Wieder auf der geschlossenen Station
Nach der Ankunft auf der Station hatte Carlotta gleich das Aufnahmegespräch mit Herrn Ahlfeld.
Sie unterschrieben beide den vorbereiteten Vertrag und legten fest, dass die ersten Wochen, besonders über die Feiertage, erst einmal zur Probe wären. Er bat Carlotta, für ihn eine aktuelle Anteilsliste zu erstellen und berichtete, dass er nun für 2 ½ Wochen in Urlaub gehen würde. Carlotta und ihr Team sollten diese Zeit zum Eingewöhnen nutzen und schauen, was intern so passierte in selbstgewählter Sicherheit.
Schon in den ersten Tagen auf Station zeigte sich deutlich, was intern geschah. Carlotta und einige Anteile des Alltagsteams waren zwar hoch motiviert, Herrn Ahlfeld zu beweisen, dass sie es schaffen wollten. Und dies nicht ohne Hintergedanken… nein, sie wollten beweisen, dass sie sich an die Regeln halten konnten, um möglichst schnell auf die offene Station wechseln zu können. Doch allein die Angst zu versagen, die geschlossene Umgebung, die Regelungen des Vertrages, die Mitpatienten, die erzwungenen Treffen auf andere Leute z.B. bei den Mahlzeiten, der Medikamentenausgabe, den angebotenen Therapien, die ewigen Trigger und nicht zuletzt die Auswirkungen der Feiertage machten es arg schwer, ihren Zustand zu halten. Carlotta stand so unter Druck, dass vermehrte Bulimie, mehr Bedarf an Medikation daraus resultierte und Carlotta verzweifelt Stunde für Stunde ihre Fertigkeiten nutzen musste, um nicht destruktiv und unkontrolliert zu werden.
Mist! Ich glaube das Pflegeteam bemerkt, wie schlecht ich das gehalten bekomm. Das Schlimmste neben dem ganzen Hiersein sind die Drohungen und Zwänge von innen… ich hab wirklich Angst. Der eine Pfleger hat mir gerade angeboten, in den Überwachungsbereich zu wechseln. Doch, NEIN! Es darf einfach nicht sein, dass ich den sicheren und leichteren Weg über den Ü-Bereich gehe. Denn was soll denn Herr Ahlfeld denken? Ich darf nicht aufgeben. Es geht uns wirklich einfach nur scheiße, aber das darf es nicht! Und ich darf niemals ehrlich sein. Wir müssen das einfach anders schaffen, über Skills, über Ablenkung, über erhöhte Medis. Und wir müssen unbedingt Möglichkeiten finden, wie wir gegen die Suizidgedanken, Selbstverletzungs-Zwänge und Kontaktaufnahme-Zwänge (zu Tätern) ankommen.
Als dann auch noch durch die Arbeit an der Persönlichkeitsliste eine ganze Reihe von neuen Anteilen mit ihren Erinnerungen auf Carlotta einstürzte, wurde sie immer schwächer und schwächer. Obwohl sie sich auch gleichzeitig dafür hasste, so schwach zu sein, bat sie das Pflegeteam einfach kommentarlos, alle langen Sachen, mit denen es möglich gewesen wäre, sich zu strangulieren, wegzuschließen.
Schleier der Medikation umhüllt den Blick, macht die Lider schwer und verändert den Kampf… irgendwie. Man selbst ist ein müdes Irgendwas in diesem Kampf. Hirnlos, müde, schwer und langsam. Doch ändert es nichts an dem Eigentlichen: Ich will leben! Ich will es schaffen! Teile fordern Taten und Zwänge und ich bin müde. Die Angst, zu müde zu sein, macht es schwer, Ablenkung und Beruhigung zu finden. Die Selbstzerstörung lauert und ich habe den Zwang, auf der Linie zu bleiben, sonst ist alles verloren. Der Wille kämpft das Muss. Es gibt nur noch Untergang oder Glück. Die Seelen brennen tief im Inneren. Flucht vor den Erinnerungen. Alpträume werden geträumt, Lügen werden erklommen. Es gibt scheinbar nur noch Feind – kein Freund. Kein Ende abzusehen, alles bewegt sich im Kreis. Die Münder hauchen ihr bitteres Flehen, alles liegt leblos… und ich bin müde. Mühsam rotiert die Welt, was geschieht nach diesen Stunden? Kein Lichtstrahl am Horizont. Wer wird das Neue begrüßen? Ich bin mir sicher: Nur der, der sich entkommt, in der Flucht vor der Erinnerung und unserer Realität. |
Als Urlaubsvertretung hatte Carlotta eine Kollegin von Herrn Ahlfeld und musste sich, gezwungen durch ihren Zustand, öffnen. Sie konnte all das nicht länger allein tragen. Die Vertretungstherapeutin arbeitete mit Carlotta an sicheren Orten für die neu aufgetauchten Anteile.
Mit den neuen Erinnerungen und den Neuen komme ich ganz und gar nicht klar. Es haut mich regelrecht um. Dazu sag ich Scheiße! Scheiße, wenn sowas noch obendrauf kommt, wenn ich es eh kaum geregelt krieg und ich aber beweisen muss, dass wir das schaffen. Und dann steck ich da mitten in den Bildern von Gräbern und Leichen, von Ekeltrainings und heißen Herdplatten, von Trainings durch Täter und Stromanwendung… und irgendwer erzählt mir was vom sicheren Ort. Pfff. Sicher? Was ist denn schon sicher? Ich frag mich ob irgendwer von uns dieses Gefühl je gekannt hat oder kennt!? Und jetzt auch mal ganz weg von dieser Sicheren-Ort-Geschichte. Was ist denn schon sicher an diesem Aufenthalt hier? Die Dunklen drehen am Rad und es bedarf nur einer kleinen Unachtsamkeit und wir fliegen hier im hohen Bogen raus. Die Konditionierten und Programmierten drehen am Rad, und bei denen wüsste ich noch nicht mal, ob wir deren Reaktion überleben, wenn sie einsehen, dass sie ihre Aufgaben nicht erfüllen können. Ja, und was ist denn sicher, wenn ich das nicht im Griff habe? Das eh ungeeignete Wohnheim wird uns wohl auch nicht mehr aufnehmen. Verdammt: Was ist sicher im positiven Sinn? Sicher ist lediglich, dass wir hier Dinge tun, die von den Tätern nicht erlaubt sind. Sicher ist, dass wir für uns noch unbekannte Handlungen wagen, aber gleichzeitig wissen, dass alles auf des Messers Schneide steht und wir nicht wissen, ob das schaffbar ist. Und sicher ist, wenn wir hier scheitern, dass das Echo der Täter gewaltig sein wird. Und ganz, ganz sicher scheiße ist, dass ich mich niemandem anvertrauen kann, weil ich sonst Angst habe, dass Herr Ahlfeld das als „Na sag ich doch. Ihr seid noch nicht weit genug!“ bewertet.
Und doch sollte Carlotta auch diese Hürden nehmen und kam ohne Suizidversuche, Kontaktaufnahmen zu Tätern, Entlassungswünsche, Schnittverletzungen durch die schwierigen Feiertage. Sie konnte sich etwas erholen und sich auch besser mit den gegebenen Umständen abfinden.
Ich weiß auch nicht, liege hier so auf dem Bett und habe das Gefühl, endlich mal wieder etwas Kapazität frei zu haben, um über mich… mich persönlich nachzudenken. Ich gucke aus dem Fenster: die Vögel zwitschern, es sind ein paar Wölkchen am Himmel und ich sehe Bäume… und wir sind hier drinnen eingesperrt. Das Ganze da draußen auf den Fluren, die Unruhe, die Hektik, die Krankheiten, die Lautstärke, die Trigger… das ist unser Leben? Freiwillig sogar. Das muss ich extra dazu sagen! Aber so wirklich freiwillig ist das ja nun auch nicht… muss bei den Umständen halt so sein, leider! Aber wie gern, würde ich doch normal leben können. Sowas, was für andere ganz normal ist: Freiheit, Sicherheit, eigene Entscheidungen, …. gerade hier so ohne Freunde fällt es mir richtig schwer, noch nicht mal meine Musik und Klamotten selbst bestimmen zu dürfen… so, als sollte ich ausgelöscht werden.
Ich wünschte mir ein Leben… einfach nur ohne Angst, Zwang, Druck, Anstrengung an allen Ecken und Schmerz… das wäre schön. Auch sehne ich mich nach Zufriedenheit… es muss nicht alles groß und bombastisch sein, was ich erreichen möchte, sondern nur für Sicherheit und den Gedanken vor’m zu Bett gehen: Ja, ich bin zufrieden und habe es gut gemacht!
Sie schrieb sich in den Tagen kurz vor Ende des Urlaubs von Herrn Ahlfeld einen Wegweise-Text.
Durch die Kraft meiner Gefühle und Gedanken wird die Vermutung zur hoffenden Gewissheit, dass die zu erschaffende Welt anders sein wird. Durch das Bild abgrundtiefen Jammers mache ich mich auf die Reise in eine unbekannte, sichere Welt. Zu überschreiten sind gefährliche Pfade. Das dahinter versteckte Geheimnis ist noch nicht zu erkennen. Es wird sich nicht leicht preisgeben und offenbaren. Allein die Hoffnung lässt uns geleitet gehen. Schlingernd über glitschige Untergründe, versackend im Morast, des Verstandes beraubt und kauernd und fröstelnd auf Umwegen. Doch wollen wir mit unverminderter Dauerhaftigkeit durchhalten. Obwohl auch schrille Schreie und wildes Gelächter erklingt und die unsäglichen Mühen alle Kraft kosten und höchstens ein Schneckentempo zulassen: Wir wollen mit allen Mitteln kämpfen für das große Geheimnis WIR und die andere Welt! |
In der ersten Sitzung nach Herrn Ahlfelds Urlaub teilte er Carlotta mit, dass nun die Entscheidung anstände, ob sie den Weg des Ausstieges direkt weitergehen wollte; mit der Konsequenz, den Wohnplatz im Wohnheim zu verlieren. Oder ob sie doch zurück wollte, um den Wohnplatz zu halten.
Carlotta entschied sich für den Ausstieg, obwohl sie richtige Angst hatte, was das bedeutete: Es bedeutete nämlich, dass es nun keinen Weg zurück mehr gab, es bedeutete, dass sie in einer Klinik war, ohne ein „zu Hause“ zu haben, und es bedeutete Ärger mit den Wohnbetreuern und eine Menge organisatorischen Aufwands, um eine Lösung für ihre Möbel und Sachen zu finden. Und es bedeutete, dass sie sich auf etwas einließ, wo sie nicht abschätzen konnte, wie die nächsten Schritte, Wege und Resultate aus dieser Entscheidung waren.
Herr Ahlfeld erstellte den Plan, dass Carlotta nach dieser Entscheidung nun jeweils täglich zu den DIS-Therapien auf die offene Traumastation geholt und wieder weggebracht wurde, um über 6 Wochen eine schrittweise Belastungserprobung durchzuführen. Er begründete das damit: durch die geschlossene Hauptunterbringung auf eventuelle Krisen und Regelbrüche schneller und mit besserer Sicherheit reagieren zu können.
Und so pendelte Carlotta jeweils zwischen der geschlossenen Station und den offenen Traumatherapien immer hin und her.
Diese Ungewissheit, Uneinigkeit innerhalb ihres Systems und die Belastung durch die Therapien brachten Carlotta immer und immer wieder an ihre Grenze.
Oh Mann… schon wieder so viel. Und ich weiß nichts mehr. Ich weiß nur, dass alle durcheinanderpurzeln und ich gleich durchdrehe. Angst vor dem Zustand, kein „Zuhause“ zu haben und der ganzen Ungewissheit, wie das wohl weitergehen wird. Und andererseits auch das Ziel zu haben, wirklich auszusteigen, es gut und ausreichend zu machen, dass Herr Ahlfeld uns nicht rauswirft ins Nichts….
Was das alles innen aufwirbelt, ist echt heftig. War heute kaum vorne. Luka und zwei andere Innies haben nur Mist gemacht und ich konnte nichts tun. Lücken… irgendwann lag ich wohl auf dem Boden und hab gekrampft. Ich weiß es nicht. Es ist einfach nur gruselig, was dieser Entschluss auslöst. Und ich komme schon wieder in die Hoffnungslosigkeit – je dichter ich der Erschöpfung komme. Ich glaube, in solch unkontrollierbaren Zuständen dann: Das ist nicht zu schaffen… ich will nach Hause… doch dann merke ich: Ich habe ja gar kein Zuhause mehr!
Und ich frage mich: Wie geht das so weiter?… und kein gehbarer Weg zeigt sich mir. Ja, wir sollen weit weg, weit weg von allem, weit weg aber auch von den Freunden und dem Hilfsnetz… Alles noch mal von vorne. Alles neu. Wieder allein. Ist es das, wofür ich dieses fast Unschaffbare versuche?
In den Therapiesitzungen ging es in der ersten Zeit um die destruktiven, auf Aufgaben programmierten Anteile. Und Mara, das Mädchen, welches immer wieder versucht hatte, sich auf unterschiedlichste Weisen zu strangulieren, berichtete von ihrer Aufgabe und wie sie dazu gebracht wurde, auf Thementrigger zu funktionieren.
Seit ich gestern erfahren habe, worum es in der Sitzung ging, geht es mir sehr, sehr schlecht. Ich frage mich immer wieder: Wie kann so etwas geschehen sein, ohne dass jemand etwas bemerkt und eingreift? Wie können Menschen überhaupt so sein und so etwas tun? Mara erzählte von Trainings mit Schlägen, Stromstößen, von Männern mit Masken und Handlungsaufträgen. …uff, alles so hart. Und ich fühl mich so einsam damit. Kein Kontakt, kein Besuch, kein Telefonieren. Ich vermisse gerade meine Freunde so sehr. Ich sitze oft am Fenster und starre nach draußen und denke an viele wichtige Menschen für mich. Das soll es nun gewesen sein? Alles aufgeben? Neustart? Gerade jetzt bräuchte ich sie so sehr. Manchmal kann ich etwas weinen. Doch das ist viel zu wenig. Würde mal echt gern heulen dürfen und jemanden in den Arm nehmen… gehalten werden.
Der Weg Jeder Schritt schmerzt vor Entkräftung. Immer häufiger rutsche ich aus, verliere den Halt und stürze. Am Boden liegend… nur noch bleierne Müdigkeit. Ich meine, noch tiefer zu fallen. Erschrocken reiße ich die Augen vor der Wirklichkeit auf. Und muss mich zwingen aufzustehen und weiterzugehen. Mich immer weiterschleppen, bis ich endlich an einen begehbaren Weg stoße. |
Diese Arbeit mit destruktiven Anteilen war zwar ein großer Schritt in die richtige Richtung, und doch wirbelte sie wieder eine Menge mit sich nach oben und destabilisierte. Carlotta pendelte in der arbeitsintensiven Zeit mit einigen der destruktiven Anteile immer wieder zwischen Aufgabe, gehen…, “egal was kommt“, und erschöpft weiterkämpfen. Einige Entlassungsaufstände mussten niedergerungen werden und Herr Ahlfeld forderte eine gesetzliche Betreuerin für Carlotta mit Aufenthaltsbestimmungsrecht. Zähneknirschend wegen der noch mehr eingeschränkten Selbstbestimmung sagte Carlotta trotzdem zu.
Sie saß gerade ziemlich geschafft von den Sitzungen in ihrem Zimmer der geschlossenen Station, als plötzlich der Feueralarm ertönte, der Carlotta sofort einfrieren ließ. Sie wurde dann mit allen anderen Patienten von dem Pflegeteam evakuiert und in Schulkinder-Manier Hand in Hand, auf eine andere Station gebracht. Es war nämlich kein Probealarm, sondern ein wirklicher Brand eines kompletten Zimmers mit Rauchschwaden auf dem kompletten Flur. Eine Patientin hatte in suizidaler Absicht ihr Bett angezündet.
Carlottas Zustand nach diesem Horrorerlebnis war so schlecht, dass sie von einer Schwester der offenen Therapiestation abgeholt wurde und dort umsorgt wurde mit 1 zu 1 Betreuung. Carlottas Innenkids dachten, das sei die Rache von Satan oder der Täter, weil sie nicht gehorchten und zu viel erzählt hätten.
Als dann einen Tag später, nachdem alle wieder auf die Station gehen durften, eine weitere Patientin, animiert durch den Vortag, zündelte und erneut der Feueralarm losging und einen weiteren Tag später ein Patient eingeliefert wurde, der immer und rund und die Uhr ganz laut um Hilfe rief, waren Carlotta & Co bereits wieder in einem Zustand, der arg unkontrolliert war. Sie switchte zwischen den Anteilen nur so hin und her. Von ängstlich weinerlich, bis hysterisch flashig, von wütend bis hoffnungslos.
Herr Ahlfeld war sehr entsetzt über diesen nicht selbst verantworteten Zustand Carlottas und setzte eine Sitzung mit 2 Pflegern der Station an. Es wurde beraten, wie sie besser unterstützt werden konnte. So konnte sich Carlotta nach wenigen Tagen wieder fangen.
In der nächsten Sitzung sagte sogar Bruno, ein dunkler Anteil (eigentlich täterloyal), zu, beim Ausstieg zu helfen. (Heute sagt Bruno, dass er in diesem Moment realisiert hat, dass es einfach nur noch einen überlebbaren Weg gegeben hätte. Nämlich für den Ausstieg zu kämpfen. Und dass der Weg, zu gehorchen und die Therapie zum Scheitern zu bringen, nur bewirken würde, dass er ihren Körper den Tätern zur Bestrafung auslieferte.)
Brunos Zusage zur Mitarbeit, die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuerin und die schwierigen Bedingungen der Geschlossenen bewirkten, dass Carlotta nach den vereinbarten 6 Wochen wirklich die Zusage zum Umzug auf die offene Traumastation bekam.
Ein neuer Weg Eine neue Pforte tut sich auf, lässt uns aus der Geschlossenheit in eine offene, schon etwas gewohnte Umgebung zurück. Lange ersehnt! Und jetzt schon die Vorfreude, nur getrübt durch die Angst, dass das Erarbeitete nicht ausreicht, um den nötigen Schutz zu gewährleisten. Angst in alte Muster zurückzufallen und alles Erarbeitete zu zerstören. Noch zu wackelig und gering das Vertrauen – auf uns, in uns, auch diesen Schritt zu meistern. Aber da ist auch ein: Was folgt? Was dann? Das alles lässt uns in unserem noch momentanen Käfig unruhig werden. Unruhe gepaart mit Freude und Aufregung. Das ist gerade auszuhalten neben der ganzen Erschöpfung und des Durcheinanderseins des normalen Daseins. |
Zurück auf der offenen Traumastation
Nach 6 Wochen auf der geschlossenen Station durfte Carlotta auf die offene Traumastation wechseln. Einerseits war sie sehr erleichtert, die Geschlossene mit all ihren Grusel-Bedingungen zu verlassen, und doch hatte sie Angst, die Regeln, die weiterhin galten, nicht einhalten zu können, da auf der offen geführten Station mehr Möglichkeiten bestanden, um „Mist zu bauen“. Sie hatte Angst, was dieser Schritt mit sich bringen würde, hatte Angst vor der Zukunft mit all den folgenden Veränderungen und Forderungen, die an sie alle gestellt wurden.
Herr Ahlfeld hatte direkt zu ihr gesagt: „So, jetzt die nächste Stufe!“, und hatte gleich hintendran gehängt, dass sie sich auch auf der Traumastation zu benehmen hätten und dass dies eine Entscheidung von allen gewesen wäre.
Und so fühlte sich Carlotta gleich zu Beginn weiterhin sehr unter Druck, all den Bedingungen gerecht zu werden und all die Gefühle von Angst, Zweifel, Widerstand, Plänen zur Flucht niederzuringen – nur um nichts Falsches zu tun.
Doch all dies erwies sich als nicht schaffbar.
Im System herrschte Chaos: zwischen ängstlichen, fast panischen Innens; Anteilen, denen es sehr recht war, nun mehr Sicherheitslücken zu haben; Anteilen, die planten, Täter anzurufen; Anteilen, die mit dem Druck nicht klarkamen und schnitten und kotzten;… ; und einem neu aufgetauchten Anteil, Daria, die ihre schlimme Geschichte ihrer Schwangerschaft mit anschließender Opferung offenbarte – inklusive aller Gefühle von Schuld, Trauer und Entsetzen.
Doch diesem Thema konnte gar nicht genug Aufmerksamkeit zuteilwerden, weil alle erwarteten, Carlotta müsste nun ausschließlich am Ausstieg und an der Sicherheit arbeiten.
Carlotta versuchte, den Schein zu wahren, dass sie das alles schaffte, so gut es ging – immer von der Angst angetrieben, Herr Ahlfeld könnte sie rauswerfen und den Tätern überlassen.
In den Therapiesitzungen durchforstete Herr Ahlfeld Carlottas soziales Umfeld und die komplette Familie, was in Carlotta Kämpfe um die Themen Loyalität, Schweigen, Wahrheit, Lügen und Verrat entfachte.
Der Druck, das alles irgendwie gerade zu schaffen, ist aber auch soooo was von hoch gerade. Alles läuft schief und ohne Kontrolle. Ich kriege das alles auch gerade nicht gut rekonstruiert. Eigentlich weiß ich nur bruchstückhaft, dass es gerade bei uns gar nicht gut aussieht.
Infolgedessen geriet das System völlig aus dem Ruder, es war nur noch ein wilder, ständig kreuz und quer switchender Haufen Mensch übriggeblieben. Und Carlotta? Die merkte das Ganze gar nicht in vollem Umfang. Sie merkte gar nicht, was sie alles nicht mitbekam. Sie war völlig überfordert und steckte in einer tiefen Depression:
Ich bin müde, bewegungslos und starr und fühle mich halbtot. Komme mir vor, als stände ich bewegungslos neben dem Leben und glotze doof drein, wie es zu Grunde geht. Diese ganzen Anforderungen, Themen, Kämpfe, Gefühle und die unsichere Zukunft erschlagen mich. Ich muss mir immer wieder sagen, dass ich nicht aufgeben darf. Aber wie genau und wohin die „neue Carlotta“ langläuft und wie die neue Wirklichkeit aussieht, weiß ich einfach nicht. Wenn ich schon an den ganzen Widerstand denke, kann ich eh nicht dran glauben. Und wenn mir jetzt jemand die Frage stellen würde, ob ich leben oder sterben möchte, würde ich mich derzeit für den Tod entscheiden. Aber das darf ich natürlich niemandem sagen…
Obwohl Carlottas Zustand nicht unbemerkt blieb, arbeitete Herr Ahlfeld in der Therapie weiter mit den Anteilen. Er forderte Detailwissen, sekteninternes Wissen frei zu geben: Wann? Wer? Wo? Wie? Wie oft? – und die Schwestern waren damit beschäftigt, Carlotta nicht komplett auseinander fallen zu lassen. Sie führten Gespräche, machten Einzel-Imaginationsübungen mit dem Ziel, das System etwas zu entlasten. Sie hörten zu und gaben ihr Bestes, um für Carlottas System einen Ausgleich zu schaffen.
Doch es war einfach alles zu schnell und zu viel verlangt von Herrn Ahlfeld. Es waren seine Ziele, sein Vorgehen, sein Plan. Was noch neben den ganzen anderen Themen, die gedacht werden mussten und intern diskutiert werden mussten, möglich gewesen wäre, interessierte ihn nicht. Er gab die Regeln/Ziele vor und verlangte, dass diese umgesetzt wurden. Punkt!
Da die Kontaktregeln – keinen Ausgang (sondern nur kurz zum Rauchen hinter das Gebäude) – kein Telefonieren – kein Besuch – keine Post… – immer noch galten, machten es auf Dauer wirklich schwer.
Es fehlte das Ausheulen bei Freunden, der Trost von Freunden, der Kontakt, die Ablenkung.
Es fehlte das Aussprechen von Zweifeln – ohne dass es gleich wieder Herrn Ahlfeld zugetragen wurde.
Es fehlte der Raum für die schreckliche Geschichte und die riesigen Schuld-Trauer-Gefühle von Daria und Meta, einem weiteren Anteil, der damals bei der Opferung von Carlottas Babys entstanden war. Und es fehlten auch einige Ressourcen wie Kleidung, Musik, Styling, weil die in Herrn Ahlfelds Regeln fielen und somit untersagt waren – da er der Meinung war Gothic = Satanismus.
Vorbereitungen zum Umzug
Dann fingen auch bald Sozialarbeitertermine an.
Es musste geklärt werden, wie sie ihre Möbel aus dem Wohnheim abholen konnte und wohin sie sie stellte.
Ein komplett neues Antragverfahren musste für ihre finanzielle Versorgung ausgefüllt werden.
Die Anträge zur gesetzlichen Betreuung mussten vorbereitet werden.
Und der wichtigste Punkt war, eine neue Bleibe für die Zukunft zu finden, Angebote zu suchen, Anfragen zu stellen und abzuwarten.
Carlotta zog sich in Folge immer weiter zurück, da sie mit ihren Zweifeln, ihrer Überforderung und ihren Ängsten nicht mehr wahrgenommen wurde, sondern nur noch mit Aufmunterungen reagiert wurde.
Sie hatte das Gefühl, der erwarteten Freude, „bereits über mehrere Monate ohne Übergriffe zu sein“ und „dass nun eine rosige Zukunft auf sie wartete“ nicht entsprechen zu können. Gleichzeitig hasste sie sich dafür, unehrlich zu sein, Tatsachen zu verschweigen, nur um die Erwartung der Helfer zu erfüllen, obwohl es gar nicht ihre Empfindungen waren. Und sie hasste es, im Chaos allein zu sein.
Hinter einer Maske, verborgen vor uns selbst, stehen wir da. Blockiert im Chaos, der Angst, alles nicht zu schaffen und mit dem Druck im Rücken, vorwärts zu kommen. Doch das Innere ist so bedrohlich, zu undefiniert und unkontrollierbar. Die Münder bleiben verschlossen und zeigen manchmal ein geübtes Lächeln, ein wahnsinniges Albern und Kichern, um die Tränen, den Druck und die Angst zu verbergen. Es bleibt nur die Hoffnungslosigkeit bei dem Blick in die Zukunft und die Leere in diesem toten Dasein. |
Carlotta gelang es einige Zeit, einfach so weiterzumachen und sich immer wieder zu sagen „Da müssen wir jetzt durch – auch wenn alles zu viel ist“.
Doch bei einer Bilanzvisite (mit Fragebögen zur Symptomatik) ließ sie den Knoten platzen und berichtete, was sie alles verschwiegen hatten – nur um den Anforderungen scheinbar gerecht zu werden und dem Druck zu weichen.
Der Knall Herrn Ahlfelds ließ nicht lange auf sich warten: „Ihr müsst alle wollen!“ -“Das gibt es nicht, dass bei der SVV keiner etwas mitkriegt und dass keiner etwas dagegen tut“ – „Sie müssten sich endlich darüber austauschen und einigen, sonst können Sie gleich gehen“ – „Vertragsbrüche, Heimlichkeiten und Spielereien sind verboten“ – „Ultimatum bis zum Ende des Tages: Regeln einhalten oder Entlassung.“
Das Gespräch über das Ultimatum mit Herrn Ahlfeld gestaltete sich schwierig, wovon Carlotta allerdings wenig mitbekam. Viele Innenleute diskutierten heftig mit Herrn Ahlfeld über die Regeln, über Instabilität, über Kontrolle, über täterloyale Anteile, Tod und Destruktivität.
Hr. Ahlfeld willigte schließlich ein, dass sie bleiben durften. Und er ging auf Carlottas Bedürfnis nach Kontakt zu Freunden ein. Er bat, einen Freund ihrer Wahl zu einem Dreiergespräch einzuladen und ihn bzgl. „Gefahr und Sicherheit“ abzuchecken – mit der Aussicht auf 1x wöchentliche Besuche, allerdings ohne Ausgang.
Durch die Sitzung und die vielen Wechsel war Carlotta nicht mehr in der Lage, gehend ihr Zimmer zu erreichen. Ihr Körper gehorchte ihr einfach nicht mehr und so musste sie von Herrn Ahlfeld und einer Schwester in ihr Zimmer getragen werden.
Carlotta war nur noch erschöpft.
In den folgenden Tagen erhielt Carlotta 3 Konzeptionen von möglichen Wohnplätzen und es wurde deutlicher und immer dichter, dass sich ihr Leben bald komplett wandeln sollte. Sie geriet in Panik und doch entschied sie sich, 2 Plätze mal genauer anzugucken, und vereinbarte Besichtigungstermine. Durch die Ausgangsregelungen sollte sie von der Sozialarbeiterin begleitet werden.
Auch das „Sicherheitsgespräch“ mit ihrem ehemaligen Mitbewohner Jannis und Herrn Ahlfeld konnte sie zeitnah planen. Es war ihr äußerst unangenehm, dabei zu sitzen und Herrn Ahlfeld Jannis solche Fragen stellen zu hören. Carlotta wusste ja, dass Jannis ein einfacher Freund war und nichts anderes. Und er musste bis ins kleinste Detail Fragen zu eigener Belastung, Motiven der Freundschaft, Wünschen, Sex?, Verknüpfungen zur Familie? beantworten. Aber Jannis hatte wohl die richtigen Antworten gefunden und durfte somit nun 1x wöchentlich zu Besuch kommen.
Herr Ahlfeld warnte Jannis sogar in Carlottas Beisein, sich nicht zu überlasten durch sie.
Nach dem Gespräch waren Carlotta und Jannis echt entsetzt über diesen Eingriff in die privaten Angelegenheiten und doch hätten sie keine andere Möglichkeit gehabt, sich zu sehen. Und deshalb wurde es von beiden als erzwungenes Mittel zum Zweck, füreinander da zu sein, gewertet.
In den folgenden Wochen hatte Carlotta trotz ihrer wenigen Energie ein straffes Programm zu schaffen.
Ein Termin mit einem Amtsrichter, um die gesetzliche Betreuung festzulegen, stellte wieder einen großen Trigger dar, da nicht orientierte Innens den Zusammenhang nicht verstanden und dachten, der Richter hätte etwas in Richtung Gutachten, Polizei, Anzeige, Verfahren oder Beschluss zu bedeuten.
In der Einzel-Therapie ging es weiter mit sehr schwierigen Themen.
In den Imaginationssitzungen war nur noch die Installation eines Besprechungsraumes Thema, um Kommunikation untereinander zu erlernen, was wieder sehr viel Frustpotential beinhaltete.
Im Außen ging es immer weiter mit der Planung des Umzugs.
Und die großen Zweifel und Ängste Carlottas wurden wieder einmal nicht gehört.
Es ist gerade sooo schwer. Ich komme nicht klar damit, dass es jetzt wirklich bald ganz weit weg geht; wir alles abbrechen und verlassen müssen – auch das Gute. Und verdammt noch mal, die Schwestern und Jannis sind es auch Leid, das von uns zu hören. Jannis leidet selber wie Sau. Und den Schwestern hier geht es auf die Nerven. Die kommen dann immer mit so klugen Sätzen wie „Sooo große Fortschritte!“ „Hauptsache, Sie sind in Sicherheit!“ „Unversehrtheit des Körpers!“ …. aber verdammt, ich kann es nicht sehen.
Und wenn ich dann von Chaos, Erschöpfung und destruktiven Gedanken/Planungen rede, dann schicken die mich weg und hauen noch so blöde Floskeln wie „Kommunikation“, „Eigenverantwortung“ raus. Schwester Babsi sagte gestern sogar, dass wir ja wohl nur Aufmerksamkeit ziehen wollen … pöhhh!
Dass ich mordsüberfordert bin, nur Chaos ist, ich nicht mehr hinterherkomme, Herr Ahlfeld auch nur Druck macht, und dass ich durchgängig heulen, schreien und etwas kaputtschlagen könnte, sieht keiner und will auch keiner sehen. Warum sind meine Hände wohl grün und blau geschlagen (am Baum)? Bestimmt nicht, weil wir so stolz sind über unsere Fortschritte und so ein Vertrauen in unsere Zukunft haben.
Als dann auch noch eine Reihe von Feiertagen folgte, die Besichtigungstermine für die Wohnheime immer dichter kamen und die gesetzliche Betreuung mit allen Aufgabenbereichen genehmigt war, war der Zustand nicht mehr zu halten. Es gab eine fürchterliche Rebellion der täterloyalen Anteile und der Anteile mit „Aufgaben“. Luka versuchte fast pausenlos, seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, Isabel versuchte immer wieder, sich an der Küchenzeile an der heißen Herdplatte die Finger zu verbrennen, Jule war wieder in ihrem „ich muss telefonieren“-Modus (Täter) und Jarno und Nell schnitten mehrmals sehr tief, dass es genäht werden musste, und malten mit dem Blut bestimmte Symboliken an die Wände. Als dann auch noch ein kleiner Anteil nachts im Schlafanzug aus der Klinik weglief, war die Katastrophe komplett.
Die Reaktion von Herrn Ahlfeld nach seinem Osterurlaub war, wie zu erwarten, recht hart. Es gab eine Therapiepause für mehrere Tage, Minimalversorgung (ohne jegliche Unterstützung und Gespräche) und die Aufforderung, sich Gedanken zu machen, ob sie und ihre Innens weit genug wären für den Ausstieg. Er würde einen noch härteren Vertrag ausarbeiten, der zu erfüllen wäre, ansonsten drohe Entlassung.
Oh Mann, oh Mann… was waren das für Tage. Und was ist das für eine Zeit und ein Leben. Ich bin einfach nur geplättet dem Ganzen gegenüber. Es ist so schwer, bei dem ganzen Druck etwas Produktives zu erreichen. Ich weiß einfach keine Lösung. Ich weiß es wirklich nicht! Und ich wüsste noch nicht mal, wie ich irgendwann je dahin komme. Ich steh vor einem großen Rätsel, das aber gelöst werden muss!!! Ich will nicht scheitern – ich weiß, was das bedeutet. Wir sind schon viel zu weit gegangen, um nun noch umzukehren. Es muss irgendwie… aber ich weiß keine Lösung. Einigkeit… pfff, was für ein Wort!
Das Einfachste wäre wirklich, alles hinzuschmeißen. Ich komm mir vor, als säße ich auf nem Pulverfass, das bei jeder Bewegung explodieren könnte. Und keiner sieht’s und keiner hilft.
Und Ahlfelds Drohungen mit dem ewigen Rauswerfen, kann er sich auch mal knicken!
Am Ende des Ichs, alles Wichtige aufgelöst, toter Blick auf das, was bleibt. Kopfkino, Farben, Geschrei, Forderungen, wirr, beängstigend, durcheinander, kein Entschluss daraus zu ziehen. Allein – gelassen/verlassen, keine Hilfe/Verständnis, nur Druck/Floskeln. |
Die nächsten Tage ohne Gesprächsmöglichkeiten und mit großer Angst vor dem Rauswurf waren sehr schwer für Carlotta. Sie hatte regelrecht Angst vor Kontrollverlusten, Switches und versuchte, so gut sie es wusste, Gründe für weiteres Chaos zu vermeiden.
Sie versuchte, den neuen strikteren Regelkatalog schon etwas selbst vorzubereiten, um Herrn Ahlfeld zu zeigen, dass sie wollte, obwohl sie gleichzeitig wusste, dass all die Regeln im Zweifelsfall eh nichts nützten, ihre Anteile sich eh nicht daran hielten und dass Regeln keine Kontrolle brachten – eher das Gegenteil.
Die Beschäftigung mit den Regeln bewirkte ziemlich viel Aufruhr. Auch bei Carlotta selbst und einigen anderen Anteilen. Sie hatte es satt, sich an Regeln zu halten, die sie für unsinnig hielt und die keinerlei Nutzen für sie darstellten.
Besonders das Verbot, ihre Freundinnen aus der Szene zu sehen, schwarz zu tragen, Gothic-Musik zu hören und sich mit der Szene zu identifizieren, sah sie nicht mehr ein.
Sie hatte so eine Sehnsucht, so zu sein und bleiben zu dürfen, wie sie es für sich gut, hilfreich und passend empfand. Diese Musik und die Lebenseinstellung waren ihr immer ein Anker gewesen, weil sie es ehrlicher empfand, die Tiefen und dunklen Seiten des Lebens nicht zu negieren. Sie hatte Angst, sich völlig aufzulösen unter den Regeln und der neuen Zukunft… alles neu, alles anders, nichts durfte bleiben.
Herrn Ahlfelds Überzeugung, dass nämlich alles Dunkle = Satanismus wäre und jegliche Identifikation damit ein Bleiben auf der dunklen Seite darstellte, war Carlottas Meinung nach völliger Schwachsinn. Sie hatte schon häufiger mit ihm darüber diskutiert, aber er wollte es nicht einsehen.
Alles das, was ich gerade nicht darf, macht gerade jetzt so eine Sehnsucht. Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich am liebsten gleich losrennen zum Kleiderschrank, Spiegel, Musikanlage. Ich kotze mich so, wie ich gerade sein muss, … sooo an. Ich ekele mich richtig, mich so zu sehen – es entspricht mir nicht. Ich habe das Gefühl, Herr Ahlfeld will sich ne perfekte Person stricken – so wie sie seiner Meinung zu sein hat im Ausstieg. Und wer fragt mich? Ich fühle mich wie ne beschissene Schaufensterpuppe – nur dazu da, um von anderen bestimmt zu werden und nach außen irgendwas Supertolles darzustellen. Aber verdammt, das bin ich nicht. Ich will jetzt auch nicht behaupten, dass ich mich in Schwarz megatoll fühlen würde, nein, mein Körper ist und bleibt scheiße. Das Duschen kotzt mich auch nur noch an: Körper, Verbände, Narben, Nacktheit… und wenn ich unseren Arsch und Oberschenkel seh, könnte ich nur noch kotzen, was ich eh grad zur Genüge tue… aber pssst, darf ich ja auch nicht! Muss doch alles unter Kontrolle sein! Pfff
Ich komme mir echt vor, als führte ich hier 2 Leben: eins für die Therapie und Regeln mit den ganzen Zielen und Veränderungswünschen und dann das Unerlaubte, wo ich genau weiß, dass ich das genauso wiederhaben will und nie aufgebe, weil es nichts mit Sicherheitsbedrohung oder Zugehörigkeit zu tun hat, verdammt.
So, ich muss mit dem Thema jetzt mal aufhören, sonst steigt da noch wer von uns mit ein und das brodelt dann alles hoch… und wir müssen ja lieb sein. Pff
Als die Straf-Therapie-Pause vorbei war, zeigte Carlotta ihre ausgearbeiteten Regeln. Sie wurden noch mal ins Reine geschrieben und unterschrieben. Sie wusste zwar, dass sie damit selbst eigentlich nicht einverstanden war und ihre Innenleute auch nicht, aber trotzdem fühlte sie sich gezwungen, dem zuzustimmen, nur um nicht so kurz vor dem Umzug rausgeworfen zu werden.
Ein ganz wichtiger Tag stand kurz bevor: Der Besichtigungstag der 2 möglichen zukünftigen Wohnplätze.
Es gestaltete sich schwierig, einen Fahrer zu finden, denn die Klinik konnte das plötzlich doch nicht übernehmen. Nachdem Carlotta die Erlaubnis bekam, in einer Beratungsstelle um Hilfe zu fragen, bekam sie glücklicherweise eine Zusage.
Diese Besichtigungstermine liefen sehr unterschiedlich und nach dem ersten sah Carlotta schon fast wieder nur schwarz für ihre Zukunft. Diese WG war an sich echt nett und gut, aber bei der zuständigen Frau war sehr schnell klar, dass sie keinerlei Erfahrungen mit DIS und Ausstieg hatte – genauso wie das gesamte Team, obwohl sie das immer wieder felsenfest behaupte mit ihren Argumenten, dass viele ihrer Borderline-Klienten auch DIS hätten und dass sie sich mit der multiplen Dissoziationssymptomatik (was das genau sein sollte, diese genannte Diagnose, wussten sie dort wohl selber nicht) gut auskennen würde. Als sie dann noch viel zu viele triggernde Fragen stellte und Carlotta kurz vor dem völligen Kontrollverlust stand, griff die Beraterin ein und beendete das Gespräch.
Nachdem Carlotta sich auf der Fahrt zu dem anderen Wohnplatz wieder etwas beruhigen konnte, ging es dann ganz konträr zum vorherigen Erlebnis weiter. Carlotta fühlte sich fast wie im Paradies angekommen. Das Haus war wirklich wunderschön, die Mitarbeiter waren sehr nett, aufmerksam, vorsichtig, schienen wirklich Ahnung zu haben, hatten gute Angebote und boten Carlotta sogar an, sofort einen Platz zu bekommen aufgrund ihrer Situation. Dazu würde Carlotta zuerst ins Notzimmer einziehen, um dann später das nächste freie, größere Zimmer zu bekommen.
Sie freute sich wirklich sehr und sagte auch gleich zu.
Wieder in der Klinik angekommen war die Freude des Teams fast größer als ihre eigene. Herr Ahlfeld sagte, dass die Beantragung dieser Wohnmaßnahme ungefähr 4-5 Wochen dauern würde und sie dann ihr neues Leben starten könnte.
Doch neben der Freude Carlottas, endlich nach 4 Monaten bald keinen Klinikalltag zu haben, und dem Widerstand vieler Innenleute, fühlte Carlotta nun noch mehr die Angst und Zweifel. Sie fühlte sich so unfertig im Ausstieg – immerhin hatte es selbst im Kliniksetting immer wieder Ausbrüche gegeben. Sie hatte Angst, all das nicht zu schaffen, sie hatte Angst vor dem einen Fehler, der alles hätte zunichtemachen können.
Doch mit dieser Angst fand sie keine Stelle zum Reden. Sie fand nur Leute, die so froh waren, dass sie so ein Glück hatte, sowas Tolles gefunden zu haben; die ihr sagten: „Sei doch froh!“
Carlotta sollte Recht behalten.
Als Herr Ahlfeld zur Belastungserprobung die Ausgangsregeln lockerte, war die Katastrophe bereits nach ein paar Tagen perfekt. Anteile mit Aufgaben des Kontakthaltens (zu den Tätern) hatten einen Brief geschrieben und all das, was passiert war in den vergangenen Wochen und Monaten, sowie alles über die Zukunft berichtet und den Brief abgeschickt.
Als diese Info durch das System sickerte, wurde alles ganz schwarz in Carlottas System und es geriet in Panik. Als Reaktion darauf und der Befürchtung, nun bestraft und gerichtet zu werden, lief ein Anteil von Carlotta weg und legte sich auf die nahegelegenen Bahnschienen. Da es aber eine belebte Wanderstrecke war, wurden sie gefunden und wieder in die Klinik gebracht.
Herrn Ahlfelds Reaktion war, wie zu erwarten, nicht sehr erfreulich. Er schickte Carlotta, die dem Zusammenbruch nahe war und sich nicht mehr beruhigen konnte und nur noch weinte, aus dem Gesprächszimmer mit den Worten „Packen!“ Carlotta geriet richtig in Panik und klammerte sich um seine Beine und flehte: „Nein. Bitte nicht! Geben sie uns doch noch eine Chance! Ich wollte das wirklich nicht. Ich hätte es doch verhindert, wenn ich es gekonnt hätte!“
Aber nein, sie musste gehen. Auf ihrem Zimmer begann sie unter hysterischsten Weinkrämpfen ihren Koffer zu packen. Doch plötzlich stand Herr Ahlfeld im Zimmer und sagte, er wäre schon stinkesauer, aber er würde ihr Leben nicht so einfach hinschmeißen und sie ausliefern wollen wie Carlotta selbst. Er schickte sie direkt wieder auf die geschlossene Station.
Und noch eine kurze Runde auf der Geschlossenen
Immer noch Immer wieder spüren, immer wieder erleben … diese hoffnungslose Lage. Die Stricke der Vergangenheit, die bis heute an Verbindung nichts verloren haben. Diese Angst, dass sie es nie werden, – auch in der Ferne nicht -, denn diese Stricke sind lang. Und wieder liegen wir hier am Boden auf der Geschlossenen. Gitter, Bewachung, laut, kein Herauskommen… Als Schutz vor uns selbst, als hätten wir aufgehört zu kämpfen. |
Carlotta ließ sich mit Medikamenten ruhigstellen und schlief fast das komplette Wochenende auf der Geschlossenen und durfte am Montag nach der Visite mit Herrn Ahlfeld bereits wieder zurück auf die offene Traumastation.
Zurück
Ich bin wieder hier,
in meinem Revier,
war nie wirklich weg,
hab mich nur versteckt,
…ich rieche den Dreck,
und atme tief ein,
und dann bin ich mir sicher,
wieder zu Hause zu sein.
Wieder hier
(Marius Müller Westernhagen)
Sie fühlte sich hoffnungslos verloren und aller Wege beraubt. Mit dem Wissen, bereits vor dem Umzug schon alles verraten zu haben, konnte sie kein Licht am Horizont erkennen.
Sie erhoffte sich viel von dem folgenden Einzelgespräch mit Herrn Ahlfeld. Sie erhoffte sich, einen Plan stricken zu können, was nun zu tun wäre. Doch es kam ganz anders.
Herr Ahlfeld ging gar nicht angemessen auf die Tatsache ein, ging nicht auf die Ängste und Hoffnungslosigkeit ein, sondern beruhigte Carlotta und ihr Team mit Aussagen wie „Die werden euch bestimmt nicht kontaktieren, denn sobald die merken, dass man unzuverlässig wird und redet, wird man zu gefährlich und uninteressant, und wenn von innen Sicherheit herrscht, kann keiner von außen etwas ausrichten.“
Herr Ahlfeld versteht’s einfach nicht! Der kloppt einfach nur platte Sätze raus, die noch nicht mal auf uns passen. „Wenn von innen Sicherheit herrscht, dann… „Meine Güte noch einmal… Herrscht denn von innen Sicherheit?? Und „Die werden euch nicht kontaktieren, weil…“ Klar! Hat er da in seine Kristallkugel geschaut oder was? Ich bin so wütend und verzweifelt gerade, dass es keiner versteht.
Er sagte aber noch, dass er auf jeden Fall die KriPo benachrichtigen würde, wenn uns etwas passiert, und dass nach dem Tod die Schweigepflicht eh nicht mehr gilt!
Klasse oder?? Ich wär ihm am liebsten an den Hals gesprungen.
So ne Aussage und doch löschen sie diese Tatsache komplett weg, dass man den Umzug jetzt schon als gescheitert erklären kann. Und die freuen sich alle nen Keks, „dass das schon wird!“ Ich könnt kotzen!
Und jetzt mal weg von der größten Katastrophe.
Eine weitere Frage drängt sich mir gerade auf: Soll das wirklich der Ausstieg gewesen sein??? 4 Monate „Ausstieg“ gegen 25 Jahre Mist, in denen sie uns so hingedrillt haben, wie sie es wollten?? Ich fühl mich nämlich kein Stück besser, geordneter, sicherer, weiter, kontrollierter. Die ganzen Kämpfe, Suizidversuche usw., sind die plötzlich vergessen?
Dass es während der ganzen Zeit zu keinen Übergriffen kam, ist doch nicht selbst geschafft. Das kommt doch durch die Absicherung von außen.
Wie um Himmels Willen soll das in nem offenen Wohnheim gehen, wenn wir innerlich kein Stück weiter sind? Mit Betreuern, die uns nicht kennen? Ohne therapeutische Unterstützung? Mit dem Zusatz, dass die Täter bereits wissen, wo wir sind und wir intern wissen, dass die uns nicht so einfach weglaufen lassen.
Ich und sehr viele Innens drehen grad fast durch vor Angst und der Aussichtslosigkeit. Die meisten können niemals glauben, da je lebend und unbeschadet durchzukommen; aber das will ja keiner hören. Damit sind wir allein und dürfen nicht durchdrehen – Die Regeln!!!
Abschied
In diesem Zustand verbrachte Carlotta ihre letzten Wochen auf der Station. Es kam häufiger zu SVV, der jeweils genäht werden musste. Sie lernte ihre neue gesetzliche Betreuerin kennen, die für sie den ganzen behördlichen Gang des Umzugs übernehmen sollte. Sie führte das Hilfeplangespräch für die Finanzierung ihres Wohnplatzes und verabschiedete sich von Frau Sommer und einigen Freunden.
Herr Ahlfeld setzte sich selbst das Ziel, in den letzten Wochen noch die wichtigsten offenen Sachen für die Sicherheit mit Carlotta zu erarbeiten. Carlotta hatte beschlossen, das Spielchen mitzuspielen und gar nichts mehr von sich preiszugeben, um den Helfern ihr Erfolgserlebnis zu gönnen und nicht länger kämpfen zu müssen. Doch in Wirklichkeit:
Jetzt ist das hier bald zu Ende. Ich hab echt Panik vor dem Neuen und was da alles auf uns zukommt. Ich und viele andere haben das Gefühl, sehend in unseren Tod zu laufen. Ach… aber was soll man anderes tun. Ich habe jetzt auch echt aufgegeben, in den letzten Wochen noch etwas zu hoffen. Herr Ahlfeld geht bald in Urlaub und dann wars das. Wahrscheinlich sollten wir froh sein, hier dann weg zu sein, uns hier noch erzwungen spielenderweise durchzumogeln, versuchen, uns etwas runterzufahren und Kräfte zu bündeln für das Neue, denn da könnte in dem wenig bekannten Hilfsnetz der Tod auf uns warten – zumindest fühlt sich das so an!
Bilanzvisite gehabt und es kristallisiert sich immer mehr raus, dass wir null gesehen werden…
Es ist echt todtraurig, nicht ehrlich sein zu können… mit all den Ängsten und Vermutungen. Ehrlichkeit bringt nur Ärger, Druck, blöde Ratschläge und ein Erinnern an den Therapievertrag. Unehrlichkeit bringt ein „geht doch!“ Es ist so bitter. Ha, wenn die wüssten…
Aber natürlich mussten sie wieder an meinen Klamotten rummäkeln „Das farbige T-Shirt haben Sie doch nur für uns an!“ JA MENSCH… ich werde mich nicht auch noch wegschmeißen, wie die es alle tun!
Aber jetzt trag ich wieder mit lächelnder Maske hellblau ← so und nicht anders läuft das hier.
Wer dein Schweigen nicht versteht, versteht auch deine Worte nicht.
Selbst im Entlassungsgespräch sah sie keine andere Möglichkeit als zu schweigen, um nicht wieder einen negativen Abgang hinzulegen und um dem Team das Erfolgserlebnis zu gönnen. Und so hatte Herr Ahlfeld genug Raum, um seine Wahrheiten loszuwerden: „Abschiede sind immer schwer und Anfänge auch!“, „Еs wäre ganz wichtig, dass das Gute/hier Erreichte dort weitergeführt werde“, „Еr hätte gern mit ihr gearbeitet, sie liebgewonnen, wertgeschätzt in guten wie in schlechten Zeiten“, „Sie schaffen das!“
All diese Worte taten Carlotta einfach nur weh.
Zum Abschied vor seinem Urlaub klopfte er ihr noch einmal mit dem Worten „Ihr schafft das schon!“ auf die Schulter und ging.
In den letzten Tagen vor ihrer Entlassung versuchte Carlotta, ihren Zustand möglichst allein mit sich auszumachen, nutzte eine Ressource und Skill nach dem nächsten und doch kam es wieder zu heftigem Schneiden mit nötiger Krankenhausversorgung. Und der Unmöglichkeit des Chirurgen, sich keine Mühe bei der Versorgung zu geben mit den Worten „Кommt ja eh nicht mehr drauf an!“
Tabletten wurden gesammelt, was Carlotta aber erst später mitbekam. Es schien, als stünde sie kurz vor dem Ende, und doch ertrug sie es wortlos.
In der Abschlussvisite mit der Vertretungstherapeutin hörte sie noch die Sätze: „Sie sind so eine hübsche, junge, intelligente Frau, die schon so viel gepackt hat… das schaffen Sie auch noch! Alle zusammen! Die wenigen können gegen die Masse von Leuten gar nichts ausrichten.“
Ich bin richtig entsetzt. Könnte schreien, heulen, toben. Aber es hilft ja alles nichts. Das ist sooo heftig gerade. Das ganze System ist in Aufruhr und völlig unkontrolliert und zwar so, dass ich nichts dagegen tun kann. Die Tablettensammlung, die ich heute gefunden habe, kann ich auch nicht wegtun – wie ein Bann. Nichts Schweres ist so leicht, wenn man einen Notausgang im Hinterkopf hat. Es ist wie mit Gollum und seinem Schaaatzzz.
Nun sollen wir bald umziehen… sooo viele Meinungen, Stimmen, Gedanken im Kopf! So viel Wissen plötzlich über Programme, Zwänge, Kontakthalte-Regeln, Suizidgedanken, Trauer, Angst, Bedrohungen, SVV-Druck, Uneinigkeit. Und wir werden sie alle unausgesprochen mitnehmen.
Wir müssen jetzt stark sein und dürfen uns nicht hängen lassen. Maske auf, lächeln und weiter… bis zum endgültigen Ende.
Carlotta wurde nach 5 Monaten Klinikaufenthalt entlassen und verbrachte den letzten Tag bei ihrem ehemaligen Mitbewohner Jannis, der ja auch ihre kompletten Sachen bei sich untergebracht hatte. Nachdem sie die wenigen wichtigen Sachen gepackt hatte, ging es los auf die große Reise in ihre ungewisse Zukunft. Nach 3 ½ Stunden Autofahrt gelangten sie am neuen Wohnheim in Kleiningen an. Carlotta war mittlerweile 25 Jahre alt.