Teil 5

Zurück in der WG

Und so kam es dazu, dass Carlotta nach dem geplanten Gespräch mit Herrn Ahlfeld wirklich entlassen wurde. Sie schrieb in ihr Tagebuch:

„Tja, nun sind wir wieder in der WG. Entlassen seit heute morgen nach dem Gespräch mit Herrn Ahlfeld. Es war einfach nicht schaffbar, was er verlangt hat und da mussten wir halt aufgeben. Seine vorgegebenen Ziele schaffen wir nicht und auf unsere Langsamkeit, unseren Trouble um das Ziel, will er sich nicht einlassen. Wir haben gemerkt: Ok, da ist eine unüberwindbare Hürde. Zwar besteht die Möglichkeit, dass wir es irgendwann vielleicht schaffen könnten, aber die Zeit des Kampfes schaffen wir einfach nicht mehr. Nicht in der Klinik und hier auch nicht. Wir wollen das auch nicht mehr für unsere Innenkids. Ich weiß zu viel, als dass ich es noch weiter mit angucken und zulassen kann. Da auch innen und außen die völlige Kontrolle und Sicherheit fehlen, kann ich das Überleben nicht mehr sichern. Und bevor es jemand anderes tut… oder es einfach passiert, will ich wenigstens das noch bestimmen dürfen. Das Recht hat jeder Mensch!

Habe heute den ganzen Tag nur im Kopf gehabt: Heute soll es passieren. Habe alle noch wichtigen Dinge erledigt und habe mich von allen mir wichtigen Leuten verabschiedet – ohne dass sie es bemerkt haben. Habe geduscht, Haare gewaschen, schöne Sachen angezogen, Briefe geschrieben, Tabletten zusammengesucht und noch etwas gegessen (habe gehört, sonst könnte es passieren, dass man leicht kotzt). Ist schon alles komisch, wenn man weiß, abends will ich sterben. Habe aber auch Angst, muss ich gestehen. Aber mehr Angst, dass es nicht klappt und ich irgendwie gerettet werde, aber mit nem Gehirnschaden oder so. Weiß auch nicht… tut das weh!? Was kommt danach!? Oder haben wir dann endlich Ruhe!!!!?

Es gibt keine andere Lösung verdammt! Adé du kranke Welt!“

2 Tage später wachte Carlotta auf der Intensivstation wieder auf… Kabel, Infusionen, Piepen… und immer noch sehr benebelt. Ihr WG-Mitbewohner Jannis hatte sie gefunden und den Notarzt gerufen.

Geschlossene Station

Als Carlotta klarer wurde und ihr körperlicher Zustand sich etwas stabilisiert hatte, wurde sie mit dem Krankenwagen zurück auf die geschlossene Station von Herrn Ahlfeld verlegt. Jannis brachte ihr ein paar Klamotten und berichtete ihr, wie es alles abgelaufen war.

Zurück auf der geschlossenen Station hatte Carlotta das Gefühl, für ihren Suizidversuch bestraft zu werden… sie war irgendwie froh, doch noch zu leben, und irgendwie auch nicht, schämte sich, war sauer auf Jannis, hatte Angst vor der Reaktion Herrn Ahlfelds. Sie war sich sicher: Sie hatte immer noch mit ihrem unwerten Leben abgeschlossen. Sie werde auf der Geschlossenen etwas vorspielen, um möglichst schnell entlassen zu werden, um es das nächste Mal besser zu planen. Sie hatte sich sogar einen Plan zurecht gelegt: Sie wollte Herrn Ahlfeld sagen „es wäre ein Unfall gewesen“. Für sie stand fest: Ausstieg ist kein Thema mehr! Wir sind zu schwach – die anderen sind zu stark!

Macht!
Dunkle Mächte zwingen, fordern, treiben… in den Tod,
in die Ruhelosigkeit, in die einzige Bahn, aus der es kein Entrinnen gibt,
keinen anderen Gedanken und Ziel zulässt.
Es klingt so süß… so erlösend.
Keine Angst mehr, sondern Macht und Kraft.
Mit geöffneten, wachen, erkennenden Augen
gehen wir freiwillig unseren letzten Gang.
Nur um dies zu erreichen,
bekommen wir wieder Kontrolle.
Münder bleiben stumm,
Gesichter bleiben ausdruckslos,
unser Verhalten wird zielgerichtet…
automatisch.
Alles geht seinen Gang!
Hoffen…
– auf keine durchdringenden Blicke
– auf kein Verstehen-Wollen mehr
– auf keine Hilfe und Verwehren.
Unser Ziel ist und bleibt…
irgendwie, irgendwo, irgendwann,
aber auf jeden Fall!
Erlösung, Ersparen von Qual
unsere Entscheidung, Entkommen, Flucht…
„Adé kranke Welt!“
MACHT – endlich mal über uns selbst!

Die Visite verlief aber ganz anders, als Carlotta es erwartet hatte. Es schockierte sie fast und machte sie unheimlich traurig, dass sie nicht kämpfen und lügen musste. Sie schrieb in ihr Tagebuch:

„Visite gelaufen. Und zwar ganz anders, als wir gedacht haben. Herr Ahlfeld war teilweise so lieb.

Er sagt, dass wir in zwei Tagen gehen dürfen, wie wir es vorgeschlagen haben. Er sagt, er will uns zu nichts zwingen, wie die Täter es tun. Er will uns auch durch den Aufenthalt keine Missbrauchspause geben, obwohl wir es verdient hätten. Aber er will es nicht verantworten, durch seine Sicherung den Druck von den Tätern zu erhöhen, und er möchte uns auch nicht für die Täter aufbauen, was sie wieder innerhalb kürzester Zeit kaputt machen und zerstören.

Er bedauere es sehr, uns so zu sehen und auch gehen zu lassen – auch er fühle sich hilflos. Er möchte auch nicht, dass wir wieder auf seine geschlossene Station kommen, sollte es noch mal nötig sein (Geschlossene = Retraumatisierung) und der Druck nicht nachlassen. Er würde uns lieber gehen lassen, obwohl es ihm schwerfalle. Und wiederkommen dürften wir nur auf die offene Traumastation zu den bekannten Bedingungen. Die zuständige geschlossene Station wäre damit in Weinfurt und nicht mehr seine.

Es macht uns so traurig, hilflos und verzweifelt durch seine verständnisvolle Art und diese Klarheit…

Nun sind wir völlig fertig. Körperlich sowieso: Kreislauf, Schwindel, Nierenschmerzen, Kopfschmerzen und dann noch diese Trauer. Trauer… um uns? Weil wir uns selbst verloren haben? Uns aufgeben müssen? Oder weil wir Herrn Ahlfeld enttäuscht und traurig gemacht haben und ihn als Hilfe verloren haben?

Komisch… erst war es den ganzen Tag über Thema: Die Freiheit zu sterben erkämpfen zu wollen und trotzig den Sieg zu wollen… und nun bekommen wir das ohne Widerstand, aber mit Bedauern… und das fällt uns sooo sooo schwer. So plötzlich kein Kampf mehr, sondern nur noch Trauer, Abschied, Aufgabe. Noch 2 Tage, um über den Tod nachzudenken. Das ist so schwer, denn es ist keine kurzentschiedene Flucht mehr, sondern eine wirkliche Entscheidung… und sooo viel im Hirn und sooo viele Tränen.“

Die folgenden Tage waren extrem schwer für Carlotta und ihr System. 2 Tage… diese Trauer, dieser klare Blick auf das, was kommen sollte. Es herrschte ein extremes Chaos zwischen Gefühlen, Gedanken auf allen Ebenen ihrer Anteile. Die Pfleger und Schwestern der Station taten ihr Bestes, um Carlotta und ihre Anteile aufzubauen und ihnen den Entschluss der Entlassung auszureden. Carlotta war hin und her gerissen und doch fühlte sie sich unverstanden. Sie dachte,

„wenn das alles so leicht wäre, dann würden wir ja kämpfen. Aber immer diese Gewalt, dieser Druck und diese wenige Kontrolle. Wir müssen weichen… es gibt wohl keinen Weg!“

Die Tage verliefen sehr turbulent und immer wieder musste Carlotta wieder nach vorn geholt werden. Sie switchte extrem zwischen den verschieden Personen hin und her. Durcheinander, aufgedreht, Galgenhumor, lange Gespräche, viele Tränen, Angst, unansprechbar…  Trotzdem versuchte Carlotta, durch dieses ganze Chaos hindurch einen „roten Faden“ zu finden und all das mal zu formulieren:

„Tja, wie fangen wir an? Diese Situation ist so verfahren. Wir wissen selber nicht, wie es weitergeht/weitergehen soll. Wissen und Erkenntnis sind eh Mangelware zur Zeit. Wir wissen noch nicht mal genau: Aus was bestehen wir gerade überhaupt? Wo sind die ganzen Innenleute, die Entscheidungen treffen können und auch abschätzen können, was aus dieser oder jener Entscheidung dann resultiert und folgt? Habe das Gefühl, alle wichtigen Anteile fehlen oder sind blockiert und ratlos. Seit dem Besuch bei den Eltern und dem Suizidversuch ist alles anders. Und dann diese Station hier. Alles viel zu triggernd, anstrengend, vertreibend, dass eh nur noch die „abgehärteten“ Anteile hier da sein können. Keine Rückzugsmöglichkeit durch die Überwachung, keine Ruhe, Sicherheit… immer eine Zitterpartie, Aggressionen ausweichen, Innies flüchten, Kinder sind verschreckt.

Und dann immer wieder das Thema: Warum ist alles blockiert? Was ist da am Freitag genau passiert? Hat das was mit vor dem Suizidversuch zu tun? Wurde uns etwas aufgetragen? Wurde ein Therapieverbot ausgesprochen?

Oder hat dieser Suizidversuch irgendetwas mit uns gemacht? Vielleicht will keiner mehr die Verantwortung übernehmen, seitdem klar ist, dass es um Leben und Tod geht? – Mir selbst ist das meist gar nicht so klar. Ich muss mir immer wieder sagen: Wir sind vor Kurzem fast gestorben, waren vor Kurzem auf Intensiv… Trotzdem lachen wir mit unserem Galgenhumor alles weg, total überdreht, alles weg im Kopf und doch sooo viel und sooo durcheinander, so viele Gedanken, so schnell, verschieden und immer wieder dieses „Nur nach Hause“ Aber warum? Flucht vor der Situation auf der geschlossenen Station hier? Oder aufgetragen? Gesteuert? Von Innen? Oder von Innen durch einen Befehl? Ein Programm? Flucht vor der Therapie?

So viele Fragen… und einfach nur das Bedürfnis nach Ruhe. Ruhe zum Entscheiden, zum Überlegen, Durchdenken, Verarbeiten, Ordnen, Klarkommen… für alle.

Aber ist es richtig nach Hause zu gehen? Wo nicht klar ist, was genau passiert und passiert ist? Sind wir wirklich auf den Tod fixiert? Wohin bringt uns das noch, wenn das mit den Tätern weitergeht? Rutschen wir noch tiefer, obwohl ich fast denke, es geht nicht noch tiefer? Bekommen die Täter noch mehr Macht über uns? Oder ist das die einzige Möglichkeit und Chance für uns? Für etwas mehr Kraft und „Ruhe“, vielleicht auch „Sicherung des Lebens“. Denn was passiert, wenn wir entscheiden sollten: „Ja, wir machen die Therapie weiter und kämpfen?“ Wir würden auf die Traumastation zurückkommen, sollen die Bedingungen einhalten… und dann? Was geht dann los? Ist das alles überhaupt noch zu kontrollieren? Was passiert, wenn wir ja eigentlich gar nicht kontrollieren können? Angst auch vor einer Entscheidung von Herrn Ahlfeld, dann in dieser Situation. Was ist, wenn er uns nach Hause schickt. So viele von uns hängen an Herrn Ahlfeld als Hilfesteller und auch Anker… was ist, wenn er uns wegschickt und nicht wir selbst entscheiden? Was würde mit dieser Enttäuschung passieren zu all dem Elend, was eh schon da ist dazu? Ist es dann nicht leichter, selbst den „Buhmann“ zu spielen, als hinterher völlig allein, verlassen und enttäuscht davor zu stehen? So viele wichtige Fragen… unbeantwortet… und doch wird immer wieder eine Richtung gefordert: „nach Hause“. Doch können wir nun, da wir die Tragweite kennen, so einfach entscheiden oder nachgeben?

Vielleicht ist das Ganze auch nur ein Spiel, denk ich oft!? Ha… all das Hin und Her. Sterben wollen, sollen… dann zig Fragen, hin und her… Testen was passiert? Berechnung?

Ich weiß, Herr Ahlfeld wird uns definitiv keine Entscheidung abnehmen. Aber vielleicht wird er durch sein Wissen und seine Vorerfahrung eine Richtung aufzeigen, Möglichkeiten abklären… oder einfach nur verstehen.

Warum das ganze Theater? Wir wollen doch nicht einfach so gehen, ohne zu erklären, ihm danken… das sind wir ihm und uns evtl. auch schuldig.

Shit.. nur am Jammern. Das mag ich an uns echt nicht leiden!

Wie ist der momentan sicherste Weg für uns?  Was können wir überhaupt noch von uns erwarten?

Noch so viele Fragen… und immer das Gefühl, das Wichtigste fehlt noch oder haben wir vergessen… trotzdem jetzt mal Schluss hier. Das ganze Chaos macht einen nur zusätzlich fertig.“

Diesen Text las Carlotta Herrn Ahlfeld vor und war ganz froh, diese Zettel zu haben… sie hätte nichts gewusst zu sagen… zu sehr war sie aufgeregt und ängstlich, denn sie wusste, worum es ging.  Herr Ahlfeld sagte noch einmal, dass er hinter Carlotta stand, egal wie sie entscheiden würde, dass nur sie und ihr System entscheiden müssen und niemand anders. Und er betonte, wie froh er wäre, dass die Entscheidung, leben zu wollen, von Carlotta und ihrem System selbst getroffen wurde. Ihm wäre klar geworden, dass er anscheinend noch viel zu wenig wüsste über die genauen Einzelheiten/Zusammenhänge der Geschichte Carlottas, das Ausmaß, die „Zwänge gegenüber den Tätern“. Dieses Wissen wäre aber nötig, um überhaupt einen Grundstein bzw. ein Fundament zum Ausstieg zu legen. Sie einigten sich darauf, dass Carlotta noch am selben Tag entlassen wurde, um dann neue Ziele für die folgende Therapie auf der Traumastation festzulegen.

In 3 Tagen vereinbarten sie einen Termin in der Traumaklinik, um alles Weitere zu besprechen.

Carlotta bat Jannis, ihren Mitbewohner, sie aus der Klinik abzuholen. Und dieser reagierte nach dem, was er mit Carlotta mitgemacht hatte, mehr als geschockt und fragte, ob das ein Witz sein sollte… was er denn anstellen sollte, um Carlotta zu beschützen? In den Keller einsperren und fesseln? Er war sehr in Sorge und verstand die Entscheidung von Carlotta und Herrn Ahlfeld nicht.

Trotzdem holte er sie aus der Geschlossenen zurück in die WG.

Wieder „zu Hause“

Die folgenden Tage hatte Carlotta sehr zu kämpfen, nicht wieder in diese Hoffnungslosigkeit und dieses gesteuerte Gefühl in Richtung Suizid zu kommen. Sie lenkte sich sehr ab: Putzen, Saugen, Einkaufen, Dinge erledigen, Briefe schreiben, Telefonieren, laute Musik hören….

Der erste Termin mit ihrer ambulanten Wohnbetreuerin Frau Trümmer gab ihr keinerlei Unterstützung, denn Carlotta hatte das Gefühl, dass eher sie Frau Trümmer beruhigen musste. Carlotta gab ihr die Erlaubnis, mit Herrn Ahlfeld zu telefonieren, weil sie es leid war zu erklären und beruhigen… eigentlich hätte sie sich Unterstützung erhofft.

Carlotta setzte wieder ihre Maske auf. Alles Lachen nur gespielt, Kontrolle vorgetäuscht.

Denn eigentlich war sie sehr verzweifelt bei dem Gedanken an den Termin mit Herrn Ahlfeld. Sie kannte seine Bedingungen zur Aufnahme. Sie wusste, dass er zumindest eine Basis zur Therapiebereitschaft von allen wollte. Sie wusste, dass er selbstverletzendes Verhalten als Bestrafung oder Druckabbau nicht in dem Ausmaß duldete, das aber gerade an der Tagesordnung stand. Sie wusste es… und sie fühlte immer noch diese große Uneinigkeit und diese Hoffnungslosigkeit, dass der Kampf um Einigung sich je ändern könnte. Zu oft schon versucht und doch immer wieder gescheitert.

„Weiß auch nicht – geht gar nicht gut gerade. Aber keiner bemerkt es. Bin schon wieder nur am Spielen und kann mir keinem drüber reden. Ich will auch nicht allen Sorgen machen… oder ständig jammern. So langsam frage ich mich aber: Für was soll ich denn noch kämpfen? Es endet doch immer wieder in der Scheiße! Wir werden im Kampf immer schwächer und ich hasse Schwäche. Alles bricht zusammen. Also wofür? Diese ganzen Erinnerungen machen es nicht leichter. Es ist so zerstörend. Vielleicht gehöre ich echt in die Dunkelheit. Für was soll ich die Kraft, die eh schon kaum noch vorhanden ist, einsetzen? Für Therapie mit ungewissem Ausgang? Für Sicherung, die Gefahr von der anderen Seite bewirkt? Ich weiß eh nicht, ob wir all das überleben. Ich weiß nur, dass ich endlich meine Ruhe will – von all dem Schmerz, der Trauer, dem Ertragen, Erinnern, den Forderungen, den Bestrafungen und auch vor dem Druck, der mich immer in eine Richtung bringt: Tod, Therapieabbruch.

All die unsinnigen Dinge, die ich zur Ablenkung tue…Ich mache und mache, total übertrieben und getrieben. Es wird gemacht, aber nicht aufgenommen. Es macht doch alles keinen Spaß mehr! Kann das kaum beschreiben…

Kopfschmerzen und Druck bestimmen den Tag. Nur Gedanken: vor allem weglaufen… auch vor den Gedanken.

Mist! Lassen wir uns hängen? Stellen wir uns an? Kann es denn so schwer sein? Gefallen wir uns etwa in der Rolle oder was soll der ganze Scheiß hier? Alles nicht wahr… womöglich eine Krankheit für die Krankheit? Oder will oder kann ich das alles nicht seh´n? Wahrhaben? Lauf ich davon – vor mir und meinem Leben, das ich nicht mehr kontrollieren und steuern kann… das nur noch anstrengt, verletzt, quält… nichts mehr bedeutet?

Was soll ich Herrn Ahlfeld nur sagen zu unserem Termin? Ich bin kein Stück weiter… wahrscheinlich sogar eher noch weiter entfernt… denn die Täter haben letzte Nacht wieder ihre Spuren an uns/in uns hinterlassen!

Ich schaffe diesen Kampf nicht mehr… und das kann keiner verstehen. Also brauch ich auch nicht groß drüber reden. Also lach ich, sage „es geht besser – geht schon!“ und betrüge damit wahrscheinlich nur andere Menschen, die uns wirklich helfen möchten (nur auch nicht wissen wie), sondern auch noch uns selbst. Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Druck, Schmerz, und bei all dem den Glauben: Helfen kann eh keiner! Herr Ahlfeld ist selber hilflos und traurig und versteckt sich hinter seinen Anforderungen. Er kennt uns im Endeffekt auch zu wenig… weiß zu wenig… tappt mit seiner Hilfe und seinem Druck ständig in Fallen, die dann in uns losschießen… und es nur noch verschlimmern. Die Täter sind zu stark, kennen uns zu gut, haben zu gute Sicherungen in uns eingebaut… wir sind zu schwach und zu allein.

Es tut mir für uns selbst leid!“

Es kam dazu, dass Carlotta aufgab und nichts mehr gegen diesen Druck, sich umzubringen, tat. Sie ließ es geschehen.

Doch auch dieses Mal wurde sie rechtzeitig gefunden und auf die Intensivstation verlegt. Ihr Magen wurde ausgepumpt, Gegenmittel zu der Tablettendosis, ihre Selbstverletzungen wurden genäht, Katheter, EKG- Kabel, Infusion, Blutdruckmessgerät…

Geschlossene Station in Weinfurt

Als sie stabil genug war, um verlegt zu werden, ging es diesmal nicht auf die geschlossene Station zu Herrn Ahlfeld , sondern auf die allgemeine Geschlossene in Weinfurt (wie Herr Ahlfeld es angekündigt hatte).  Sie bekam ein Bett im Wachsaal, in dem 8 Betten standen – die Wand zum Schwesternzimmer nur eine Glasscheibe.

Carlotta hätte nicht gedacht, dass eine geschlossene Station noch schlechter sein könnte, als die bei Herrn Ahlfeld. Doch da hatte sie sich getäuscht. Diese Station war grauenhaft. Es war noch lauter, unruhiger, aggressiver, weniger sicher, als sie es sich hätte vorstellen können. Das Personal hatte von ihrer Diagnose und ihrem Hintergrund absolut keine Ahnung und war auch wenig engagiert, es zu verstehen. Carlotta versuchte, sich einfach möglichst unauffällig, unkompliziert und ruhig zu geben, sobald sie außerhalb des Wachsaals war, in der Hoffnung, schnell entlassen zu werden. Doch in ihrem Inneren brodelte es gewaltig.

Versuchung
Wieder einmal ein Versuch misslungen.
Irgendwer von uns wollte von dieser Welt Abschied nehmen
und ich habe es nicht verhindert.
Ich wollte dem Kampf entfliehen
und meine Ruhe.
Wieder einmal aufgegeben,
keinen Weg gesehen.
Handlungen wurden automatisch ausgeführt.
Doch wieder einmal gefunden worden…
aber nicht gerettet.
Wieder einmal Tabletten geschluckt,
eingeschlafen – wartend auf die Ruhe.
Doch… Notarzt wurde gerufen.
Infusionen, Gegengift, Magen auspumpen, Katheter, Nähen…
Intensivstation.
Wieder einmal aufgewacht,
erkannt… nicht tot. Keine Ruhe.
Kabel, Schläuche, EKG Kurven.
Ein Krankenhauszimmer.
Wieder einmal Verlegung,
Krankenwagen, Sanitäter, mitleidige Blicke,
Geschlossene, Wachsaal,
keinen Ausgang, keine Freiheit.
Wieder einmal triggernde Umgebung,
triggernde Mitpatienten,
Flucht vor all dem,
kein Verständnis, allein
mit all dem Chaos und uns.
Wieder einmal Freiheitsdrang so groß,
doch keine Vorstellung von der Sicherung des Weiterlebens.
Alles überlagert von der Flucht vor der Situation auf dieser Geschlossenen.

In den wenigen Gesprächen mit der Stationsärztin versuchte Carlotta, immer wieder Verständnis für ihre Situation zu bekommen und zu erklären, warum diese Umgebung für sie und ihr System so unaushaltbar war. Doch die Ärztin ließ sich auf keine Verhandlungen ein. Auch ein Telefonat mit Herrn Ahlfeld nützte nichts. Carlotta hatte das reguläre Lockerungs- und Entlassungsprozedere mitzumachen.

Durch das Telefonat wusste Carlotta, dass Herr Ahlfeld sehr traurig über ihren verzweifelten Zustand war. Er bestärkte noch einmal das Angebot, jeder Zeit gesprächsbereit zu sein, sollten Carlotta und System bereit sein, mit ihm am Ausstieg zu arbeiten.

Schon während der Lockerungen war Carlotta aufgefallen, wie sich das Kampffeld erneut verlagert hatte.

„Durch die gewonnene Freiheit ist das Kampffeld plötzlich nicht mehr: Ich/Wir kämpfen nicht mehr für unsere Freiheit/Selbstentscheidung, sondern jetzt ist das Kampffeld, unser gesteuertes Verhalten bekämpfen und unser wieder aufkommendes Unsicherheitsgefühl!

Anscheinend wissen wir echt nicht, was wir wollen… sind mit nichts zufrieden… sowas von abartigem Verhalten.

Ich könnte echt kotzen!“

Es dauerte 14 Tage, bis Carlotta komplett wieder zu Hause in ihrer WG war.

Zurück in der WG

Dass es zu Hause nicht leicht werden würde, hatte sich ja schon in der Lockerungsphase in der Klinik abgezeichnet. Die Depression, Perspektivlosigkeit und das Chaos ihrer Innenpersonen inklusive aller selbstzerstörerischen Tendenzen ließen nicht lang auf sich warten. Hätte ihr damals eine Fee einen Wunsch erfüllt, hätte sie sich in die Zeit zurück gewünscht, zu der sie noch nichts wusste und mitbekam von dem, was in ihr und mit ihr passierte. Doch sie wusste auch… diese Zeit würde nie wieder kommen.

So schwer, sich in den Fängen der Dunkelheit zu befinden,
wie ein klebriges Spinnennetz, das Fäden immer fester zieht.
Selbst wenn wir glaubten, zumindest etwas befreiter zu sein,
tragen wir doch die Fäden an uns… unsichtbar, unerkannt,
die uns immer wieder steuern wie Marionetten
und zurückhalten und zurückziehen.
So sind und bleiben wir ein Kind der Dunkelheit!

Frau Sommer versuchte während der ambulanten Therapie, Verträge mit Carlotta und ihrem System auszuhandeln, dass sie sich früh genug bei ihr meldeten oder zurück auf die geschlossene Station in Weinfurt gingen, sollten sie das Gefühl haben, es eskaliere erneut. Außerdem wollte sie gern erfahren, welche Gründe es intern gebe, die gegen den Ausstieg sprechen würden oder diesen erschweren/unmöglich erscheinen ließen.

Wie immer stehe ich vor den Trümmern unseres Systems,
Verwirrung, Chaos  so allumfassend.
Tränen, Verzweiflung der Opfer.
Schutz und Hilfe wird angeboten,
doch unter Bedingungen,
die wir nicht erfüllen können.
Angebotene Hilfe muss abgelehnt werden,
denn hinter jeder Sicherheit steht Bestrafung von der anderen Seite.
Fragen drängen sich auf:
Ertragen? Wie immer?
Oder Hilfe und „Sicherheit“ annehmen
um hinterher umso mehr kämpfen zu müssen?
Wann hört das endlich auf?
Wann ist Therapie endlich wieder möglich?
Es muss doch weitergehen.
Nicht ständig Schneiden verhindern versuchen
und doch jedes Mal scheitern,
Kotzen, bis wir uns selbst ankotzen
und diese Suizidgedanken abwenden!

In den nächsten Wochen versuchte Carlotta, sich zumindest an den vereinbarten Vertrag zwischen Frau Sommer und ihr zu halten.

Ein Rein und Raus

So kam es, dass Carlotta wieder nach kurzer Zeit für eine Nacht auf der geschlossenen Akutstation in Weinfurt war. Nach einer Selbstverletzung, die im Krankenhaus versorgt werden musste, wies der behandelnde Arzt sie ein. Allerdings konnte sie bereits am nächsten Morgen wieder entlassen werden.

4 Tage später, nachdem Carlottas Anteile in einer Sitzung bei Frau Sommer zu viel erzählt hatten, war sie jedoch schon wieder drin.

„Hatten Termin bei Frau Sommer und es war total anstrengend. Aber so genau weiß ich wieder mal nicht, was war – nur durcheinander und eine totale Hoffnungslosigkeit hinterher. Und dann steigerte sich das plötzlich alles! Hatte voll Angst abzudrehen und dass die Täterloyalen richtig Scheiße bauen. Mein Körper war schon wieder mal nicht meiner und richtige Kontrolle fehlte. War drauf und dran, wieder ins LKH nach Weinfurt zu gehen zum Schutz, doch diese Ungewissheit, was die dann da wieder mit uns anstellen würden, und ob ich entlassen werden würde, wenn ich es wieder abschätzen könnte, hat mich davon abgehalten. Eventuell auch etwas unser Stolz und die drohende Aufgabe der Freiheit… und nicht zuletzt, dass ich kein Drehtür-Patient werden wollte. Doch als ich mich  Stunden später an den Bahngleisen plötzlich wiederfand und einige nur noch auf den nächsten Zug warteten, weil sie sich davor werfen wollten (mussten), konnte ich „Gott sei Dank“ noch meine letzte Kraft mobilisieren und einfach nur da weg gehen. Hab dann Frau Sommer angerufen und sie gebeten, uns ein Zimmer auf der Station zu besorgen. Tja, und da bin ich nun wieder… auf der Geschlossenen.

Die nächsten Tage versuchte Carlotta, über die Umstände, die nun mal auf solch einer geschlossenen Station herrschten, hinwegzusehen. Sie versuchte, sich etwas zu erholen und Kraft zu tanken. Doch ihre Körpersymptome schwächten sie extrem. Ihre Beine wollten ihr teilweise einfach nicht gehorchen, ihr kompletter Körper schmerzte, mal war es schwer zu atmen, mal hatte sie unter schlimmem Schwindel, Kopfschmerzen zu leiden…. Sie versuchte, sich Erleichterung über eine hohe Medikation und dadurch Schlaf zu holen, was ihr auch teilweise gelang. Jedoch bald schon war der Drang, entlassen zu werden, schon wieder sehr, sehr groß.

„Der Kampf, hier zu sein und hier zu bleiben ist schon wieder sooo groß. Ich muss mich schon fast selber auslachen (wenn es nicht so traurig wäre), denn es ist genau wie die letzten Male hier. „NUR RAUS HIER!“ schreit es ständig in mir und eine schreckliche Unruhe quält mich. Dabei waren wir es doch selbst, die uns hier eingewiesen haben und um eine Ausgangssperre gebeten haben… weil wir nicht sterben wollen!!! Aber das scheint gerade unwichtig und klein!

Dieses ewige Hin und Her/Rein und Raus ist selbst für mich sowas von nervig und unverständlich. Manchmal frage ich mich mal wieder: Warum ist das so? Wie wirkt das von außen, wenn ich es selbst noch nicht mal versteh? Das Personal bekommt hier eh nur ein paar Bröckchen Infos hingeworfen (und was die davon dann noch verstehen, wird noch weniger sein, weil die hier einfach keine Ahnung haben) und die sehen nur die Maske… weil nicht mehr darf. Was ist das verdammt noch mal für ein scheiß Spiel?

Carlotta nahm all ihren Mut zusammen und bat um ein Gespräch, um ihr Hin und Her/ihre „Zustände“  zu erklären. Sie wollte eventuell folgende Aufnahmen ebnen und ein paar mehr Infos ans Team geben, damit es dann später auf mehr Verständnis, Erfahrung mit ihr zurückgreifen  konnte, und um nicht länger ein großes Fragezeichen zu bleiben.

Diese unvorsichtigen Fragen des Stationsleiters und das relativ offene Reden über ihren Zustand forderte jedoch in der gleichen Nacht noch seinen Tribut. Die Täterloyalen verletzten Carlottas Arm erneut so tief, dass der herbeigerufene AvD direkt einen Krankentransport zum nächsten Krankenhaus zum Nähen rief.

Trotz dieses Vorfalls konnte Carlotta nach zwei weiteren Tagen und nach Absprache mit Frau Trümmer, ihrer Wohnbetreuerin, entlassen werden, um ihre ambulante Therapie fortzusetzen.

Das Ergebnis der folgenden Therapiestunde von 2 vollen Zeitstunden war sehr ernüchternd. Frau Sommer sagte zum Schluss: „Therapie ist ja im Moment nicht möglich! Nur überleben… überleben das ist das Ziel! Und dies ist schon schwer genug!“

Carlotta versuchte wieder ihre übliche Strategie, alles wegzudrängen… zu machen, zu tun, zu lachen, nicht hinzusehen… weil es zu schwer erschien, diese Lage zu fühlen.

Diesen unachtsamen Zustand nutzen ihre täterloyalen Anteile, die auf ihre Art versuchten, das Überleben zu sichern und sich dem Druck der Täter zu beugen, und fuhren über das Wochenende zur Familie.

Als sie wieder zurück kam schrieb sie in ihr Tagebuch:

Tja,… bin nach all dem total fertig, körperlich am Ende, ohne Ende durcheinander, traurig und ewig am Heulen, Schmerzen… Habe auch schon ganz lange mit Jannis (Mitbewohner der WG) gesprochen. Nicht nur, weil ich denke: mit uns ist wieder was mit den Tätern gelaufen und alles schmerzt… nein, ich hab da noch etwas anderes mitgekriegt: Ich habe etwas gesehen… was mich richtig fertig macht. Ich habe meinen Onkel, der der Haupttäter ist, lächelnd mit einem Kind im Auto vorbeifahren sehen…einem Kind, dass ich nicht kenne/nicht zur Familie zuordnen kann. NEIN!!!! Das macht mich fast wahnsinnig. Dass wir zu doof sind, uns zu schützen, ist eine Sache… aber ein Kind?? Schuld ohne Ende plagt uns! Zweifel! Was tun? Was ist überhaupt möglich? Und dann immer wieder die Gedanken an unser Patenkind Sarah, die Enkelin vom Haupttäter. Frage mich schon, ob das alles so geplant ist?

Mist! Immer wieder solche Schwachsinnsaktionen… WIR SOLLEN DOCH DA NICHT MEHR HIN! Eigentlich müsste das doch überall angekommen sein, dass das nicht gut sein kann. SOWAS rettet uns ganz bestimmt nicht! Ich kann und will das alles nicht mehr!

Verdrängen wäre jetzt schön! Aber kann ich das länger? Mit dem Wissen, dass ich nicht nur uns und  unsere Opferanteile, sondern auch kleine unschuldige Kinder im Stich lasse?

Sch… das Ganze ist so verbockt!!!!

Die Täter ließen auch in den folgenden Tagen nicht locker… sie verbreiteten Angst und Schrecken und drohten, Carlottas Hand zu brechen, sollte sie nicht Ostern zum verabredeten Treffen erscheinen.

Was sollen wir tun? Uns schützen??…um hinterher die Hand gebrochen zu bekommen?

Wann sollte der Punkt/die Grenze erreicht sein, dass wir reagieren MÜSSEN? Wenn doch schon alles so kaputt ist und das alltägliche Leben nur noch eine Qual und ein Aushalten ist… Es zeitweise schon an unser Leben ging…kotzen, schneiden, Angst haben, sich schuldig fühlen, weiter missbraucht, gequält, bedroht zu werden…

Wo ist der Punkt? Wenn nicht genau hier? Oder vielleicht schon viel zu lang überschritten!?

Es scheint mir, es gibt in unserem System keine einheitliche Grenze. Wahrscheinlich sind die Täterloyalen gerade ganz zufrieden, weil wir drauf und dran sind aufzugeben… weil alles zu übermächtig erscheint. Wie sollen wir uns nur je einigen, wenn das alles nicht passt und übereinstimmt?

Die Situation für Ostern scheint so aussichtslos. Wir können uns keinen Schutz und Sicherheit leisten, denn dafür wäre der Preis hinterher zu groß. Trotzdem ist jetzt doch schon das ganze System im Arsch: die Kinder völlig fertig und die, die entscheiden sollen, hilflos.

Was ist richtig/was ist falsch?

Auch auf lange Sicht ist es ja das Gleiche… für die Therapie mit Herrn Ahlfeld. Wir müssen uns einig sein und therapiefähig… ← das ist nicht gegeben und wird zum Problem. Ich muss feststellen, dass, was damals die Gründe waren, wir dort nicht weiter hin konnten, hat sich nicht verändert. Wir würden 100%tig am gleichen Punkt scheitern.

All diese Gedanken um ihre Sicherheit sollten nichts nützen, denn zu Ostern fuhr Carlotta wirklich nach Hause. Aber schon nach einem Tag schaffte sie den Absprung und setzte sich fluchtartig ins Auto und fuhr in die WG zurück. Als sie wieder zu Hause war, war einerseits die Erleichterung groß, von dort nur nach einer Nacht schon weggekommen zu sein… aber auch die Nachwirkungen dieser Nacht hatten ihre Spuren hinterlassen. Natürlich setzte auch sofort die Angst ein, was passieren würde, weil sie geflüchtet waren. Im System von Carlotta herrschte nur noch das Chaos. Carlotta versuchte alles, um sich wieder etwas in den Griff zu bekommen… auch die Bulimie nutzte sie als Mittel der Ablenkung, sowie Beruhigungsmittel.

Schon wenige Tage später, direkt nach den Osterfeiertagen, kam es zu der angedrohten Bestrafung. Carlotta hatte eine große Zeitlücke und fand sich plötzlich in ihrem Auto vor der Haustür der WG mit einer schmerzenden, blauen linken Hand wieder. Laut ihres Mitbewohners Jannis war sie einige Stunden zuvor nicht aufzuhalten gewesen und sei mit ihrem Auto davon gefahren. Was in der Zwischenzeit passiert war, war Carlotta ein unlösbares Rätsel.

Sie fuhr in Begleitung von Jannis zum Arzt. Dieser konnte jedoch glücklicher Weise nach dem Röntgen Entwarnung geben. Es waren „nur“ die Mittelhandknochen, Sehnen und das Gewebe gequetscht und nichts gebrochen. Carlotta war ziemlich erleichtert und doch auch verwirrt, warum ihre Hand verletzt, aber nicht wirklich gebrochen war, wie angekündigt. Und trotzdem reichte diese Erfahrung, um sie in ihrer Angst zu halten und um ihr weiterhin deutlich zu machen, unter welchem Druck sie stand.

In den folgenden Therapiesitzungen war Sicherheit immer wieder ein Thema. Frau Sommer ermutigte Carlotta zu formulieren, was sie für ihren Schutz noch einbauen könnte (und was nicht, weil dann der Gegendruck der Täter zu groß werden würde) und wie die nächsten Wochen aussehen könnten.

Kommen gerade von Frau Sommer. War total anstrengend und auch etwas enttäuschend. Hatte gedacht – jetzt geht es los! Jetzt ist der Punkt erreicht! Aber nein, es war so absehbar… Widerstand in uns und die ewige Spirale bleibt bestehen… Rumgerede – gar keine Ahnung… einfach nur wirr. Es ist und bleibt ein Schlangenlinienlauf zwischen den Fronten…ein Hin und Her. Und nichts ist richtig. Es gibt kein Richtig mehr, wenn die Forderungen nach Schutz und Gehorchen so unterschiedlich aussehen und jede Seite Druck ausübt.

Aber es MUSS doch langsam mal ne Änderung her!

Sind schon ziemlich fertig. Ich meine… es war auch wirklich heftig zu merken, dass es echt immer am gleichen Punkt hängt. Auch sie sagt „wir sind alle eins“  und „wenn wir wirklich zusammenhalten und uns gegen die Täter stellen, wir bessere Chancen haben“ Sie sagte wir sollen an den „freiwilligen“ Treffen zuerst arbeiten sowie mit den Innies reden, die ständig Infos an Täter weiterreichen. Wir sollen das „Freiwillige“ zuerst sein lassen und uns Stück für Stück entfernen, um den Druck nicht zu groß werden zu lassen. Pff… die versteht doch gar nichts! Was ist denn bitteschön freiwillig? Was ist unkontrolliert, was ist programmiert, was ist gezwungen? Und was ist „den Druck gering halten“? Hallo??? Hinter jeder Sicherheit steht 100%tig eine Bestrafung! Und hinter jedem regelgerechten Handeln für die Täter steht mehr Druck von den Helfern und Schmerz.

Und einen Satz hätte sie sich auch sparen können „Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nicht drauf an, wenn sie das schon ihr ganzes Leben kennen!“ Pfff… wahrscheinlich wollte sie mir dadurch Druck nehmen… dass sie keine Hau-Ruck-Aktionen erwartet, aber… puhhh das tat weh!

Am liebsten würd ich ganz schnell in Sicherheit! Ich halte das Ganze nicht länger aus! Doch wie??? Wie soll ich das je erreichen??

Frau Trümmer versuchte, Carlotta davon zu überzeugen, dass die WG nicht ausreichend unterstützend war und dass sie sich doch bitte Gedanken über ein Wohnheim machen sollte.

Allerdings sah Carlotta darin nur die Ablehnung und Überforderung Frau Trümmers ihr gegenüber. Carlotta konnte nicht ertragen, für alle zu schwer zu sein! Sie ertrug es nicht, jedem Gedanken zu machen und gefühlt nur noch ein jammerndes Etwas zu sein. Sie ertrug es nicht, dass Experten immer wieder auch Ratlosigkeit, Bedauern, das Ende ihrer Kompetenz und Hilflosigkeit äußerten (neben den viel zu hohen Anforderungen und Druck) angesichts dessen, was Carlotta ertragen musste und nicht wusste, wie sie einen Weg herausfinden sollte. So fühlte sie sich noch ausgelieferter, hoffnungsloser und schon wieder bedroht, allein gelassen zu werden/weggestoßen zu werden… obwohl Frau Trümmers Rede über Unterstützungsbedarf ihr auch half, sich verstanden zu fühlen.

Ertragen des Schmerzes,
des Blutes, der Narben,
um schlimmere Zerstörung zu verhindern.
Am Abgrund stehend
und nur noch mit dem lahmen Willen,
die Seelen ein wenig zu schützen
mit letzter Kraft.
All den Schmerz nicht mehr wahrzunehmen.
Die Schläge, den Druck und Zwang,
all das Missbrauchende unseres Lebens
tun weh, kosten alle Kraft.
Sicherheit gleicht Kampf
und Kampf gleicht keiner sicheren Unterstützung.
Überforderung und Druck… von allen Seiten.
So stehen wir allein vor uns
und wissen nicht weiter.
Wissen nur: So geht es auch nicht weiter.
Wir kennen aber auch keinen Weg heraus.
ALLEIN, EINSAM, HILFLOS
mit Schmerzen und vielen, vielen Tränen,
Schreien von Kindern
und der Verzweiflung derer, die alles versuchen.
Doch sie sind so stark.
Sind wir zu schwach?
Tage, Daten, Programme,
alles so straff organisiert
und eingepflanzt in einige von uns.