Teil 17 – Carlotta und der Krebs IV

Carlotta & Co kümmern sich

Recht schnell war eine Schwester gefunden, zu der Carlotta & Co einen guten Draht hatten. Bei ihr trauten sie sich dann, das Thema Pflege anzusprechen. Pflege, das Thema, welches Carlotta & Co zu diesem Zeitpunkt als größten, wichtigsten und vorrangigsten Punkt beurteilten und klären wollten.

Die Schwester hatte viel Verständnis, und war von der Idee der „Trockenübung“ gleich angetan. Das gesamte Team war auch ständig in die Entscheidungsprozesse involviert und im Gespräch.
Deshalb kam es dazu, dass die Schwester eines Morgens ganz spontan Carlotta & Co vorschlug, gleich „Übungswaschen“ zu machen, falls das in ihrem Sinne wäre. Carlotta & Co willigten ein.

So kam dann im Laufe des Vormittags die Schwester, mit den Sachen, die sie zum Waschen brauchte, ins Zimmer, und machte Carlotta & Co mit den Abläufen vertraut, so wie sie dort üblich sind. Die Schwester war sehr umsichtig, kündigte jeden Schritt an, hatte ihre Antennen auf ultrasensitiv eingestellt, und fragte zwischendurch immer, ob alles in Ordnung sei. Dadurch lief diese erste Probe echt gut.

Ein Vorteil war hierbei sicherlich auch, dass Carlotta & Co sich schon etwas daran gewöhnt hatten, die Schwestern nah an sich dran zu haben. Sie hatten in der ersten Zeit des Hospizaufenthaltes wieder eine Analvenenthrombose bekommen. Diese behandelten sie aber nicht selbst, sondern ließen sich bewusst zu Übungszwecken die Salbe immer von den Schwestern verabreichen. Sie hätten es auch selbst gekonnt, wollten es aber gleich zu Anfang schon als Übungsfeld nutzen, um zu schauen, ob das etwas auslöst, und wenn ja, was… welche Innenpersonen reagierten… welche Muster anzuspringen drohten… wer Schutz brauchte… in welcher Form… etc.
Eine wichtige Erkenntnis war schon nach relativ kurzer Zeit, dass sowas wie eine Gewöhnung eintrat, wenn etwas über eine längere Zeit gemacht wurde.

Zurück zur Pflegeprobe.

Nachdem sie jetzt die Abläufe der Pflege kennen gelernt hatten und sich innerlich beobachtet hatten, konnten Carlotta & Co sich an die Arbeit machen, genauer hinzusehen auf die äußeren Bedingungen:

(Zu den Abläufen im Inneren wird hier detailliert nichts geschrieben werden, da es sich um Punkte handelt, an denen Carlotta & ihr System zu angreifbar wären.
Allgemein zu sagen wäre: Es gab/gibt viele Anteile, die aus sehr, sehr nachvollziehbaren Gründen ihre Schwierigkeiten haben/hatten.
Stichwortartig umrissen handelt es sich dabei um gemachte Erfahrungen mit der Erzeugerin in Sachen „Dreckskind“, Erfahrungen mit Hygiene in Fixierungssituationen während des Ausstiegsprozesses, „Rollenspiele“ in der Kinder-Prostitution und Kinder-Pornografie,…)

Beobachtungen zu äußeren Prozessen bezogen auf das Waschen:

Was war hier gut? Was war eher unangenehm? Was ging gar nicht? Was sollte man noch etwas verändern, um es zu optimieren?

Sie schrieben sich zuerst alleine auf, was die ersten Gedanken und Gefühle hierzu waren. Danach, beim nächsten Termin mit Herrn Willenbrink, wurde alles nochmal nachbesprochen/durchgesprochen.
Aus den Ergebnissen der Therapiestunde verfassten sie ein Schreiben für das Pflegeteam, das sie im Büro abgaben. So war nun sichergestellt, dass das Team die Wünsche, Bitten und No-Gos für eine später eventuell auftretende Pflegesituation hatten. Das gab Carlotta & Co zumindest ein kleines Gefühl von Kontrolle und Selbstbestimmtheit zurück. Sie hatten solch eine Angst, irgendwann da zu liegen, sich nicht äußern zu können und all das Chaos bräche über ihnen zusammen.
Selbst die wichtige Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung, die Carlotta noch mal auf den neuesten Stand brachte, half da nur ein wenig. Nein, sie wollten es individuell ausprobieren, absprechen und absichern.
Und das war dort im Hospiz möglich (DANKESCHÖN!!!) und konnte so umgesetzt werden, was Carlotta & Co als sehr hilfreich empfanden.
(Wobei ich bezweifle, dass anderswo jeder Gast – selbst in anderen Hospizen, wo der Umgang, das Ziel und der Pflegeschlüssel ein ganz anderer ist als im KKH – auch die Möglichkeit dazu bekommen würde… leider. Denn traumasensible Pflege wäre für uns schon ein wichtiger Punkt.)

Um es mal zu zeigen. Exemplarisch… denn für jeden würde es bestimmt anders aussehen.
Darin stand unter anderem:

Was ist wichtig in der Pflege?

  1. Handlungsschritte klar erklären
  2. Immer im Kontakt bleiben (Gespräch, Augenkontakt, „alles ist in Ordnung“)
  3. Stellen, die gerade nicht entblößt sein müssen, abdecken
  4. Ansprache mit Vornamen, und nicht Frau Dieks. Wenn es irgendwie schwierig wird, fragen: „Kriegt Carlotta das noch alleine hin, oder sollte Leonie unterstützen?“
  5. Berührungen sollten fest sein, klar und eindeutig.
  6. Wenn man unsicher ist, nicht überspielen, sondern sagen/fragen.
  7. Schwierig ist vor allem das Eincremen, wahrscheinlich besser mit Handschuhen.
  8. Wichtig ist das Wissen, Übungseffekt tritt ein (dies war sehr deutlich bei der Versorgung der Analvenenthrombose zu merken)
  9. Lieber Blasenkatheter als Bettpfanne
  10. Schwierig ist auch Zähne putzen. So lange wie möglich alleine machen lassen. Später keinerlei Zwang.
  11. Bei Mundtrockenheit hilft Biotene Gel. Empfohlene Menge ist zu viel für uns. Gute Menge ist haselnussgroß.
  12. Eigenes Duschgel/Pflegeprodukte statt remde nehmen. Der vertraute Geruch beruhigt.

Während der ganzen Zeit seit der Aufnahme im Hospiz war das System von Carlotta & Co sehr instabil. Das Krankenhaus hatte wirklich viel Schaden angerichtet.

Torge bekam davon am meisten mit. Er hatte immer wieder mit ängstlichen, weinenden Kindern zu tun, die bei ihm Trost/Schutz suchten. Vor allem gegen Abend, wenn Carlotta müde wurde, wurde das System durchlässig. So wechselten sich gerade im Einschlafprozess oft verschiedene Innies ab. Torge bekam auch viele Anteile zu Gesicht, die er bisher noch gar nicht kannte.
(Von daher ist relativ wahrscheinlich, dass auch die recht frische Anteilswürdigung und -zählung, nachdem Carlotta Co sie mit Hr. Willenbrink abschließen konnten, von 226+ zu dem Zeitpunkt nicht stimmte. Herr Willenbrink vermutete das gleiche. Zumindest fand er es sehr wahrscheinlich.  Jedoch musste das dann erstmal nebensächlich sein.)


Leider waren unter den auftauchenden Innies auch welche, die Torge nicht wohlgesonnen waren, ihn provozieren wollten. Größtenteils waren es aber die eben erwähnten ängstlichen Kleinen. Die ließen sich meist relativ gut beruhigen, indem Torge sie vorsichtig in den Arm nahm, tröstende Worte sprach, und einfach für sie da war.

Erstaunlich war, wie schreckhaft Carlotta & Co geworden waren. Wenn z.B. etwas runter fiel, erschreckten sie sich oft so sehr, dass sie zusammenfuhren und sofort ein panischer, kleiner Anteil vorne war.

Ein Tagebucheintrag aus dieser Zeit von Carlotta & Co, der es aber extrem schwer fiel Dinge im Kopf zu behalten oder überhaupt erstmal wahrzunehmen:

„What the f#ck. Was ist denn hier zum Teufel los???
Da muss aber wirklich jemand einen gaaaanz billigen Humor haben, uns zu quälen.

Was da alles läuft und gelaufen ist in der letzten Zeit. Puhh… ein Thriller- oder Drama-Autor hätte wahrscheinlich seine Freude an so ner Vorlage… Und würde sie dann wahrscheinlich doch verwerfen, weil es einfach zu unwirklich klingt.
Oder wirkt das alles so unwirklich auf mich, weil ich/wir ständig dauerdissoziiert sind und uns vorkommen als schweben wir in so ner komischen Welt und bekommen nichts wirklich mit… gucken höchstens zu… das „Leben“ lebt uns.. etc.!??

Naja wurscht. Es passiert halt so extrem viel und ich versuch irgendwie händeringend, da was zu kontrollieren an kleinsten Eckchen und Kanten. Und das in den unterschiedlichsten Bereichen.
…so die Reste von allem irgendwie, ne? Also von dem, was wir im März nach der Palliativ-Diagnose so exzessiv gemacht hatten. Und das ist noch soooo viel! Man glaubt es kaum. Wirklich. Ich bin heute sehr,sehr froh, im März fast schon manisch gewesen zu sein und so viel schon erledigt zu haben. Nicht auszudenken, wie ich sonst gewesen wäre. Denn den Zeitdruck spüren wir ununterbrochen.
Was wahrscheinlich auch echt nervig, schwer und so ist, dass ich ungerecht bin. 🙁 Das tut mir dann immer extrem leid.
So Schriftzeugs, Organisatorisches, Finanzielles… noch Sachen für den Fonds, Darlehen von Stiftungen, die durch die letzte Fondszahlung endlich ihr Geld zurückbekommen 🙂 ,… Und so weiter.
Ja, und auch das Buchprojekt…. Da brauch ich dann aber zu 13 Mio % Hilfe… wir sind soooo durch den Wind. Ich krieg das nicht rekonstruiert, zeitlich chronologisch schon mal gar nicht.
Wir sind insgesamt ja auch voll switchig drauf… und ehrlich gesagt auch mit zig „Neuen“ wie mir scheint. Aber… auch da… oder erst recht da: Ich habe keine Ahnung.

Und dann halt auch immer diese Angst: Nutzt das alles, was wir hier betreiben? Nutz das?? Denn irgendwie hatten wir auch Angst, dass wir wieder entlassen werden… womöglich dann bei Komplikationen wieder im Krankenhaus landen. DAS wäre der Untergang schlechthin gewesen.
Ich bin auch echt der Meinung, es müsste fürs KKH ne saftige Beschwerde geben! Mit sowas dürfen die nicht durchkommen.
Abgesichert haben die Idioten sich ja schon. In ihrem Abschlussbericht. In dem sie uns wieder die Schuld gegeben haben, weil ja die Schmerzbehandlung so schwierig war, weil wir was abgelehnt haben. JOA…. Klar! Das ist alles nur so zum Kopfschütteln.
…Ach hätte ich doch nur mehr Zeit und Kraft…. Das würde scheppern.
So, zurück… sind schon wieder abgeschweift.

Aaaaaalso… Hatten Angst, dann evtl. gehen zu müssen von hier. Denn hier ist es echt in unserer Lage optimal vom Gefühl… hier könnte ich sterben. Ja. Hier könnte ich. Denk ich… ich weiß es nicht. Aber es fühlt sich so an.
Die Angst rührt daher, dass immer wieder von unterschiedlichsten Seiten erzählt wurde: Aber ACHTUNG! Dies hier ist ja kein Hospiz, sondern eine dem KKH-angegliederte Hospiz-Station und hier wird nach Besserung der Eingangssymptomatik oder, wenn irgendwo anders ein auf den Patienten passender Platz gefunden wird, verlegt. Es standen dann auch so Zahlen von 21 Tagen maximal Aufenthalt in der Luft.


Das haben wir dann auch immer wieder thematisiert, weil es massiv verunsicherte, inwieweit man hier mit detaillierteren Infos umging oder halt auch nicht. Zeitverschwendung oder lohnender Einsatz!??


Erst wollte zu der Frage niemand was zu sagen… aber irgendwann… ich denk, weil auch wegen all dem, was das Wort komplextraumatisiert mit sich bringt, hatten die ne große Teamsitzung und beschlossen: Wir dürfen bis zum Schluss bleiben! Egal was, wie, wie lang…. Sie sagten, dass sie der Meinung sind, es würde uns nicht gut tun, noch mal zu wechseln, wieder alles neu, …. Und dass sie genug Argumente vor der Krankenkasse dafür hätten, es zu begründen und das auch für uns tun würden. WOW! Ist das nicht auch der Hammer?

So, ich muss aufhören… mein Kopf ballert… mir fallen ewig die Augen zu… ich komm selbst nicht mehr mit. Und was ich jetzt noch fabrizieren würde, wäre auch nicht besser als Hieroglyphen.“

Ein schwieriges Thema war neben all dem der Zeitdruck. Carlotta & Co hatten sich ein Mindestmaß gesetzt, das sie auf jeden Fall noch schaffen wollten, bevor sie sterben. Dazu gehörten die selbst gemachten Abschiedskarten für die engsten Freunde und auch die Kapitel „Carlotta und der Krebs Teil III & IV“ des Buches.

Dieser Zeitdruck übertrug sich auch auf ihre Umgebung. Sie konnten nicht verhindern, dass sie durch den eigenen Stress auch andere Menschen mit in diesen reinzogen. Gerade weil sie beim Schreiben mehr und mehr auf die Hilfe von Torge und Laura angewiesen waren.

Torge half Carlotta beim Schreiben der Texte, tippte diese meist für sie ab und half es einigermaßen chronologisch richtig aneinander zu bringen. Denn es war einfach alles sehr sehr viel. Nicht nur für Carlotta & Co selbst, sondern auch für die anderen sehr nahen Personen.
 
Laura machte, wie schon seit Beginn der Webseite, die Korrekturen (inkl. Rechtschreibung, Formulierung und Grammatik) der großen neuen Textabschnitte, das Einfügen der Texte auf der Webseite, die Verwaltung der Seite, Gästebucheinträge und hatte auch den Großteil der Korrespondenz mit dem Webmaster bewältigt, und sich komplett fachlich in das Gebiet der Webseitenverwaltung eingearbeitet.
Und man bedenke, all dies als Freundin, die nicht nur DIESEN Belastungen unterlag, sondern auch mit ihren eigenen Themen zu kämpfen hatte, die denen von Carlotta & Co sehr ähnelten.
Und natürlich der Belastung, bald eine sehr gute Freundin zu verlieren und diese zu begleiten.

Trotz der hochstressigen und hochchaotischen Situation, die vorrangig Carlotta & Co und Torge betraf, müsste man es von außen betrachtet wohl aber doch durch die Hilfe, Hilfsbereitschaft, Unterstützung und Zuwendung ihrer Liebsten und Freunde als den Umständen entsprechend geordnet bezeichnen können. Carlotta & Co hatten viel gelesen, wie Freunde, Familie und Bekannte in anderen Fällen oft reagiert hatten. Nämlich mit Rückzug… teilweise sogar Trennung von Eheleuten 🙁

 
Immer und immer wieder wurde Torges und Carlottas Umgang miteinander gelobt und auch das Verhalten des Umfeldes, sowie die Planung all dessen. Ja, man muss zugeben: Mit Corona, den Regeln und besonders den Regeln für das Hospiz (Besucher) war es ziemlich kompliziert.

Carlotta & Co formulierten es immer wieder so: „Ich hab halt tolle Freunde und Menschen in meinem Leben gesammelt.“

Sie bekamen so viel Unterstützung von zum Beispiel

– Laura (die neben der Unterstützung am Buch natürlich (wie oben erwähnt) hauptsächlich als Freundin Carlotta & Co aus der Ferne auf dem letzten Weg begleitete)

– Ute (durch Besuche, Einkaufsdienste – 🙂 vorrangig Säfte und Saftschorlen, um daraus das heißbegehrte Saft-Crushed-Ice herzustellen, oder kästchenweise Kinderwassereis – Wäsche waschen, Gespräche am Telefon),

– Bea (als stützenden Telefon- und Videokontakt, gofundme-Erstellerin) 

– Nika (die auch als Freundin jederzeit erreichbar, und trotz Entfernung immer irgendwie nah war. Und auch sie besorgte, wie so ziemlich jeder, Säfte, Schorlen in unterschiedlichster Art)

– Amy und Falkon (die auch bereit waren jederzeit etwas einzukaufen oder auch Wäsche zu waschen, zu helfen wo sie konnten)

– Insa und Frido (die Henry sitteten, einkauften, sich um die Wohnung von Carlotta und Torge kümmerten, bei Besuchen mit Massagen halfen, und auch immer erreichbar waren)

– Herr Willenbrink (der 2x pro Woche ins Hospiz kam), der gerade zu dieser Zeit unabdingbar und unersetzbar war, um das „Schiff nicht zum kentern zu bringen“. Einen groooßen Teil psychisch, aber auch menschlich. Auch er brachte immer mal wieder etwas mit. Mit Kleinen wurde Kniffel gespielt, Eis gegessen, Kuchen, den er mitgebracht hatte, verspeist.

Jetzt muss hier mal erwähnt werden, dass Carlotta & Co das „Schlemmen“, wie sie es immer nannten, dann ganz wichtig wurde.

– Dagny (auch sie half mit Einkäufen, Besuchen, regelte Bankgeschäfte, und begleitete Carlotta & Co, soweit es in ihrer Funktion als ambulante Betreuerin möglich war, und auch etwas darüber hinaus)

– Fiona, Rike und Rikes Freund (die trotz großer Entfernung und auch vorheriger längerer Kontaktlücke einen wichtigen, stützenden Stellenwert einnahmen, und dies durch wirklich außergewöhnliche Besuche über die lange Strecke, Videocalls und immer wieder überraschende Geschenklieferungen ihre Präsenz an Carlottas Seite zeigten)

Ein Auszug aus dem Tagebuch klingt so. In ihm wird das vorherig hier erwähnte noch mal sehr deutlich:

„Was für eine Zeit. Was in den letzten Tagen alles so war, vorgefallen ist, verletzt hat, was da JETZT auszuhalten ist, und was da alles organisiert werden muss. Erstmal all das, was man so zum Alltäglichen braucht. Im Moment ganz heiß im Kurs: Getränke unterschiedlichster Art und Geschmacksrichtungen zum Einfrieren in Eiswürfelform um dann als Crushed-Ice verspeist zu werden, oder als Saft, gegebenenfalls Saftschorle mit Eiswürfeln. Denn alles was kalt ist geht irgendwie besser. Auch Wassereis ist momentan immer der Renner.
Und Essen haben wir wieder neu entdeckt. Was heißt essen… wohl eher wir schlucken es nicht runter, sondern kauen nur, und spucken es wieder aus.
Anders geht es ja nicht. 🙁
Aber wir haben so Bock auf leckere Sachen, wollen den Geschmack haben.
Wir haben es SCHLEMMEN genannt …hihi.


Letztens haben Insa und Frido zum Besuch Essen aus nem Imbiss mitgebracht. Wir wollten unbedingt eklige, fettige Imbisspommes essen. Wow, das war soooo geil. Insa, Frido und Torge haben sich halbtot gelacht, wie wir uns auf die Pommes gestürzt haben. Wir haben es aber auch echt genossen. „Pommes sind frittierte Sonnenstrahlen“ wurde da zu unserem Tagesmotto.:)

Jetzt haben wir beschlossen, dass wir sowas öfter machen wollen. Auf unserem Wunschzettel stehen noch chinesisches Essen, Grieche und leckere Pizza.

Wir sind sooo froh, dass wir so tolle Freunde haben, die uns so viel möglich machen. Ohne die Freunde, die wir ständig mit Einkaufsaufträgen losschicken wären wir hier echt am Arsch. Da wäre die Auswahl echt begrenzt. Aber Ute, Insa, Frido, Amy, Falkon und sogar Herr Willenbrink bringen immer wieder was vorbei. So lieb.

Und wo wir gerade bei Freunden sind, was würden wir bloß ohne Laura machen? Sie macht sich so viel Arbeit mit unserem Buch. Das würden wir alles gar nicht mehr schaffen. Dabei hat sie selbst gerade so viel um die Ohren, so viel Mist an den Hacken. Und ich kann ihr nicht mal was zurückgeben. 🙁 Manchmal weiß ich dann echt immer nicht, ob ich noch Wünsche äußern kann oder das unvernünftig/unverschämt gegenüber dem anderen jeweils ist.
Ach…. Ich sag ja immer: Bitte nichts verändern im Umgang miteinander… aber irgendwie passiert das automatisch. Echt kompliziert manchmal… bzw. eher nicht manchmal sondern ganz schön oft.

Ute oder Amy und Falkon kommen auch immer her, und holen unsere Wäsche ab, und bringen die dann sauber wieder. Obwohl sie nicht mal hier rein dürfen, um uns zu besuchen. Und sie machen das trotzdem. Ach man, die Corona-Regeln sind doch echt beschissen. Wir würden gerne alle sehen können, nicht nur ausgewählte Leute. Zwar sagen alle, sie verstehen es, dass Herr Willenbrink und Insa und Frido auf der Besucherliste stehen. Aber wir fühlen uns damit trotzdem scheiße. Als würden wir den anderen sagen: „Ihr seid nicht so wichtig.“ Das ist doch Mist.

Aber Herr Willenbrink kann auf keinen Fall von der Besucherliste runter. Den brauchen wir gerade sehr dringend. Er kommt ja zwei Mal pro Woche her. Ist ja auch genug zu bearbeiten. Wir könnten wohl locker auch vier Termine in der Woche füllen.

 Naja, und Insa und Frido sind halt auch wichtig, alleine schon weil sie Henry haben. Da kann man ja wohl kaum sagen, dass sie uns gerne Henry bringen können, aber nicht rein dürfen.

Wie sollen wir denn allen gerecht werden?

Wir müssen auch unbedingt noch so viel schaffen, aber wissen nicht, wieviel Zeit wir noch haben. Das macht so einen Druck. Torge tut mir auch voll Leid, denn der kriegt das oft mit ab. Aber ich kann nicht anders. Wie soll ich das alles schaffen? Ich kann das nicht mehr alles alleine.“

Kurz nach diesem Tagebucheintrag schafften Carlotta & Co es, die Abschiedskarten für die engsten Freunde fertigzustellen. Das freute sie sehr, und beruhigte sie auch ein bisschen. Allerdings war da immer noch der Druck, das Buch, beziehungsweise die aktuellen Teile, fertig zu bekommen. Denn gerade jetzt passierte so viel, es veränderte sich so viel, das MUSSTE doch mit rein. Gerade aus dieser Zeit könnte man so viel weitergeben, so viel lernen. So blieb also die Zufriedenheit über die fertigen Karten nur kurz, bevor das Buch den vorherigen Druck wieder herstellte.

Carlotta & Co merkten immer mehr, dass ihnen die Zeit davon lief. Der körperliche Verfall war immer deutlicher zu sehen, womit sie schwer umgehen konnten. Regelmäßig baten sie Torge darum, Fotos zu machen. Torge war da eher unwillig, sträubte sich immer etwas, gerade weil er Carlottas Reaktionen auf die Fotos schlimm fand, und es ihm weh tat, das zu sehen, aber es war Carlotta & Co so wichtig. Sie brauchten das um ihren Zustand zu realisieren.

Ein schlimmer Beweis für den körperlichen Abbau war ein Abend in der Badewanne. Sie hatten es sich richtig schön gemacht im Badezimmer. Wieder Kerzen an, die Wandlampen gedimmt, Musik dabei. Torge war zum Helfen mit. Sie hatte extra den Badezusatz von Nika mit runter genommen, weil der so gut gerochen hatte und weil sie dann ganz stolz davon erzählen wollte und weil sie immer darauf bedacht war, auch immer viel Gutes zu berichten, um es den anderen so leicht wie möglich zu machen.


Das Baden tat auch gut, war richtig schön, …
bis es wieder aus der Wanne rausgehen sollte. Carlotta merkte, dass ihre Beine nicht so mitmachen wollten, wie sie hoffte. Sie kam alleine nicht mehr hoch.
Torge versuchte ihr zu helfen, aber Carlotta wurde so verzweifelt, so hysterisch, dass gar nichts mehr möglich war. Vielleicht wäre es im ruhigen Tonfall und Planung zu diesem Zeitpunkt noch gegangen… !? Wer weiß… aber es war wirklich laut, hektisch und chaotisch…
dass durch ihr lautes Weinen plötzlich zwei Schwestern vor der Tür standen, um zu gucken, ob alles in Ordnung sei.
Die beiden halfen Carlotta dann aus der Wanne, halfen beim Abtrocknen und Anziehen. Diese Situation hatte ordentlich Eindruck hinterlassen. Carlotta & Co waren schockiert, dass der Körper einfach nicht machte, was er sollte. Schon so schwach zu sein, machte ihnen Angst. Und diese Erniedrigung machten ihnen zu schaffen, obwohl damit echt normal, gut, beruhigend und umsorgend umgegangen wurde. Allein Carlotta& Co hatten ein Problem damit!!!

Dabei war das Baden doch eigentlich anders gedacht gewesen. Carlotta & Co wollten sich, oder besser gesagt dem Körper, mal was Gutes tun. Denn der Körper hätte auch mal Zuwendung vertragen können. Ihnen wurde in dieser Zeit immer bewusster, was für ein Wunderwerk so ein Körper eigentlich war. Er tat immer seinen Dienst, beschwerte sich fast nie, hielt immer alles im Lot, obwohl man nicht immer gut mit ihm umging. Das wollte Carlotta dem Körper eigentlich mal zurückgeben.

Mitte Januar entschieden Carlotta & Co sich dazu, es noch einmal mit der parenteralen Ernährung zu versuchen. In der Hoffnung, dass es doch noch ein wenig mehr Kraft in den Körper geben würde. Sie wussten, das würde am Verlauf der Erkrankung nichts mehr ändern, aber hofften eben, dass sie für die letzte Zeit noch kräftiger werden würden, und im Idealfall vielleicht noch ein paar Tage rausschlagen könnten. Alles darüber hinaus wäre unrealistisch gewesen.

Am ersten Tag musste die Ernährung schon nach ca. 25 Minuten abgebrochen werden. Sie bekamen sofort starke Krämpfe und Schmerzen. Aber sie wollten es mindestens drei Mal versuchen, um ein Gesamtbild zu bekommen.

Der zweite Versuch am nächsten Abend lief viel besser. Sie stellten sich die Pumpe für die Nahrung auf eine ganz kleine Geschwindigkeit ein, und setzten eine Grenze von 200 ml für den Anfang. Und siehe da, es klappte ohne Probleme. Freude!!!

Abend Nummer drei wurde dann wieder wie am zweiten Abend gemacht, und klappte auch wieder sehr gut.

So versuchten Carlotta & Co es am vierten Abend mit einer kleinen Erhöhung. Statt 200 ml über 5 Stunden wollten sie nun 250 ml über 5 Stunden probieren. Leider mit wenig Erfolg. Das war ihrem Körper scheinbar schon wieder zu viel, so dass der Versuch wieder abgebrochen werden musste. Das machte sie sehr traurig.

Zwei Tage ging es Carlotta & Co nach diesem vierten Versuch schlecht. Da fassten sie dann einen Entschluss. Sie würden von nun an nichts mehr versuchen, was zur Zeitverlängerung gedacht wäre. Der Kampfmodus sollte eingestellt werden. Stattdessen sollte es von jetzt an darum gehen, den Körper nicht weiter zu stressen, sondern nur die Symptome zu lindern, es aushaltbar zu machen. Sie würden jetzt an der Akzeptanz arbeiten.
Hierzu verfassten sie einen Brief an das Pflegeteam, um ihre Entscheidung mitzuteilen:

Liebes Team,

diese Nacht hatte ich folgende Erkenntnis…

Es ist so wichtig für mich das mitzuteilen, weil ich mich doch immer wieder dabei „erwischt“ habe, dass ich nach „Auswegen“ durch Kämpfen gesucht habe. Es ist ja sicher kein Geheimnis, dass ich immer alles unter Kontrolle haben will.

Aber heute wurde mir klar:

Ich verschwende Energie und Kraft in Dinge, die nicht realistisch sind. Und das möchte ich nicht mehr. Ich möchte z.B. keine parenterale Ernährung mehr, die nach dem Scheitern mit der Erhöhung, mich bisher zwei Tage „kostet“. NEIN. Ich glaube, ich bin angekommen.

Ich/wir haben gekämpft, gekämpft, gekämpft > wissen aber auch nun, wo wir loslassen müssen… und wollen nun nur noch gucken: Was brauchen wir, damit es uns bis zu unserem Versterben möglichst gut geht!? Nur das möchten wir im Fokus behalten. Ansonsten wollen wir dieses „krampfhafte, starre“ Kämpfen vorbei wissen! Wir wollen loslassen und den Körper mit der Krankheit das tun lassen, was natürlich ist.

Dies ist mir wichtig mitzuteilen, und Euch bitten, mich notfalls nochmal dran zu erinnern – da es mir bestimmt am Anfang schwerfallen wird, da ich mein Leben lang IMMER nur gekämpft habe.

WIR ROCKEN DER GRÖSSTEN SCHEISS,
ABER WISSEN DANN AUCH ZU AKZEPTIEREN,
WANN ES HEISST LOSZULASSEN

Bei Besuchen zu dieser Zeit hatten Carlotta & Co immer die Angst, dass sie sich vielleicht zum letzten Mal verabschieden würden. So nahmen sie sich für jeden Besuch beim Abschied besonders Zeit noch ein paar Worte zu sagen, Danke zu sagen, Wichtiges noch auszusprechen, damit nichts ungesagt bleiben würde, falls es wirklich das letzte Treffen gewesen sein sollte. Das war hochemotional, aber auch komisch, da es mit den Symptomatiken, Verfassungen und Energiereserven, die angezapft werden konnten, so sehr schwankte.


Insgesamt ging es aber deutlich, deutlich abwärts.


Und alle, denen vom Personal Fotos von z.B. Bayern oder dem Hof/Eheneuversprechen mit entsprechenden Datumsangaben zeigten, waren auch erschrocken WIE schnell das nun ging.

Sie versuchte, dem entgegenzusetzten mit  vielen Freunden über Skype oder Messengerdienste mit Videofunktion zu reden, sie draußen auf der Terrasse zu treffen für 45 min…. etc… Das ersetzte zwar nicht die realen Treffen, war aber bei der begrenzten Besuchsmöglichkeit eine noch gut hinzunehmende Alternative.

In einem Tagebucheintrag im Januar ist diese Zeit so zusammengefasst:

„Es ist weiterhin alles so unwirklich. Irgendwie spüre ich so ziemlich nichts, andererseits hab ich das Gefühl, so, so, so, so, so überfüllt zu sein mit Gefühlen. Was alles noch muss, was ich weglassen kann (oder muss wegen der Zeit), ich hasse dieses Wort „Prioritäten“. Und ich hasse manche Aussprüche von wegen „mach nur das, was Dir gut tut“. Woher soll ich das denn vorher wissen? Mein Körper funktioniert halt nicht mehr so, wie ich es gewohnt bin, und wie ich es einschätzen könnte. Es ist mehr so ein Tappen im Dunkeln.

Dieses versuchte Baden letztens, das war auch wieder mal so ein Beweis. Ich hab mich mordsmäßig überfordert und es nicht gemerkt. Körperwahrnehmung… pfff!


Es ist oft zum Brüllen, Schreien, Heulen,…. Da will man sich verkriechen… alle sollen weg bleiben. Man will nur Ruhe.
Dann will man wieder nur Reden am liebsten. Alles berichten… es loswerden.
Dann will man nur liegen und Kuscheln und Liebe tanken.
Dann will man dies und das noch…

Und dann fühlt man sich so als MÜSSTE man dies und das noch.
Ich wiederhole mich ständig… aber genau das, was ich gerade mache: Buchschreiben. Festhalten. Aufschreiben. Damit etwas bleibt, dass es nicht umsonst war, dass etwas für irgendwen vielleicht noch herausziehbar ist. Denn ich glaube so viel gibt es zum Thema DIS und Trauma und Sterben nicht und was da so alles passiert.

Es fallen uns so viele Themen/ Widersprüchlichkeiten/ Verwechslungen/ alte Muster/Erinnerungen vor die Füße, die von ihrem Umfang eigentlich einzeln und gründlich bearbeitet werden müssten.
Besonders schwer ist, wenn Themen aus unterschiedlichsten Gewaltkontexten, in denen wir uns befanden ab Baby bis heute, sich dann heute in völlig eigentlich unverfänglichen z.B. Pflegesituationen oder Hilfeleistung abreagieren und wir dem völlig ausgeliefert sind… und dann der Rattenschwanz anfängt mit schlechtem Gewissen, sich schämen, nicht normal sein, IMMER anders zu sein … blaaa blubbb

Und wenn wir dann irgendwo reingerutscht sind, dauert das gerade echt lang, um da wieder rauszukommen. Keine Ahnung wann genau, denn mein Zeitempfinden und die Chronologie sind völlig im Arsch im Moment… als ich im Bad war, hoch kam, wir uns völlig überfordert hatten und das aber zu Ende führen wollten (weil das ging, genug Reserven da waren), war da aber nun NIX absolut NIX mehr da. In Verbindung eines erschreckenden Blickes in den Spiegel (Thema Verhungern/Magersucht/verlorene Weggefährten auf dem Ausstiegsweg und dann Frieren später beim Verbandswechsel (plus schmerzende Cortisonhaut) und keine geschafften 2 Stufen hoch zum Rolli… fertig.. für 2 Std nicht ansprechbar.


Das Bild/Flash/Erinnerung in Dauerschleife: 3jähriges Ich in Kinderprostitution Situation mit ca 60 jährigem Freier…Unterleibsschmerz 1 zu 1, durch Kälte/Angst/… der realen Situation… Frieren: Übereinstimmung mit real und früher… und immer wieder diese Sätze: Abhängigkeit/ Ohnmacht/ Schwäche schadet nur… Es gibt keine Gnade.
Und all das wurde natürlich durch das KKH gefördert.
Denn was wurde da gezeigt? ->Selbst wenn das so sein sollte, dann tu ich nichts und lass dich da liegen (-> da fallen uns nun unzählige unschöne Trainings-Situationen und Beobachtungssituationen von Täterseite ein.


Oder auch, dass sie Torge null mehr angehört und zugehört haben (dass wir Schmerzmittel – und zwar JETZT BRAUCHTEN UND NICHT ERST NE HALBE STUNDE SPÄTER – und er uns völlig entsetzt und hilflos ausgeliefert verlassen musste wg. Coronaregeln.

Und solch ein Thema an sooo vielen Stellen.
Wir haben mit Herrn Willenbrink schon einige erkunden können. Und das ist echt perfide manchmal.

Schlimm… einfach nur schlimm.


Vertrauen/Misstrauen

Kontrolle/Kontrolle abgeben

Kampf- Funktionsmodus/Fassade

Loslassen

Ohnmacht/Macht

Hilfsbedürftigkeit, Abhängigkeit

Und diese Lebensthemen scheinen mir SOOO RIIIIEEESIG! Alles schwankt und bebt. Im Innen ganz viel Bewegung.
Und der Körper dagegen, wird immer schwächer und kleiner und dünner. Man könnte meinen, er hätte Magersucht. Ungelogen. Das sieht so schlimm aus. Diese Fotos, die ich dann immer brauche zur Dokumentation und Realisation, was da gerade passiert. Denn es ist zu schlimm, um es ständig im Kopf zu haben… die gute alte Dissoziation 😉 Ich seh echt aus wie schlimmste ProAna Bilder oder KZ Opfer 🙁

Aber dann gibt es auch ständig diese Gefühlsausbrüche (wie oben erwähnt), die wir dann nicht kontrollieren müssen. Dann holen die Schwestern immer ganz zuverlässig Torge, der uns dann wieder reguliert oder zumindest dabei bleibt und dann beruhigt wieder geht, wenn alles ok ist. Ich glaube das Personal lernt auch sehr viel, findet das gut und interessant, mal dieses neue Gebiet kennenzulernen.


Der leitende Arzt, der nebenbei auch Palliativ-Mediziner ausbildet, möchte nun sogar unsere Website dafür benutzen, auch dieses Feld dort mal zu eröffnen.! Ist das nicht klasse? Wie weit das gestreut wird? Sowas freut uns dann immer ungemein! SINN SINN SINN… das zumindest halbwegs hinzubekommen, das ist von Wichtigkei,t und dass etwas bleibt.

Das mit dem Podcast, was da ja noch angedacht ist/war, dauert nun wohl doch noch etwas länger, was uns schon sehr enttäuscht. Wir hoffen aber trotzdem, es irgendwie noch hören zu können. Mal schauen.


Zuerst hieß es ja „Seien Sie mal froh einen schönen Frühling zu haben (2020)“, aber bei Ihnen kann ich mir Weihnachten vorstellen!“, bei Selbst-Recherche im Netz gefunden „Durchschnittliches Überleben ohne Chemo 3, mit Chemo 6 Monate, dann vom Gastroenterologen  „Es gibt auch welche mit 1-2 Jahren. Aber es sind eher wenige Monate (gesagt März 2020), in Bayern „Bestimmt 1 Jahr (folgend, ab Aug/Sept 2020), wenn er uns in 3 Monaten noch mal wieder sehen könnte – im Verlauf!“


Wir versuchen, uns immer neue, kleine Ziele zu stecken… und ich glaube, das tut uns auch gut.

Auch wenn es echt anstrengend ist.


Mit Torge ist es in all dem auch immer mal wieder schwierig und verlangte schon so einige Therapiestunden. Wir hocken hier sehr dicht aufeinander. Einerseits ja gut und richtig, dass er hier ist, und unabdingbar, denn ich wüsste echt nicht wo ich sonst wäre!? Gibt’s sowas wie ne psychiatrische/onkologische Station??
Andererseits ist durch unser Hiersein – auf dieser von den Grundvoraussetzungen wirklich perfekten Station – nicht alles gleich mit einem Fingerschnippen gut.
Im Punkt Partnerschaft und Belastung: Zwar hat sich unsere Beziehung schon wieder etwas erleichtert, dadurch dass Torge hier viel abgeben kann, und so die partnerschaftliche Rolle wieder deutlicher wird. Aber so richtig zu 100 % klappt das trotzdem nicht. Ich schicke ihn durch die Gegend, und gleichzeitig hab ich ein schlechtes Gewissen.


Naja, und halt natürlich die Belastung dadurch, dass er seine Frau bald verlieren wird. Ich glaube, anzugucken ist das Ganze auch nicht so nett, wie es mir so geht, wie ich zerfalle,… und im Umgang sicher auch nicht. Denn ich zicke schon … merk ich selbst… kann es aber selbst kaum regulieren. Ist insgesamt einfach viel zu viel in zu kurzer Zeit.


Es geht nämlich echt ganz schön abwärts. Wir haben jetzt mit Herrn Willenbrink auch besprochen, dass Torge seine Pausenzeiten bekommt. Dann haben wir noch eine rote Karte eingeführt, wenn wir uns gegenseitig mal wieder nerven und anzicken. Dann sollte Torge möglichst regelmäßig entlastende Gespräche mit dem Team oder dem Seelsorger führen.
Denn er darf nicht kaputt gehen.
Ich hab ihn doch so lieb.
Genau das gleiche gilt für Laura. Da mach ich mir auch oft Gedanken, wie da noch mehr Schutz geht irgendwie… aber so richtig bekomm ich das nicht hin.

Mein Hirn setzt mittlerweile auch oft aus. Und glaubt mir… DAS ist kein Zuckerschlecken wenn man so ein verkopfter Mensch ist und sich darüber versucht Hilfe gegenüber Ohnmachtsgefühlen, Hilfsbedürftigkeit, Abhängigkeiten, eigenen Grenzen zu holen  … allgemein gesagt KONTROLLE.
Wenn man dann merkt, das wird nun rasant schnell weniger und weniger und weniger – obwohl es noch auch noch etwas hoffnungsvoll hochkommt – trotzdem geht es insgesamt rasant abwärts.

Oft kann ich nur noch mit Augen zu daliegen und nichts tun. Nur liegen, hören, ab und zu was sagen und das wars dann auch.
Wasser/Crushed Ice …

Diese großen, vorhin erwähnten Themen, die dann auch jeweils oft ne Verknüpfung haben, sind echt heavy:


Nehmen wir das Thema Gnade und Schwäche, und was dahinter steckt.

Früher war Schwäche immer ein Wort für Abhängigkeit, drohende Machtausübung anderer = Gefahr. Keine Gnade. Egal in welcher Situation. Viel mehr ein extrem bedrohliches Feld von alten Tätersätzen, -Gesetzen, und nie anders ge- und erlebten Mustern von „Du gehörst nur mir.“, „ Wir sind deine richtige Familie.“ Und von der Normalität ausgeschlossen, dort je wieder einen Platz zu finden. Und werden wir heute öfter mal gefragt „Boah, wie hast Du das denn geschafft? Das wirkt für mich alles so nicht machbar.“, da kann ich immer nur sagen „Es geht alles nicht auf Fingerschnippen. Das ist eine falsche Hoffnung. Oft hab ich erlebt, dass die Veränderung und die Zielsetzung erst beim MITEINANDER arbeiten entstehen.“

Und genauso verhält sich das bei anderen großen Themen. Grenzen – Grenzüberschreitungen.

Dort können und konnten wir die nächsten großen Themen, Vertrauen und Misstrauen, ja fast schon parallel mit bearbeiten. Denn wie kann man diese vier Themen denn eigentlich voneinander trennen?

Genauso wie Kontrolle und Kontrolle abgeben da mit hinein gehören in diesen riesigen Komplex.

Nun nochmal kurz zum Thema Gnade, Stärke, Schwäche, Ohnmacht, Macht.

Was steckt dahinter? Welche Situationen kennen wir jeweils zu diesen Begrifflichkeiten? Was fällt uns da alles gerade auf die Füße und vermischt sich? Was ist davon jetzt (-orientiert) und welches ist davon alt (nicht orientiert) und eher im Rahmen von Flashbacks, Erinnerungen? Fühlt sich aber dennoch deckungsgleich wie zwei Projektionen an.

Nehmen wir an, es geht um einen durch den Krebs ausgelösten, massiv starken Darm-Unterleibskrampf. Da ist es durchaus und seit des Krankenhausaufenthaltes vermehrt (wegen der frischen Verwundbarkeit, und eventuell auch durch die herabgesetzten dissoziativen Barrieren) möglich, dass es sich eins zu eins so anfühlt, und man sich vorkommt als läge ich alias xy unter nem 60jährigen Freier, und es zerreißt mich unter- und innerhalb schier. Das war jetzt nur ein Beispiel für viele solcher Dinge, die gerade parallel zu allem, was sonst noch da ist passieren. Mit dem Unterschied, dass ich das an dieser Stelle schon einigermaßen analysieren konnte. Denn ganz viel geht einfach kreuz und quer.

Dann das nächste. Wo es viel um riesige Ohnmacht gegenüber dem Schmerz ging. Man damit aber auf der einen Seite im KKH alleine gelassen wurde, aus uns erstmal nicht erklärbaren Gründen, wir immer wieder damit alleine gelassen wurden, trotz Flehen, Schreinen, um Hilfe rufen. Und sogar Torges sonst immer sehr hilfreiche Durchsetzungskraft keinerlei Wirkung zeigte, und er uns wegen der doofen Corona-Regeln obendrauf nach festgelegter Zeit verlassen musste. Das waren solche Zeiten, wo bei uns im System wieder einige Brüche entstanden bzw. vorher schon genutzte Innies noch mehr mobilisiert wurden. Auf der anderen Seite stand dann nämlich für deckungsgleiches Gefühl, Ohnmacht und liegen lassen, gezwungenes Aushalten von Schmerz, eine riesige erschaffene Hilfsbedürftigkeit (erschaffen durch Täter), künstlich erzeugt, um wieder irgendetwas entweder direkt in einer Trainingssituation oder auch so nebenbei, um immer wieder klar zu machen „Schau, ich habe dich aus dieser Hilfsbedürftigkeit, Ohnmacht herausgeholt, bin dein Retter, bin deine einzige Hilfe.“ Hilfe ist auch immer eine perfide Art von Bindung. Oftmals gestalten die Täter es so, dass der Täter gar nicht als Täter zu erkennen ist. Besonders dann nicht, wenn der „gerettete“ Anteil ein anderer ist, als der Anteil, der in die Situation hineingebracht wurde.

Und heute und hier bietet sich die Chance, bieten sich die Chancen, all das wo man früher dachte, „oh mein Gott, das sind unüberwindbare Hürden, die wir nie übertreten werden, die wir nie verändern können“,  zu sagen „DOCH“.

Ich hätte euch gern detaillierter, analysierter und gründlicher, so wie es sich mir derzeit darstellt, aufgeschrieben, und bis ins kleinste nachvollziehbar formuliert. Doch dazu bleibt keine Kraft mehr. Ich spüre es. Deshalb muss ich es bei wenigen Worten belassen. Hier, in diesem Hospiz (ich muss dazu sagen, dass ich glaube, dass es schon an der obersten Schwelle von „gut“ zu bewerten ist), hatte sich ja gezeigt, dass sie von Anfang an offen sind für Individualität und „Traumagedöns“. Hier werden Worte wie „selbstbestimmtes Handeln“, „eigene Entscheidungen“, „Freiwilligkeit“ noch groß geschrieben, und dass es keine gezwungene Unterwerfung mehr gibt, und dadurch etwas leichter ist, alte frühere Tätergesetzmäßigkeiten abzulegen. Hier werden Achtsamkeit, Bewusstheit, Mut, Hoffnung, sogar ein wenig Trotz, Selbstwertgefühl, Selbstachtung und Selbstrespekt bis -liebe wirklich noch groß geschrieben und unterstützt.“

Es war eine wirklich turbulente Zeit für Carlotta & Co. Mittlerweile war der Januar schon über die Hälfte vorüber. Und es ging ihnen von Tag zu Tag schlechter. Die Schwäche wurde mehr, der Körper baute weiter ab.

Im letzten Drittel des Januars verließen Carlotta & Co die Kräfte immer mehr. Bis hierhin waren sie außerhalb des Zimmers schon überwiegend im Rollstuhl unterwegs. Nur zum Toilettengang gingen sie noch manchmal, mit Unterstützung von Torge, zu Fuß. Doch an einem Vormittag, als sie im Zimmer umher liefen, und sich ein paar Sachen zusammensuchen wollten, verließen sie plötzlich die Kräfte. Sie gerieten aus dem Tritt, verloren das Gleichgewicht, und stürzten. Ungebremst, weil sie nicht mehr in der Lage waren sich abzufangen, fielen sie rückwärts zu Boden. Dabei schlugen sie auch noch mit dem Kopf auf dem Standfuß eines Tisches auf. Das Resultat waren starke Schmerzen im Steißbein und ein kleiner Cut am Hinterkopf.

Nun war es also soweit. Carlotta & Co mussten sich eingestehen, nicht mehr alleine gehfähig zu sein. Dieser Schock musste erstmal verarbeitet werden. Sie besprachen sich zuerst mit Torge, und beschlossen, dass sie ab jetzt nur noch im Rollstuhl unterwegs sein würden, auch im Zimmer. Eine schwierige Sache, sich dies eingestehen zu müssen.

Nachmittags gab es sogar noch einen weiteren Vorfall. Torge wollte die Betten neu beziehen. Er machte erst seine Seite fertig, damit Carlotta dann rüberrutschen konnte, während er ihr Bett neu bezog. Allerdings gerieten Carlotta & Co beim Seitenwechsel auch aus dem Gleichgewicht und fielen aus dem Vierfüßler-Stand nach vorne. Zwar nur auf dem weichen Bett, aber sie fielen so unglücklich, dass sie mit einer Hand an den Port kamen, und diesen dabei „umknickten“. Das tat ihnen sehr weh. Außerdem machte sie die Situation sehr verzweifelt. Sie weinten fast schon hysterisch. Zu bemerken, dass die Kontrolle über den Körper verloren geht, war sehr schlimm für sie. War doch Kontrolle eins ihrer Hauptbedürfnisse. Kontrolle bedeutete Sicherheit. Kontrollverlust bedeutete Ausgeliefert-Sein.

Schon am nächsten Morgen folgte noch ein Sturz. Carlotta & Co wollten sich im Bett auf die Bettkante setzen. Sie kamen allerdings ein wenig ins Rutschen, und konnten sich nicht abfangen. So rutschten sie von der Bettkante, und fielen auf den Boden. Wieder hysterisches Weinen, Angst und Fassungslosigkeit über den schwindenden Körper. Sie mussten einsehen, auch beim Aufsetzen mussten sie von nun an Hilfe bekommen. Es wurde zu riskant etwas alleine zu versuchen.

Das Umsetzen vom Bett in den Rollstuhl war jedes Mal mit Angst und Unsicherheit verbunden. Carlotta & Co hatten immer Angst, dass sie trotzdem fallen würden, dass man sie nicht richtig festhielt. Bei einigen wenigen Schwestern war das durchaus nachzuvollziehen, schon anhand der körperlichen Statur. Manche empfanden sie auch als zu „grob“, da die Haut von Carlotta & Co durch das Cortison immer empfindlicher wurde, und auch vorsichtige Berührungen schon schmerzhaft werden konnten. Am wohlsten war ihnen immer, wenn Torge das Umsetzen übernahm.

Carlotta & Co konnten sich mit diesem Gedanken nur sehr schwer anfreunden. Sie wollten sich so gerne ihre Selbstständigkeit erhalten, wollten nicht auf andere angewiesen sein. Und jetzt mussten sie nach allem fragen, was sie brauchten, und konnten sich nichts mehr selbst holen. Es tat ihnen leid und weh, dass sie nun auch Torge wieder mehr rumschicken mussten. Es war doch so schön, dass er bis dahin wieder mehr zu Ruhe kommen konnte, nicht mehr der Pfleger oder Bedienstete sein musste. Und nun mussten sie ihn doch wieder mehr einspannen.

Ende Januar stand der Geburtstag von Carlotta & Co an.

Sie hätten gar nicht gedacht, dass sie es bis dahin schaffen würden, aber nun war es in greifbarer Nähe.

Schon in der Zeit davor mussten sie sich oft mit der Frage beschäftigen, was sie sich denn wünschen würden. Viele Freunde fragten nach Wünschen für Geschenke. Für Carlotta & Co war das eine ziemlich schräge Situation. Was sollte man sich denn wünschen, wenn man weiß, dass man es ja nicht lange nutzen wird? Sie kamen aber auf eine gute Idee. Für ihr Wohlbefinden wünschten sie sich viele kuschelige Sachen, Armstulpen bzw. Pulswärmer, weiche Mützen, eine weiche Kuscheldecke, weiches Bettzeug, Wollsocken. Dies wäre, auch für kurze Zeit, etwas sehr Sinnvolles.

Da der Geburtstag bedingt durch Corona nicht richtig gefeiert werden konnte, mussten sie sich neue Strategien für diesen Tag ausdenken. So ging es also in die Planung.

Mit dem Leiter des Hospizes wurde besprochen, inwieweit ein Entgegenkommen von deren Seite an diesem Tag möglich wäre. Es wurde sich darauf geeinigt, dass als Ausnahmeregelung drei Personen zum Gartenbesuch kommen könnten. Mehr würde nicht gehen. Das war aber für alle Seiten in Ordnung. Am meisten freuten sie sich, dass als Ausnahme für den Geburtstag erlaubt wurde, Henry nicht nur für eine, sondern für zwei Nächte bei sich im Hospiz zu haben. So konnten Carlotta & Co, Torge und Henry als kleine Familie gemeinsam den Tag verbringen.

So wurden die Leute dann aufgeteilt. Mit Dagny trafen Carlotta & Co sich schon am Freitag vor dem Geburtstag, und „feierten vor“. Dagny brachte Kuchen mit, Kaffee/Tee gab es vor Ort aus der Küche. Da Dagny nicht auf der offiziellen Besucherliste stand, lief auch dieses Treffen wieder als Gartenbesuch ab. Egal, Hauptsache man konnte sich sehen. Allerdings mussten Carlotta & Co den Besuch schon nach etwa 30 Minuten abbrechen, da es sie zu sehr anstrengte die ganze Zeit im Rollstuhl zu sitzen.

Am Samstag kamen Insa und Frido um Henry zu bringen.

Mit Ute gab es dann am Sonntag einen Gartenbesuch. Auch dieser war wieder sehr schön für diese Bedingungen. Aber auch hier musste kräftebedingt vorher abgebrochen werden. Es ging einfach nicht mehr, so lange zu sitzen. Carlotta & Co drohten auch immer einzuschlafen oder wegzukippen.

Am Montag dann der eigentliche Geburtstag. Dieser war relativ eng getaktet.

Um 11 Uhr gab es ein Videotelefonat über Skype mit Laura. Carlotta & Co tat es immer sehr gut, Laura wenigstens auf diese Art sehen zu können.

Am frühen Nachmittag stand dann der Gartenbesuch der drei Leute an. Sie hatten sich für diesen Besuch ihre Wunschfamilie, Fiona, Rike und Rikes Freund ausgesucht, die den langen Weg gerne auf sich nahmen.

Da sich die letzten Besuche im Garten als sehr anstrengend erwiesen hatten, hatten Carlotta & Co beschlossen, diesen langen Besuch nicht im Rollstuhl zu machen, sondern sich mit dem Bett runter bringen zu lassen. So konnten sie Kraft sparen.

Der Besuch war für sie unheimlich schön, bewegend und einfach wohltuend. Rike und Fiona hatten alte Fotos rausgesucht, und mitgebracht. Mit deren Hilfe ließen sie noch einmal alte Erinnerungen an schöne Urlaube aufleben.

Das Wissen, dass sie ihre Wunschfamilie nun aber sehr sicher zum letzten Male sehen würde, machte den Abschied aber umso schwerer. Dementsprechend emotional wurde dieser Abschied dann auch.

Nach diesem Besuch gönnten Carlotta & Co sich eine kleine Verschnaufpause. Sie waren nun schon ziemlich erschöpft. Aber etwa eine Stunde später sollten ja schon Insa und Frido kommen, die Henry wieder abholen wollten/sollten. Die beiden blieben in etwa eineinhalb Stunden, bevor sie wieder nach Hause fuhren. Es folgte ein schwerer Abschied. Carlotta & Co hatten das Gefühl, sie würden sich nun wirklich zum letzten Mal von Insa, Frido und auch von Henry verabschieden. Denn ihr Gefühl sagte ihnen, dass sie nicht mehr viel Zeit hätten. Nach vielen Tränen fuhren Insa und Frido mit Henry nach Hause. Sie mussten sich beeilen, denn für 20.30 Uhr war eine große Geburtstags-Skype-Konferenz mit Carlotta & Co angedacht, an der sie teilnehmen sollten.

So sahen Carlotta & Co dann abends Insa und Frido im Skype-Videochat wieder, bei dem auch Nika und Amy und Falkon dabei waren.

Was für ein Tag! Schön, aber auch sehr anstrengend.

Am nächsten Tag war dann auch nicht mehr viel machbar für Carlotta & Co. Die Erschöpfung des Vortages nahm sich ihren Raum, so dass sie fast den ganzen Tag verschliefen.

Für den frühen Abend war noch Herr Willenbrink angemeldet. Mit ihm wollten sie, neben der Therapiestunde, noch etwas nachfeiern.

Der Besuch lief allerdings etwas anders als geplant, aber nicht schlechter. Eine Schwester der Spätschicht kam kurz vor Herrn Willenbrinks Besuch aufgeregt in Carlotta & Cos Zimmer. Sie wusste von dem geplatzten Wunsch der Bucket-List, der abgesagten Strandkorbübernachtung. Die Schwester sagte, heute sei der Himmel sternenklar, und fragte, ob Carlotta & Co nicht mit dem Bett auf die Terrasse geschoben werden wollten. Gesagt, getan. Schnell wurden genug Decken eingepackt, und das Bett auf die Terrasse geschoben. Herr Willenbrink war mittlerweile auch angekommen. Er nahm sich einen Gartenstuhl, und setzte sich dazu, während Torge zu Carlotta & Co ins Bett krabbelte. So genossen sie dann zu dritt den Sternenhimmel, und unterhielten sich. Nachdem Herr Willenbrink gegangen war, blieben Carlotta & Co mit Torge noch etwas eine halbe Stunde alleine draußen. Es war echt schön.

Am Folgetag wurde eine weitere Sache erledigt, die für sie sehr wichtig war. Carlotta & Co beschrifteten ihre Urne, in der sie beigesetzt werden würden. Es war ihnen ja ein Bedürfnis, die aktuelle Anzahl der Anteile auf der Urne zu verewigen. Denn wie sonst sollten denn alle miteinander auf dem letzten Weg gewürdigt werden? Es war ein gutes Gefühl, nun den Systemnamen und die Zahl auf der Urne zu sehen.

Auch am Buchtext arbeiteten sie unablässig weiter. Der Druck, das Kapitel „Carlotta und der Krebs IV“ fertig zu bekommen nahm nicht ab. Es sollte doch noch so viel rein, es gab noch so viel zu sagen. Gerade jetzt passierte innen und außen doch so viel, was unbedingt weitergegeben werden sollte, erhalten bleiben sollte.

Einen Tag später stand das nächste große Ereignis an. Torge hatte vor kurzem Kontakt mit dem Wünschewagen des ASB aufgenommen. Dieses Projekt ermöglicht es, getragen durch Spenden und ehrenamtlichen Mitarbeitern, sterbenden Menschen noch einen letzten Wunsch zu erfüllen, noch einmal einen Ausflug zu machen.

Leider gab es bei der Auswahl des Ausflugszieles wieder Schwierigkeiten durch Corona. Gerne hätten Carlotta & Co ein großes Aquarium wie z.B. das Sea-Life besucht. Ging natürlich nicht, weil wegen Corona geschlossen. Auch ein Besuch in einem Tierpark, den Torge durch Ausflüge von seiner Arbeitsstelle kannte, war aus denselben Gründen nicht umzusetzen. Eine weitere Überlegung war, ein letztes Mal an den Strand zu fahren, an dem sie in den letzten Jahren so schöne Urlaube verbracht hatten. Ging allerdings auch nicht, da kein geeigneter Rollstuhl im Wünschewagen transportiert werden konnte. Spezielle Strandrollis sind zu groß und wuchtig für diesen Wagen. Nun denn, es war ja nicht so, dass es keine anderen Möglichkeiten gegeben hätte.

Carlotta & Co entschieden sich dann für den Ferienhof, auf dem sie im Sommer waren, und im Herbst ihr Eheneuversprechen zelebriert hatten.

Am Donnerstag war es dann soweit. Der Wünschewagen kam und holte Carlotta & Co und Torge ab.

Das Team des Wünschewagens war super. Alle drei waren sehr nett, sehr engagiert, und freuten sich, die Wünsche umsetzten zu können.

Auf dem Ferienhof angekommen war schon die Begrüßung ganz herzlich. Vorne am Stall hatte die Besitzerin die Tür mit Luftballons geschmückt. Auf der Tafel, die sonst die Zeitangaben der Reitstunden anzeigt, war ein Herz gemalt, in dem die Initialen von Carlotta, Torge und Henry standen.

Zuerst wurden Carlotta & Co mit der Krankentrage in den Stall gefahren, wo sie ihr Lieblingspferd und noch zwei andere Pferde kuscheln und füttern durften. Ein Highlight!

Nach dem Stall ging es in das Ferienhaus der letzten beiden Urlaube, wo auch die Feier des Eheneuversprechens stattgefunden hatte. Auch das Häuschen war sehr liebevoll hergerichtet. Im gesamten Wohnzimmer flogen schwarze, mit Helium gefüllte Luftballons, auf dem Tisch standen belegte Brötchen, Kuchen, Kaffee und Softdrinks. Carlotta & Co waren so gerührt, was sich die Hofbesitzerin und ihre Freundin für eine Mühe gemacht hatten.

Als sie dann auch noch ein selbstgeflochtenes Armband, aus den Schweifhaaren ihres Lieblingspferdes geschenkt bekam, konnten sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

Doch der Tag war ja noch nicht zu Ende. Nachdem sich alle gestärkt hatten (Carlotta & Co aßen natürlich wieder ohne zu schlucken), wollten sie noch zum Strand aufbrechen. Also wurden alle Luftballons in den Krankenwagen gebracht. An einige Ballons hatten die Anwesenden Zettel befestigt, auf denen sie ihre Wünsche geschrieben hatten. Diese sollten am Strand in die Luft steigen.

Vorher sollte allerdings noch das Liebesschloss, das sie zur Neuvermählung geschenkt bekamen, an „ihrem“ Ferienhäuschen angebracht werden. Torge erklomm die bereitstehende Leiter, und schlug am Giebel eine Krampe ins Holz, woran das Schloss befestigt wurde. So würde nun für immer das Schloss ihrer Liebe an ihrem Herzensort hängen, und an sie und ihre Liebe erinnern. Wer weiß, vielleicht würden die Hofbesitzer von nun an jedem Gast von ihnen erzählen, wenn sie gefragt werden, was denn das für ein Schloss sei.

Als Platz am Strand hatten die Gastgeber natürlich auch nicht irgendeinen Ort ausgesucht. Nein. Sie fuhren mit dem Wünschewagen direkt an den Platz, an dem die Zeremonie der Neuvermählung stattgefunden hatte. Rückwärts, bis an die Sandkante heran.

Zuerst blieben Carlotta & Co im Wagen auf der Trage liegen, mit geöffneten Hecktüren. Der nächste Schritt war, dass die Trage herausgezogen und ein paar Schritte in den Sand gebracht wurde. Nun ließen sie die Luftballons mit den Wünschen steigen, und blickten ihnen hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

Dann wurde die Trage abgesenkt, so dass sie den Sand mit den Händen berühren konnten. Dieser Moment war wieder sehr emotional. Als sie den Sand in den Händen hatten, mussten sie heftig weinen. Es wurde ihnen so bewusst, dass sie genau jetzt definitiv zum letzten Mal am Strand waren, zum letzten Mal Sand in den Händen haben würden, dass sie Abschied vom Strand und Meer nehmen mussten. Torge setzte sich zu ihnen auf die Trage, und die Helfer zogen sich etwas zurück, um diesen Moment nicht zu stören.

Nach einiger Zeit, die sie so da saßen, wollten Carlotta & Co aber mehr. Sie wollten ein letztes Mal richtig am Strand sitzen. Das Helferteam ging also zur Wasserkante, und breitete eine wasserdichte Unterlage und eine Decke aus. Dann halfen Torge und der Rettungssanitäter Carlotta & Co auf die Decke. Carlotta & Co saßen so nun, in einige Decken eingemummelt, direkt am Ufer. Eine Weile mit Torge zusammen, dann wollten sie es noch ein bisschen alleine genießen. Torge zog sich zu den Helfern zurück, um Carlotta & Co diesen Moment zu geben.  Sie legten sich auf der Decke zurück, und genossen das Rauschen und Plätschern des Wassers, die Rufe der Möwen, und das Gefühl von Sand unter sich.

Bevor es wirklich zu kalt wurde, und auch zu dunkel, denn die Sonne ging bald unter, ließen Carlotta & Co sich wieder in den Wagen bringen. So wurde dann die Rückfahrt angetreten, die Carlotta & Co fast vollständig verschliefen.

Zurück im Hospiz, und wieder in ihrem Bett war der Tag für Carlotta & Co dann auch vorbei. Der Ausflug hatte so viel Kraft und Energie gekostet, dass nun nur noch schlafen angesagt war. Torge verteile derweil die mitgebrachten Ballons im Zimmer. Die meisten band er am Bett über Carlotta & Co fest, so dass es schon fast aussah wie auf einem Kindergeburtstag. Die kleinen Innies fanden es auf jeden Fall super.

Später, als die Nachtschwester ins Zimmer kam, bekamen Carlotta & Co ihr Gefühl, dass sie nicht mehr lange leben würden, im Gespräch quasi bestätigt. Es war die Lieblingsschwester von ihnen, die an diesem Tag Nachtschicht hatte. Sie erzählte Carlotta & Co, dass sie nach diesem Dienst nun 10 Tage Urlaub hätte, und sich gerne verabschieden wollte, weil auch sie nicht glaubte, dass sie Carlotta & Co danach noch wiedersehen würde. Bisher ließ sich ja nie jemand darauf ein irgendwelche Prognosen abzugeben. Aber nun wurden die Aussagen des Pflegepersonals also doch schon deutlicher. Natürlich würde sich niemand hinreißen lassen, eine genaue Zeitangabe zu nennen, das ist ja auch nicht möglich. Aber dass sie, nach der Vermutung der Schwester, in 10 Tagen nicht mehr leben würde, war schon Aussage genug.

Tags darauf schliefen Carlotta & Co erst wieder viel. Bis zum Nachmittag brauchten sie wirklich viel Ruhe. Die ganzen Tage zuvor hatten viel Kraft gekostet. Aber jeder einzelne Punkt war es Wert, etwas Kraft zu lassen.

Nachmittags kam noch Herr Willenbrink zu Besuch. Und in dieser Sitzung ergab sich eine Sache, die für Carlotta & Co so unendlich wichtig war.

An ihrem Wohnhaus in Schlausbüttel hatten sie vor Jahren die Möglichkeit bekommen, dass Rosen gepflanzt werden sollten, wenn sich Mieter finden, die die Pflege der Blumen übernehmen würden. Das Angebot kam von einer Initiative zur Verschönerung der Straße oder des Stadtteils. Carlotta & Co sahen darin eine Gelegenheit, als Andenken an zwei kleine Seelen, die den Weg leider nicht geschafft haben,  weiße und rote Rosen pflanzen zu lassen, und sich um diese zu kümmern. Nun, da sie sterben würden, und Torge alleine die Wohnung nicht mehr würde halten können, musste eine Alternative her. Die Rosen am Wohnhaus würden sicher verkümmern und eingehen, weil sich nun niemand mehr richtig um sie kümmern würde. Dies hatten sie seit der Krebs-Erkrankung schon bemerkt. Je weniger sie selbst die Blumenpflege leisten konnten, umso schlechter ging es diesen. Das Problem war also, wo können neue Rosen in weiß und rot hin, die auch eine gesicherte Pflege bekommen würden. Torge würde das nicht mehr übernehmen können, da er sicherlich kein Haus mit Garten haben würde.

Herr Willenbrink versprach ihnen jedoch, er würde als Andenken an diese zwei kleinen Seelen eine weiße und eine rote Rose in seinem Garten einpflanzen. So würde es weiterhin einen Platz für die beiden geben, der gesichert wäre, und gepflegt werden würde. Es musste etwas bleiben. Carlotta & Co waren so erleichtert. Das war ein sehr wichtiger Punkt, den sie unbedingt noch gesichert wissen mussten. Unter Tränen erzählten sie nach der Sitzung Torge davon.

Und nun war schon wieder Wochenende. Wider Erwarten konnten Carlotta & Co sich doch nochmal auf eine Übernachtung von Henry freuen. Frido brachte ihn ins Hospiz. Da die Beschränkungen wegen Corona noch einmal verschärft wurden, und ohne frischen Test niemand das Hospiz betreten durfte, konnte Frido Henry leider nur an der Tür an Torge übergeben. Frido hatte es leider nicht einrichten können, zum Test zu kommen, da er arbeiten musste. Daher also die fast kontaktlose Übergabe an der Tür. Schade. Aber wenigstens konnte Henry überhaupt da sein.

Carlotta & Co waren noch immer sehr müde. Im Laufe des Tages schliefen sie immer wieder ein. Sie konnten es kaum noch beeinflussen, dass ihnen ständig die Augen zufielen. Sie kuschelten viel mit Henry, der ihnen Ruhe und ein gutes Gefühl gab.

Da es in der Nacht geschneit hatte waren die Kleinen aber ganz aufgeregt. Sie wollten unbedingt einen Schneemann bauen. Am Nachmittag war nochmal ein Termin mit Herrn Willenbrink vereinbart. Der sollte dabei sein. Denn die Kleinen wollten gerne versuchen, die dunklen Kinder zum Schneemann bauen einzuladen, sie mit teilhaben zu lassen. Und da war es doch bestimmt besser, wenn Herr Willenbrink dabei wäre. Er könnte ja notfalls eingreifen, falls es Unstimmigkeiten geben würde.

So musste Torge Carlotta & Co nachmittags also wieder in den Rollstuhl setzen, und in den Garten rausfahren. Dort wasserdichte Unterlagen auf dem Rasen ausgelegt, eine zusammengeklappte Wolldecke drauf, und Carlotta & Co raufgesetzt. Nun konnten sie ihren Schneemann bauen. Da der Schnee aber nicht richtig klebrig war, wurde es nur ein ganz kleiner Schneemann. Doch besser als keiner. Als alles fertig war, und Carlotta & Co wieder auf dem Zimmer waren, waren sie auch wieder sehr erschöpft. Sie verschliefen den Rest des Tages.

Der nächste Tag war auch überwiegend vom Schlaf bestimmt. Carlotta & Co versuchten immer am Buch zu arbeiten, im Selbsthilfeforum zu schreiben, konnten aber die Augen nie lange offen halten. Immer wieder schliefen sie vorm Laptop ein. Eigentlich schliefen sie bei allem immer ein. Ob nun mit einem Glas in der Hand, mit dem Handy in der Hand, oder eben vor dem Laptop.

Am späten Abend, nachdem Henry auch schon abgeholt wurde, war nochmal eine Schwester im Zimmer, die die abendlichen Medikamente geben wollte. Auch ihr fiel auf, dass Carlotta & Co fast nur noch schliefen, auch mitten im Gespräch einschliefen, einen Satz begannen, ihn aber nicht beendeten, weil ihnen die Augen zufielen. Sie beobachtete Carlotta & Co eine Weile, als sie wieder eingeschlafen waren, und sagte dann plötzlich: „Das war aber jetzt ein Atemaussetzer.“ Torge stimmte ihr zu, und berichtete, dass er dies schon seit ein paar Tagen beobachtet hätte. Imme,r wenn Carlotta & Co schliefen, atmeten sie sehr wenig. Am ersten Abend hatte er noch Angst, dachte jedes Mal „Ist sie jetzt gestorben?“, aber dann merkte er, dass dies scheinbar nun der neue Zustand war, und die veränderte Atmung nun eben so war, aber Carlotta & Co nicht störte oder sich negativ auf ihr Befinden auswirkte. So konnte er damit umhegen, und sprach es gar nicht beim Personal an. Die Schwester erklärte ihnen dann, dass dieser Atemrhythmus auf den eingesetzten Sterbeprozess hindeuten würde. Auch äußerlich sähe sie einige Anzeichen, die auf ein baldiges Versterben hindeuten würden, z.B. Hautverfärbungen an bestimmten Stellen.

Carlotta & Co gerieten in Panik. Es war doch noch gar nicht alles fertig, es gab doch noch so viel zu tun. Auf die Urne müsste noch ein zweites + gemalt werden, da sich in den vergangenen Tagen eine neue Gruppe Anteile gezeigt hatte, die dafür zuständig waren, Dinge wie das KKH zu überstehen, aber auch dafür, andere Menschen nicht zu überfordern. Der Anteil, der Torge das berichtete, sagte, er beobachte Torge schon lange, und wisse genau, dass dieser auch sehr leide. Aber sie würden immer versuchen, ihm so viel wie möglich abzunehmen.

Auch ein Problem war, dass die Mutkette nicht auf dem aktuellen Stand war. Das müsse unbedingt noch gemacht werden.

Und das Buch! Das Buch, bzw. „Carlotta und der Krebs IV“ müssen doch noch fertig.

Torge und die Schwester versuchten Carlotta & Co zu überzeugen, dass dies jetzt nicht vorrangig wichtig wäre. Der Schwester war wichtig, dass sie sich Ruhe gönnen. Torge sagte, für ihn stehe jetzt an erster Stelle, dass sie die restliche Zeit noch die Zweisamkeit, die Nähe genießen sollten. Aber da hatten sie die Rechnung ohne Carlotta & Co gemacht. Denen war es so unheimlich wichtig, dass alles fertig ist, dass sie keinen Blick für anderes hatten. Fast hätten Torge und sie sich darüber noch gestritten. Carlotta & Co gingen sogar so weit, dass sie Insa fragen wollten, ob sie noch kommen würde, um dabei zu helfen das fertig zu kriegen. Oder Herrn Willenbrink. Mit viel Überzeugungsarbeit versprach Torge ihnen, am nächsten Tag das Buch, die Mutkette und die Urne fertigzustellen. Dann konnten sie sich letztendlich doch einigermaßen beruhigt hinlegen und schlafen.

Der nächste Tag war von Schlaf geprägt. Die Wachphasen hielten nicht länger als ein paar Minuten am Stück an. Torge saß neben ihnen, und versuchte die erdrückenden Dinge zu beenden. Carlotta & Co sollten auf keinen Fall mit diesem Druck gehen. Alles, was jetzt zählte war, ihnen die nötige Ruhe zum Loslassen zu verschaffen.

Torge schaffte es an diesem Tag tatsächlich, die Zeit bis zu diesem Moment aufzuschreiben. Allerdings musste er die Mutkette und die Beschriftung der Urne erst einen Tag später erledigen, da die Arbeit am Buch doch sehr viele Stunden in Anspruch nahm. Aber Carlotta & Co waren auch nicht mehr wach, so dass sie den Druck vorerst nicht spürten. Abends wachten sie dann doch wieder auf, und freuten sich, als Torge ihnen erzählte, dass das Buch, die Mutkette und die Urne fertig seien. Sie ließen sich von Torge den neu geschriebenen Text vorlesen, und freuten sich, dass er fertig war.

Auch die Urne sahen sie sich an. Es war ein erleichternder Moment für Carlotta & Co. Die wichtigsten Dinge waren erledigt.

Leider machte sich jedoch bemerkbar, dass der Körper und der Geist immer mehr abbauten. Carlotta & Co waren zwar wieder wach, aber sie waren die meiste Zeit nicht klar. Sie redeten teils sehr verwirrt, schienen sogar leicht zu halluzinieren, denn sie sprachen über Dinge, die Torge nicht nachvollziehen konnte. Wenn sie z.B. sagte „Die Ballons da“, und dabei in die leere Zimmerecke zeigte, war das für Torge schon seltsam.

Die Wachphase hielt ca. eineinhalb Tage an. Wie schon erwähnt, mit eher wenigen wirklich klaren Momenten. Aber es war in Ordnung. Carlotta & Co waren zwar teilweise etwas „anstrengend“, aber es ging ihnen nicht schlecht, das war die Hauptsache.

Auch Herr Willenbrink kam noch einmal zu Besuch. Er versuchte mit Carlotta & Co in dieser Sitzung zu erarbeiten, wie sie es schaffen könnten loszulassen, das Sterben zuzulassen, den Kampf niederzulegen. Einige interessante Ansätze kamen in der Sitzung durch. Auch wenn Carlotta & Co nicht mehr so gut folgen konnten, ihre Notizen in der Sitzung wohl eher als „wirr“ beschrieben werden konnten. Sie nahmen trotzdem viel aus dem Gespräch mit.

Man kann natürlich nicht sagen, dass es durch die Sitzung mit Herrn Willenbrink nun plötzlich gut und leicht wurde. Nein. Der Kampfwille in ihnen war immer noch da. Sie hatten nunmal von Anfang an gelernt, immer zu kämpfen. Das schaltet man nicht mal eben so einfach ab. Dennoch blieb die Hoffnung, dass sie noch einen Weg finden würden, friedlich zu gehen.

Nach den eineinhalb wachen Tagen fielen Carlotta & Co wieder in den Schlaf. Sie wurden am nächsten Tag noch einmal wieder wach, weil die Physiotherapeutin zu ihnen kam. In dieser Physioeinheit sahen sie durch das Fenster, dass es in dicken Flocken schneite. Sie kamen sofort auf die Idee „Wir wollen raus in den Schnee.“

Die Physiotherapeutin ging zu den Schwestern, und erzählte von dem Wunsch. Auch das war hier im Hospiz wieder kein Problem. Die Physio kam zurück ins Zimmer und erzählte Carlotta & Co, dass es gleich losgehen würde. Das Lächeln auf Carlotta & Cos Gesicht war unbeschreiblich.

So wurden sie dann in ihrem Bett, dick in mehrere Decken eingepackt, nach draußen in das Schneetreiben geschoben. Sie genossen es sehr. Eine Viertelstunde lagen sie in ihrem Bett im Schnee. Dann überzeugten die Schwester und Torge sie allerdings, dass es besser wäre, jetzt wieder aufs Zimmer gebracht zu werden, bevor Bett und Bettzeug total durchweichen würden. Sie sagten: „Ich würde es zwar noch einen Moment aushalten, aber es ist okay.“

Es ging also zurück ins Zimmer, wo die Decken erstmal getauscht wurden. Dann schliefen sie ein.

Von nun an waren Carlotta & Co nicht mehr ansprechbar. Sie schliefen jetzt nur noch, und wurden nicht mehr richtig wach. Es war zwar zu merken, dass sie wahrnahmen, was um sie herum passierte, hörten, was man ihnen sagte. Aber sie konnten nicht mehr antworten. Man konnte an der Mimik aber erkennen, dass sie nicht ganz weg waren, sondern immer mal auf das Gesagte reagierten. Torge blieb die ganze Zeit an ihrer Seite. Nur wenn er mal zum Rauchen oder ins Bad ging, waren sie alleine. Aber Torge sagte ihnen immer wohin er ging, und begrüßte sie jedes Mal, wenn er wieder ins Zimmer kam. Sie sollten sich halt nicht erschrecken, sondern wissen, dass er wieder da war. Da er merkte, dass sie sehr wohl noch viel wahrnahmen, redete er auch viel mit ihnen.

In einer Nacht wachte Torge davon auf, dass Carlotta & Co neben ihm stöhnten. Er versuchte einzuschätzen, was los war. Hatten sie Schmerzen? Hatten sie Angst? Träumten sie vielleicht schlecht? Schwer rauszufinden, wenn jemand es nicht sagen kann. So klingelte Torge nach der Nachtschwester.

Gemeinsam kamen sie zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich Schmerzen waren, die sie gerade so unruhig werden ließen. So bekamen sie ein Morphin gespritzt. Aber nach ca. einer halben Stunde hatte es sich noch immer nicht gebessert. Sie bekamen also noch einmal Morphin hinterher. Diesmal aber auch Buscopan dazu, denn Carlotta & Co schienen auch Krämpfe zu haben. Sie waren sogar dazu in der Lage einmal „Ja“ zu sagen, als die Schwester die Hand auf den Bauch legte, und fragte, ob sie hier Schmerzen hätten.

Auch ein Beruhigungsmittel wollte die Schwester ihnen noch geben. Damit wären alle eventuellen Ursachen der Unruhe abgedeckt gewesen. Doch Carlotta & Co wehrten sich dagegen. Sie hatten den Arm so liegen, dass die Schwester nicht an den Zugang kam, und gaben ihn auch nicht wieder frei. Ein klares Zeichen dafür, dass sie sehr wohl noch ansprechbar waren, und auch noch genau wussten, was sie wollten, und was nicht. Auch wenn sie es nicht mehr mit Worten äußern konnten.

Am nächsten Tag ging Torge zum Schwesternzimmer. Er fragte, ob es nicht möglich wäre, die Schmerzmedikation in der dauerhaften Pumpe zu erhöhen. Da seit dem Vortag auch Carlottas Bauch wieder viele Geräusche machte, da also irgendwas wieder angefangen hatte zu arbeiten, vermutete er, dies würde auch die Schmerzen auslösen. Damit sowas wie in der Nacht zuvor nicht nochmal passierte, wollte er gerne die Dosierung erhöhen lassen. In ihren letzten Tagen sollten sie nicht noch in solche Zustände kommen. Eigentlich wollte er auch das Beruhigungsmittel gerne erhöht haben, aber er vergaß danach zu fragen. Auch bei ihm hinterließ diese schwere Zeit Spuren, und er war auch oft nicht auf der Höhe.

Torge sagte den Schwestern bei seinem Anliegen auch ehrlich, dass er zwar wisse, dass die dauerhafte Erhöhung der Medikamente nicht in Carlotta & Cos Sinne wäre (sie wollten immer so gering wie möglich dosieren, und notfalls mit Bedarf arbeiten), er aber der Meinung wäre, jetzt wäre der Zeitpunkt, wo man ihnen ersparen müsse erst in solche Schmerzen oder Angstzustände reinzukommen. Gerade weil sie es nicht mehr selbst äußern konnten, und man in solch einer Situation dann erraten müsse, was sie gerade für ein Problem hatten.

Die Schwestern besprachen sich umgehend mit dem Arzt, und kamen zu denselben Schlüssen wie auch Torge. Die Dosierung in der Pumpe wurde erhöht. Nicht nur das Morphin, sondern auch das Midazolam. Das beruhigte Torge sehr, gerade weil er vergessen hatte, auch nach dem Beruhigungsmittel zu fragen. Nun war relativ sicher, dass Carlotta & Co nicht mehr in akute Schmerz- oder Angstzustände geraten würden.

Am nächsten Tag hatte Torge morgens das Gefühl, es verändere sich etwas. Er war sich nicht sicher, aber irgendwie meinte er zu merken, dass es bei Carlotta & Co nicht mehr lange dauern würde. Klar, er war da eh überängstlich, hatte schon in der Vergangenheit sehr oft gedacht, das wäre es jetzt gewesen. Diesmal war es aber anders. Er sagte morgens zu Carlotta & Co dass gegen 10 Uhr Henry gebracht werden würde. Zwar würde Henry diesmal nicht über Nacht bleiben, aber er würde für etwa eine halbe Stunde hochkommen. Leider ohne Insa und Frido, denn sie konnten keinen aktuellen Coronatest vorweisen, wodurch sie nicht reinkommen durften. Sie würden dann auf dem Parkplatz warten, oder eine Runde spazieren gehen.

Gegen 10 Uhr nahm Torge dann unten an der Tür Henry in Empfang. Er ging mit ihm ins Zimmer hoch, und setzte ihn mit den Worten „guck mal wen ich Dir hier mitgebracht habe“ zu Carlotta & Co ins Bett. Henry legte sich seitlich von ihnen hin, so dass er an ihnen dran lag, Torge holte sich einen Stuhl heran, und setzte sich vors Bett. Er konnte so gleichzeitig aufpassen, dass Henry ruhig liegen blieb, und dass er nicht vom Bett fallen würde, und konnte Carlotta & Co ins Gesicht sehen, und ihren Kopf streicheln.

Torge nahm Carlotta & Cos Arm unter der Decke vor, und legte ihn auf Henrys Rücken, damit sie ihn spüren konnten. Da waren dann plötzlich Tränen in ihren Augenwinkeln zu sehen. Sie bekamen also auch jetzt noch genau mit, was um sie herum passierte.

Als hätten Carlotta & Co nur auf diesen Moment gewartet, ging dann plötzlich alles ganz schnell. Torge bemerkte, dass sich ihre Atmung nochmals veränderte. Es war kein angestrengtes Atmen, kein Zeichen von Kampf um Luft, sondern ganz entspannt. Trotzdem wusste Torge, jetzt ist es soweit. Er streichelte ihnen weiter den Kopf, redete leise und beruhigend auf sie ein. „Ich bin da“, „Es ist okay“, „Ihr dürft loslassen“, „Macht Euch keine Sorgen, ich werde klarkommen“ und gefühlte tausend Mal „Ich liebe Dich“. Noch einmal bildete sich eine kleine Träne in Carlotta & Cos Augenwinkel. Dann machten sie die Augen auf, sahen Torge noch einmal an. Torge sagte ihnen noch einmal, dass er sie liebte, die Augen gingen wieder zu, und sie hörten einfach auf zu atmen. Ganz ruhig, ganz unspektakulär. So oft hatten sie davon gehört, wie das sogenannte Todesrasseln sich vorm Sterben anhören würde, dass Sterbende noch ein letztes Mal tief Luft holten… nichts von all dem passierte. Nein, sie hörten einfach nur auf zu atmen.

Jetzt hatten sie es also geschafft.

Das waren die ersten Gedanken von Torge. Sie hatten es geschafft, sie mussten endlich nicht mehr leiden und kämpfen. Jetzt dürfen sie Ruhe haben.

Er war sehr froh, dass der Moment des Sterbens so ruhig und friedlich gewesen war. So sehr hatte er es ihnen gewünscht, so viel Angst hatte er, dass es nicht so sein würde. Aber sie waren friedlich gegangen. Ein kleiner Trost in all der Schwere.

So endet nun also die viel zu kurze Geschichte von Zeitmemorys wilder Reise. Gerne hätte ich ihnen, hätte ich euch ein Happy End präsentiert. Doch leider sind wir nicht im Märchen, sondern in der Realität. Das Leben von Carlotta & Co war hart, es war kurz, aber sie haben nie aufgegeben, haben sich ein Leben, so wie sie es sich erhofft hatten, aber nie vorstellen konnten, erkämpft, und es intensiv gelebt. Die glücklichen Zeiten waren im Verhältnis zu den schweren Zeiten viel zu kurz, aber dafür umso wichtiger. Wenigstens die letzten Jahre konnten sie noch erleben, was es heißt, ein „normales“ glückliches Leben zu führen, mit Liebe und tollen Freunden.

Wenn dieses Buchprojekt auch nur einem einzigen Menschen da draußen Mut und Hoffnung geben kann, dann hat es sich schon gelohnt, Carlotta & Cos Weg aufzuschreiben. Ihnen war immer wichtig, dass ihr Weg nicht umsonst gewesen ist, dass etwas bleibt. Und genau das passiert hier. Dieses hier bleibt, und im Idealfall hilft es sogar anderen Menschen weiter.

Doch nicht nur das hier bleibt. Carlotta & Co haben überall viel mehr Eindruck hinterlassen, als sie selbst dachten. Kein Mensch, der sie kennen lernen durfte, wird sie vergessen. Sie haben Spuren hinterlassen. In ihren liebsten Menschen leben sie weiter.