passiert und passiert ist,
denn sonst würde nicht nur der Kopf,
sondern auch noch das letzte Stückchen Herz zerreißen
… und Menschen ohne Herz gibt es schon viel zu viele!

In den kommenden zwei Wochen versuchten Carlotta & Co, sich an das Setting dieser neuen Klinik, an die Mitpatienten, das Pflegepersonal, an die Ärzte und Therapeuten und an die für sie neue „Sprache der Verhaltenstherapie – im Speziellen des DBTs“ zu gewöhnen. Mit der Sprache des DBTs hatten sie am meisten zu kämpfen. Sie hatten vorher nie mit dem Konzept DBT zu tu gehabt… mussten also erst lernen, wenn sie Bedarf bekommen wollten, dass sie ihre eigenen Strategien (Skills), ohne Medis auszukommen, erzählen musste. In anderen Kliniken hatte man einfach darauf vertraut, dass Carlotta & Co wohl schon selbstständig alles getan hätten, bevor sie Bedarf verlangten. Von daher war Carlotta zuerst empört darüber, dass sie beim ersten Mal weggeschickt wurde mit der Ansage „ihre Ressourcen nutzen zu sollen“, weil es sich anfühlte als würde ihnen ihr Urteilvermögen über sich selbst abgesprochen werden. Doch nach kurzer Zeit wussten sie, wie sie sich zu verhalten und zu sprechen hatten, wenn sie etwas wollten.


Eigentlich wollten Carlotta & Co auch schon vorher das Team überzeugen, sie gehen zu lassen und den Beschluss aufzuheben, aber es hieß immer nur „Sie bagatellisieren!“
Die Ärzte hatten dort nicht allzu viel Ahnung von der dissoziativen Identitätsstruktur und wollten Carlotta & Co anbieten, sogar länger, als der Beschluss dauerte, zu bleiben, um dort Therapie zu machen, … auszusteigen. Aber genau die wenige Ahnung brachten Carlotta zu der Entscheidung, gehen zu wollen, und „wenn Klinik dann nur bei Herrn Ahlfeld“.


Allerdings war diese geschlossene Station auch relativ angenehm, gemessen an vorheriger Geschlossenen-Aufenthalten in dieser Region, so dass Carlotta & Co dort einiges an Informationen über Trigger, Umgang mit Dissoziation/Switches bei ihnen, Hintergrundinformationen, teilte, um bei eventuell notwendigen weiteren Aufenthalten dort schon etwas vorbereitet zu haben.

Wunschgedanke
…zurück ins Leben.
Und doch fühl ich mich so tot
…zurück zum Funktionieren.
Und doch schaffen wir  nichts
…zurück zum „Normalen“.
Und doch sind wir so anders
…zurück zum Eigenständigen.
Und doch sind wir so abhängig und dürfen nichts entscheiden
…zurück zum Selbstvertrauen.
Und doch bestehen wir nur aus Angst, Hass und Ekel
…zurück zur Kraft und Hoffnung.
Und doch fesseln Zweifel und Misstrauen an den Boden
…zurück zu den Gefühlen.
Und doch überlagert das Negative alles – nur Verdrängung hilft
…nur noch Zweifel, Angst, Dunkel und Vorerfahrungen,
dass Wunschgedanken nur Träume bleiben…
niemals Realität, die zu erreichen wäre…
und die Grenzen, Probleme und unsere Realität alles zerstört
….uns nie aus dem Dreck aufstehen lässt.

Bei einem Besuch durch die Wohnbetreuer in der Klinik erfuhren Carlotta & Co auch, dass ihr Zustand gerade und der Suizidversuch nicht bedeuteten, dass Carlotta ausziehen müsste. Sie hätten vielmehr entschieden, sich an Frau Huskamp, die DIS-Expertin zu wenden, um zu lernen. Das entlastete Carlotta & Co sehr und machte sie etwas hoffnungsvoller, dass vielleicht doch noch nicht alles gänzlich verloren war in diesem Wohnheim.

Auch bezüglich der Weiterführung der gesetzlichen Betreuung konnte Carlotta etwas Positives für ihr System erreichen. Sie wusste, dass es eigentlich nicht ganz fair war, dass sie die Unerfahrenheit und das Vertrauen, dass die Stationsärztin hatte, ausnutzte, und sie bat, dem Amtsgericht zu schreiben, dass eine gesetzliche Betreuung nicht notwendig wäre.


Später erfuhr Carlotta, dass ihre Wohnbetreuer, als die Info kam, dass die Betreuung wegen des Schreibens der Ärztin aufgehoben wurde, echt entsetzt waren und mächtig sauer auf Carlotta & Co. Und auch die Oberärztin der Klinik reagierte empört. Doch Carlotta sagte nur immer wieder „Wenn ihr mir und uns nicht zuhört und versteht, muss ich halt solche Wege gehen. Ich weiß, dass es nicht fair war, aber ich zwingt uns ja zu so einem Scheißverhalten!“

Wieder im Heim

„Zu Hause“ versuchten Carlotta & Co, erstmal wieder etwas zur Ruhe und zu Kräften zu kommen. Doch bereits 3 Tage nach ihrer Ankunft hatten sie das Dreiergespräch mit den Wohnbetreuern, und der Druck wurde wieder weiter erhöht.


Sie machten zur Auflage, um dort weiterhin wohnen zu können, dass Carlotta & Co sich 1. einen stationären Klinikplatz suchen sollten 2. der Kontakt zu Jannis und Sven abgebrochen werden sollte 3. Carlotta & Co mit den Mitarbeitern hilfreiche Sicherheitsmaßnahmen erarbeiten sollten.
Wenn das nicht klappen sollte, würden sie dem Träger mitteilen, dass die Betreuung in ihrem Wohnheim nicht ausreichen würde. Ob sie sich darauf einlassen könnten oder nicht – dafür hätten sie 3 Tage Entscheidungszeit. Doch diese brauchten Carlotta & Co gar nicht, denn sie wollten ja gern aussteigen und in Sicherheit sein. Und sie wollten dem Ganzen noch mal eine Chance geben. Deswegen konnten sie auch den Kontaktabbruch zu den Freunden akzeptieren. Da sie ja eh immer wieder mal an Herrn Ahlfeld und die Klinik dachten, war das auch kein Problem da mitzugehen… nach wie vor fraglich war halt nur, ob Carlotta & Co die Bedingungen erfüllen konnten. Und zu den Sicherheitsmaßnahmen schrieb sie in ihr Tagebuch:

„Um sichere Bedingungen zu schaffen, müssen die Betreuer erstmal verstehen lernen. Naja… vielleicht bringt das geplante Gespräch mit Frau Huskamp und denen ja was!? Who knows??
Wir wollen versuchen herauszufinden, welche Gefahren (Kontaktaufnahme) da sind, welche Maßnahmen notwendig sind, welche Innies beteiligt sind, was helfen könnte (Handy weg, Ausgangsregelung, -verbot, -begleitung,….)


Und auch als Frage an die Betreuer: Wo sind da deren Grenzen? Trauen sie sich das wirklich zu?
Ich persönlich glaube ja, dass die sich nicht bewusst sind, dass sie dann mit in den Kampf gehen… und die wissen gar nicht, wie wir dann sind, wenn Programme in uns losgehen. Habe schon auch Angst, denen zu vertrauen, weil sie die Situation falsch einschätzen.
Und für all das eine halbe Std. Betreuung in der Woche…. Das ist lachhaft!!! Da müssen die gucken, ob die mehr beantragen können.“

Das alles schwächte Carlotta & Co und stürzte sie intern wieder in Unfrieden und Chaos. Sie mussten ihre Bedarfsmedis komplett nutzen, um die Tage zu schaffen…  aber trotzdem waren sie nur noch ein wild switchender, chaotischer Haufen Mensch… der auch noch schnitt und kotzte.


Herr Kübler hatte indes all das Material, was Carlotta ihm zur Verfügung gestellt hatte, um sich zu informieren über Carlottas System, gelesen und war von dem Ausmaß wohl etwas geschockt und riet Carlotta so schnell wie möglich zu einem Klinikaufenthalt, denn seiner Meinung nach wäre die Grenze längst überschritten.

Bereits nach kurzer Zeit und allein durch die Gedanken über die Planung waren Carlotta & Co schon so sehr geschwächt, dass sie sich niemals vorstellen konnten, den Kampf je zu gewinnen. Ja, selbst in den Kampf einzusteigen  war für sie unmöglich denkbar… auch wenn sie es sich sooo sehr wünschten, um nicht länger den Tätern ausgeliefert zu sein.

„Es ist so übel, wie es uns gerade geht, obwohl wir nicht mal irgendwas umgesetzt haben. Allein die Arbeit daran herauszubekommen, was helfen könnte, macht uns einfach nur fertig.
Und Vertrauen zu den Helfern!? Pfff… die verstehen null!! Reden immer so klug daher, wie die nächsten Schritte in der Theorie nun dran wären… machen Druck und erwarten… Mehr können die nicht. Nichts von wegen verstehen, dass Theorie und Praxis nun mal nicht deckungsgleich sind. 
Und es fällt mir so schwer damit allein zu sein – nicht mal irgendwen zum Reden zu haben, der einfach nur versteht und zuhört…


Grad denk ich: Kein anderer als WIR kann entscheiden, was gut oder schlecht für uns ist (und selbst wir wissen das nicht so wirklich). Aber wir kennen uns noch am besten.“

Und wieder ein Filmriss

Im Klinikbericht klingt die Umschreibung dieser Zeit so:

Aufnahmeanlass und –modus:

Die Patientin wurde nach telefonischer Ankündigung auf unsere Kriseninterventionsstation aufgenommen. Zuvor war die Patientin in ihrer Wohneinrichtung im Rahmen der bekannten dissoziativen Phänomene mehrfach kollabiert und hatte sich erbrochen. Auch unter umfassenden Maßnahmen konnten die erwachsenen Anteile der Patientin (dissoziative Identitätsstörung) keinen Kontakt zu den Betreuern aufnehmen, eine Stabilisierung war nicht möglich.
Die Patientin konnte nur bruchstückhaft schildern, es gäbe einen „Fehler im System“, und bestätigte Suizidalität und Schutzbedürftigkeit. Mutmaßliche Auslöser müssen noch besprochen werden.

Kurz nach der Aufnahme kam es zu einem dissoziativen Zustand, in dem die Patientin weinte, schaukelte, sich zusammenrollte, um dann wiederum nach innerem Befehl zu versuchen, sich an der Wand den Schädel einzustoßen. Wir regten dann eine Unterbringung per PsychKG an und führten eine Vollfixierung zum Schutz der Patientin durch.

….

Therapie, Verlauf und Beurteilung:

Bei der Aufnahme zur Krisenintervention waren die erwachsenen Anteile  der Patientin nicht erreichbar gewesen, eine Absprachefähigkeit bestand nicht. Als die Patientin nach der Aufnahme bald in einen Zustand geriet, in dem sie versuchte, sich an der Wand der Kopf einzuschlagen, erfolgte eine Unterbringung per PsychKG und eine Vollfixierung.

Auch in den ersten beiden Tagen nach der Aufnahme  waren die erwachsenen Anteile der Patientin nicht erreichbar. Teilweise war eine Kommunikation mit dem kindlichen Anteil Lina möglich. Nachdem erwachsene Anteile wieder in Kontakt mit uns treten konnten, konnte die Fixierung nach 4 Tagen beendet werden.

Die Patientin berichtete, sie seien von ihren destruktiven Anteilen wie hinter einer Mauer gesperrt gewesen, sie hätten nun eine Erinnerungslücke für die gesamte Zeit und versuchen nun zu rekonstruieren, was in der Zeit gewesen sei.

Nach Stabilisierung führte die Patientin in Absprache mit der Wohneinrichtung eine Belastungserprobung dorthin durch. Da diese zuletzt mit ausreichender Stabilität erfolgte, konnten wir die Patientin entlassen.

Und in Carlottas Tagebuch schrieb sie Ende Juli 2006 Folgendes:

„Oh Mann! Alles wie im Film! Mein Hirn macht wohl auch bald gar nichts mehr mit!
Bin wieder auf der Geschlossenen… aber irgendwie schon seit 4 Tagen. Sooo heftig.
Wurde vorhin einigermaßen klar und lag in Vollfixierung im Bett… allein im Zimmer. PANIK! …Nebel lichtete sich nach kurzer Panik dann wieder etwas. Ein Pfleger kommt ins Zimmer… wir fragen ihn gleich aus: Wir sollen wohl Donnerstagnachmittag im Heim zusammengeklappt sein… im Bad auf den Fliesen liegend gekotzt haben. Waren nicht nach vorn zu holen oder nur ständig am Switchen. Notarzt war wohl auch da. Dann abends haben die Wohnbetreuer entschieden, uns einweisen zu lassen.
Und hier dann wohl auch Terror gemacht… Kopf einhauen (a la Luka)… hab auch voll Schrammen und blaue Flecken überall und mein Körper ist voll schlapp und tut weh von der Unbeweglichkeit in der Fixierung über 4 Tage.


Kerstin hatte ich auch grad angerufen und hab gefragt… ist so schlimm, ne Lücke von 4 Tagen zu haben, und dann sowas…. Ich meine,… so kurze Lücken okay… ja, auch Mist, aber nicht zu vergleichen mit dem jetzt. Kerstin sagte, wir hätten öfter Systemfehler gesagt. Hmm…ich kann mir das echt mal wieder nicht erklären und das macht mir Angst. Ich hasse Kontrollverluste.

Scheiße… so schnell hintereinander die Abstürze. Das ist gar nicht gut.

Es ist kaum auszuhalten… so langsam plätschert alles ins Hirn und wird zu heftigen Hammerschlägen. Der Kopf ist echt ständig am Schmerzen und randvoll. Aber eigentlich kann ich bei unserem Zustand grad froh sein, dass ich überhaupt da und vorne bin. Habe echt Heidenrespekt und Angst, dass die Kontrolle wieder flöten geht. Fühlen uns völlig flatterig und unsicher mit uns selbst. Ein sch… Gefühl!!
Wir sind uns echt sicher, dass es ne Systemterror-Tour von unseren Dunklen war und wir einfach durch den ganzen Stress außen zu schwach und ungeschützt sind.

 
Jetzt müssen wir unbedingt wieder runter, zur Ruhe kommen… aber das sieht schlecht aus. Ich nutze schon sämtliche Skills… immer wieder… versuch auch durch Schreiben was herauszubekommen oder irgendwie nen hilfreichen Ansatz zu finden. Aber bisher sowas von gescheitert mit allem… – Macht echt Angst.“

Carlotta & Co blieben 10 Tage in der Klinik. Eigentlich hätten sie schon nach 6 Tagen gehen gedurft, da sie nach außen einen ausreichend stabilen Eindruck machten. Doch als die erste Belastungserprobung im Heim völlig überfordernd war, blieben Carlotta & Co noch weitere 4 Tage dort.

Das Ergebnis war zwar auch nicht sehr zufriedenstellend, denn Carlotta war zutiefst verunsichert mit sich und den Anteilen. Sie entwickelte daraufhin sogar regelrechte Panikattacken immer und immer wieder und das sollte auch noch eine lange Zeit so bleiben,… und doch sah Carlotta nicht den Nutzen, in der Geschlossenen zu bleiben. Viel lieber wollte sie an den Bedingungen des Heimes für ihre weitere Zusammenarbeit arbeiten.