Das Danach
„Mit dem Weg des Ausstiegs fühlen wir uns total klein im Moment. Stehen da und wissen nicht weiter. Was das alles ausgelöst hat, ist kaum zu beschreiben. Zwar machen wir täglich alles, was verlangt wird. Tja… aber wir fühlen uns so machtlos. Irgendwie geschieht gerade alles einfach so, nichts wirklich gesteuert. Außerdem mach ich mir grad solche Gedanken: Stolpern derzeit auf nem schmalen Drahtseil rum zwischen zu erarbeitender Sicherheit, Schutz und dann wieder dem Druck der anderen Seite… Rache, Bestrafung. Haben totale Panik, auf eine Seite total abzurutschen… denn das hätte wieder kastastrophale Auswirkungen. So richtig voran kommt man nicht!
Was grad ganz nervig und blöd ist: das Schlafen. Alpträume an Alpträume… oder Erinnerungen, ich weiß es einfach nicht. Das ist so heftig, dass mir immer alles weh tut.
Mit der Polizei ist es glücklicherweise gerade ruhiger, die scheinen wohl grad nichts zu machen. (weit gefehlt!)
Und dann immer Dauerthema: die Betreuer. Nach der ganzen Geschichte komm ich einfach nicht mehr klar auf die. Kein Plan. Es ist schon wieder ziemlich ruhig mit denen. Aber die finden das anscheinend ganz gut. Wissen ja auch nicht, wie es wirklich ist.
Am Donnerstag war eine Betreuerin mit mir Reiten. Ich weiß auch nicht, wahrscheinlich wollten sie uns auf andere Gedanken bringen. Und mit uns in Friedlich und Unkompliziert können sie dann umgehen. Ich fand das auch schon sehr nett, dass die Betreuerin ihre Freundin gefragt hatte und das möglich gemacht hat. Naja, und es war auch echt schön. Den Haflinger Holly haben wir auch ziemlich routiniert fertiggemacht. Das war schön. Aber das Reiten war frustig. Die war sooo sooo faul und wollte nie vom Stall weg und ich kam nicht durch. Also alles in allem etwas frustig… und auch irgendwie traurig… da mussten wir so an unser altes Pferd denken … Aber für Lina und andere Innenkids war das schon schön, weil wir uns dafür auch Zeit genommen haben.
Aber später war wieder alles vermasselt, weil wir dann noch von einer Mitbewohnerin zu hören bekamen, dass ja Unterschiede gemacht werden zwischen uns… nein Moment sie hat DIS gesagt… und den anderen Mitbewohnern und dass das ja voll ungerecht ist. War auch richtig klasse!!! 🙁 Sie hat sogar bei ihrer Aufzählung die abgegebenen Schuhe erwähnt (tolle Idee, damit wir nicht vor die Tür können! Haha… aber das nur am Rande). Meine Güte… kann sie haben. Soll sie halt auch ihre Schuhe abgeben. Ich bin dieses Gehampel so leid. Ich hab mir nicht ausgesucht, dass das nun mal neue tolle Regeln sind und dass das zwangläufig auch bedeutet, dass wir bei dringenden Terminen außen nun begleitet werden. Und warum sollte ich Reiten ablehnen, wenn mir das angeboten wird?
Zumindest bin ich froh, dass ich nun weiß, wer wie über uns denkt. Ist doch auch schon mal was! Blöde Pisskuh. Die soll ruhig sein. Soll sie das doch den Betreuern erzählen. Was hab ich damit zu tun?
Und was mich am meisten nervt, ist, dass sie bei uns innen mit ihrer Ansage bestimmt wieder nen Nerv bei Nisse getroffen hat-> „Genau! Das Ganze ist nur ein gespieltes Theater, um Aufmerksamkeit zu kriegen“. Ich könnt kotzen.
Nika hat sich aber netterweise mit mir zusammen aufgeregt, was die dumme Mitbewohnerin da von sich gegeben hat.„
Immer weitere Traumasymptome türmten sich auf. Erinnerungen, Bilder, Gefühle, Körperschmerzen… alles vermischte sich in ein Mixmax aus früherer und relativ zeitnaher Vergangenheit.
Herr Schukow versuchte in einer Sitzung, mit Carlotta & Co eine Imaginationsübung zu machen, um ihnen etwas Entlastung zu bringen. Doch diese ging fürchterlich schief und es war kaum möglich, Carlotta & Co wieder aus dem Theraraum ins Auto und ins Heim zurück zu bekommen.
Carlotta & Co nutzten die Medikation in vollem Umfang, und trotzdem verschlimmerte sich ihr Zustand immer weiter, weil es auch auf die Weihnachtsfeiertage und die Jahreswende zuging und Carlotta wusste, was dies bedeutete. Vom Betreuerteam kam die Vorgabe, wieder in die Geschlossene zu gehen.
Carlotta folgte dem, obwohl sich eigentlich keiner so wirklich freiwillig dieser Umgebung und Behandlung aussetzen wollte. Aber sie mussten sich fügen, um weitere Konsequenzen zu verhindern.
Die Flut Die Flut der Bilder überschwemmt uns. Flut aus Blut, Schmerz, Ekel, Übelkeit und Angst, kein Entkommen möglich. Der Körper ist bereits in allen Gliedern verseucht und dreckig von den schwarzen Giften der Vergangenheit. Er kann nur schwer handeln, denn die tödliche Flut verätzt und lähmt alles. Die letzten noch zusammengehörigen Knochen und Fetzen kämpfen mit letzter Kraft und aus purem wahnsinnigen Überlebenswillen gegen unaufhaltbares Ertrinken. Hilfe schreit es aus allen Atomen. Die Augen vernehmen keinen Anker mehr. Alle sind geflohen und haben uns allein gelassen. Den toten Schädel über Wasser halten, das ist unser letztes Ziel! |
Fast eine Woche mussten Carlotta & Co auf der geschlossenen Station verbringen. Die Situation dort war nach wie vor nicht hilfreich, eher verbreiterte es immer und immer mehr die Distanz zwischen Carlotta und den Helfern. Ehrliches Reden und Hilfe-Holen war unmöglich, denn es folgten unweigerlich Konsequenzen von Zusatzmedikation, die Carlotta aber nicht vertrug. Aber verweigern durfte sie diese auch nicht, denn das hätte härtere Konsequenzen zur Folge gehabt.
Zu Anfang hatte Carlotta noch versucht, ein Gespräch mit der Stationsschwester zu suchen, um zu erklären, was stattdessen hilfreich sein könnte. Doch als die Antwort lautete: „Das ist ja auch alles schwer zu verstehen… das müssen sie doch auch verstehen!“, gab sie auf.
Und so, da dort keinerlei adäquate Hilfe und Verständnis zu erwarten waren, versuchten Carlotta & Co so gut es ihnen möglich war, unauffällig und ruhig nach außen zu wirken und regelgerecht mitzuspielen. Anteile, die extra für solche Helfersituationen entstanden waren, halfen.
Außer zu den Terminen, an denen sie anwesend sein mussten, zogen sie sich viel ins Zimmer zurück und beschlossen, diese verlorene Zeit zu nutzen, um sich um sich selbst zu kümmern, soweit sie das schon konnten, und um alles zu formulieren, was für sie Hilfe darstellte, was für sie hilfreich und wünschenswert wäre und was ungut lief.
Es wurden 8 Seiten.
Als die Feiertage vorbei waren und das letzte Gespräch vor der Entlassung mit dem Stationsarzt anstand, wurde der ganze Irrsinn noch einmal sehr deutlich. Er sagte Carlotta in sehr schnippischer Art, anstatt sich zu freuen, dass Carlotta das ganz gut gemacht hatte: „Und was wollten sie dann hier? Ich glaube ihnen eh nicht!“
Zurück im Wohnheim formulierte Carlotta in ihrem Tagebuch:
„Die Geschlossene war echt purer Horror für uns alle! Und ich will da auch nie wieder hin. Tja, … nur wohin sonst? Das ist doch echt megascheiße, wenn durch unfähige, ignorante, scheiß Hilfskräfte die Sicherheit von uns gefährdet wird, weil wir da auch nur weiter dran kaputtgehen. Die Dunklen bekommen praktisch ihre Bestätigung „frei Haus“ geliefert, dass es da keinen Weg gibt, und wir arbeiten uns nicht nur an uns sondern auch noch an Helfern ab. Das darf doch alles nicht wahr sein!! Da bekommt der Nicht-Schutz automatisch viele Pro-Argumente und Stärke. Und ganz ehrlich… selbst ich denke manchmal: Mir ist das alles zu viel. Ich schaffe keinen einzigen Minischritt mehr, so wie das hier läuft. Aber mal echt… Es geht so langsam echt nicht mehr! Innen das Chaos wird nicht besser und keiner drumrum scheint auch nur irgendwas Klitzekleines zu verstehen bzw. Hilfe zu geben, die sinnvoll wäre. Wir fühlen uns nur noch allein. Werden gezwungen, hier rumzutaktieren… nebenbei reiben sich die Täter die Hände… Gedanken an Aufgeben sind so nah und das Ganze ist ein riesen Scheißgefühl. Wir wissen, wir müssen da ganz schnell was machen, sonst ist das bald zu spät… Nur was verdammt???„
In der darauffolgenden Zeit brach immer mehr weg. Und gleichzeitig brachen in Carlotta Erinnerungen auf.
Carlotta hatte die geschriebene Liste zum Thema „Was ist hilfreich und was nicht!“ mit Kerstin durchgesprochen und im ersten Moment wurde ihr zurückgemeldet, dass da nun ganz viel verstanden wurde und wie toll diese Liste wäre. Doch in der Arbeit miteinander zeigte sich, dass das nur vorgegeben wurde und da wirklich nichts verstanden wurde. Als Carlotta sich traute, das auszusprechen, wurde die Bezugsbetreuung gewechselt und Kerstin wurde gegen Isa getauscht.
Und auch Herr Schukow setzte fest, dass er nicht mehr traumatherapeutisch mit Carlotta arbeiten würde, sondern nur noch unterstützend stabilisierend, nachdem ein Versuch, mit einem traumatisierten Anteil zu arbeiten, schiefgegangen war. Herr Schukow hatte versucht, einen kleinen Anteil, der noch in der Traumasituation festhing, zu reorientieren im Hier und Jetzt. Aber das scheiterte gewaltig: denn nach der Sitzung war das komplette Alltagsteam von Carlotta 8 Stunden nicht ansprechbar.
„Mist! So hilflos haben wir uns seit langem nicht gefühlt. Irgendwie ist da echt niemand, der sich auch nur ansatzweise fähig fühlt, dieses ständige Erinnern, Geflasht-Sein und Schlecht-Gehen zu stoppen. Ich habe keine Ahnung, warum das gerade so flutmäßig ist… ich weiß nur, dass ich das nicht aushalte. Ich fühle mich nur noch stumpf und tot… eins nach dem anderen fällt über mich herein. „Herzlich willkommen! Ein Grauen nach dem nächsten! Richte dich schön ein hier und fühl dich wohl! Bist in guter Gesellschaft… ach und bitte bring doch noch all deine Kumpels und Kumpelinen mit!“ Selten so gelacht… Hab ich einen Scheiße-Magnet an mir? Könnte den bitte mal jemand bitte entfernen? Sarkasmus.
Aber eigentlich macht mir Angst, dass alle Dinge ihren Wert verlieren und das Leben furchtbar dunkel wird. Nach außen geht das wohl noch alles – nur manchmal dringt etwas nach außen ans Betreuerteam. Aber was nützt das? Sie sagen: „Wir wissen, dass es euch schlecht geht. Aber mit dem Thema geht ihr besser in die Therapie.“ Tja, nur, dass Herr Schukow sich auch grad an nichts mehr ran traut und nichts davon hören will.
Und mit meinen Mädels will ich auch nicht immer so krasses Zeug reden. Die haben ja alle selbst genug… Aber wir sitzen ja alle im gleichen Boot hier: und somit verstehen die mich und finden das auch alles ganz schlimm mit der Betreuung. Ich mein, das kennt ja hier jeder. Will man was von denen, was nicht mit „Eititei“ oder nem Ikeabesuch erledigt ist, hat man verloren bzw. ist verloren.„
Carlotta machte diese Entwicklung mehr und mehr Angst, da sie sich bewusst war, dass Stück für Stück auch die Hoffnung und die Ziele schwanden. Sie hatte Angst, dass sie dem Druck, alles an Hilfe und neuen Wegen hinzuwerfen, nicht standhalten konnte.
Das Abschlussgespräch für die Bezugsbetreuung mit Kerstin für den Wechsel zu Isa machte noch einmal deutlich, wie sehr Carlotta nicht wahrgenommen und verstanden wurde.
„Suuuupertolles Abschlussgespräch gehabt. Pff
Da meinte Kerstin doch echt, mir erzählen zu wollen, was wir doch für tolle Fortschritte gemacht haben. Hä?? Was soll das?? Hab ich was nicht mitgekriegt?? Anhand der Punkte 1 Suizidalität 2 Selbstverletzendes Verhalten 3 therapeutische Arbeit 4 Lebensqualität wären deutliche Verbesserungen zu erkennen. → „Früher wart ihr ja sehr viel häufiger suizidal, habt ganz oft geschnitten. Jetzt schon länger nichts! Mit Herrn Schukow arbeitet ihr. blaa blaa ihr seid schon so lange hier… sicher!„
„Da hat es dann ausgesetzt… Aha. Ich bin also schon so lange hier und sicher! Aha. Und warum ermittelt die Polizei dann noch? Hat die Verdrängung bei denen besser funktioniert als bei mir?? Ich kapiere es echt nicht! Zuerst haben ich und auch andere Innies versucht, denen klarzumachen, dass das ja so alles nicht stimmt und wie es grade in Wirklichkeit ist. Dass nämlich nach außen alles besser aussieht durch die Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, dass alles wertlos ist durch die Schwäche… dass wir Angst haben, dass das vielleicht Zeichen sind, dass wir aufgehört haben zu kämpfen… dass das sowas heißt wie: der Krieg findet nicht mehr statt, ist längst verloren und deswegen kommen von Innen auch die Bestrafungen nicht mehr. Verdammt! Ich habe echt Angst, dass da schon parallel längst ein zweites dunkles Leben hier läuft und ich es nur noch nicht gemerkt habe. Ahhh… und die erzählen mir was von: „Ist ja alles so super. Und wir haben jetzt überlegt, dass du doch mal halbtags in die Kreativwerkstatt gehen könntest und das neue Zimmer könntest du nun auch haben. Ahhhh!!! Das versteht doch kein Schwein mehr! Wer ist denn jetzt der Doofe hier? Immer das gleiche: mach ich den Mund auf ist Terror und Überreaktion und bin ich ruhig, ist alles super. „Tschakka! Wir schaffen das zusammen. Kraftblümchen!“ Ich könnte kotzen!„
Der Hammer war ja noch das Ende. Da meinte Kerstin:“ Еs ist normal, dass du und ihr auch erstmal noch lernen müsst, das Positive wahrzunehmen, zu fühlen und zulassen zu können!“
Na danke auch! Grrr Also alles ein Problem der Wahrnehmung… ahh ok. Danke für den Hinweis! Wenn es denn so einfach wäre…„
Ein Telefonat mit Frau Sommer und ihr großes Verständnis half Carlotta noch mal, ihren Frust loszuwerden. Danach bat Frau Sommer Carlotta, sich nun auf das Wesentliche zu konzentrieren, da sie die ganze Situation als brenzlig einschätzte. Und so kam es zu einem Notplan.
Solange kompetente Hilfe von außen ein Wunsch blieb, sollte sie versuchen, zumindest das, was da war, zu nutzen und ansonsten mit ihrem inneren Team allein zu arbeiten.
Das Programm umfasste: * Fragen wie: Wer kann die geflashten Personen finden, ihnen intern helfen? Wie? *Zusatzmedikation nutzen *Gut zum Körper sein * in der Therapie: Reorientierungstechniken besprechen *Frau Sommer wollte mit Herrn Schukow mal telefonieren *Imaginationsübungen in den Betreuergesprächen *Erinnerungen aufmalen/rausschreiben und wegtun, um den Druck erstmal rauszulassen und sich dann zu distanzieren.
Und so wurde der Abstand zu den Betreuern immer größer. Auch wenn Carlotta immer mehr Angst bekam.
„Ich habe gerade richtig Panik. Da ist irgendwas im Busch. Aber ich habe keine Ahnung. Nur ungute Befürchtungen. Nur woher weiß ich, was paranoides Gefühl oder berechtigtes Gefühl ist? Ich merke, dass sich unser Kampf verändert hat. Es ist regelrecht still. Ich habe ganz doll Angst, dass sich neben dem Alltag hier ein zweites „dunkles Leben“ aufgebaut hat oder sich gerade aufbaut und wir merken es wieder mal nicht. Schmerzen haben wir gerade eh… nur wie unterscheidet man alte von aktuellen Schmerzen??? Und ich merk, dass alles immer mehr dahin tendiert, hier gar nichts mehr zu wollen… unser Ziel „Ausstieg/Neuanfang“ verflüchtigt sich… und Gedanken, von hier weg zu gehen, hier hinzuwerfen, werden immer dringender. Angst hab ich auch vor den Gedanken, nur um etwas mehr ins Funktionieren reinzukommen, Hilfe gar nicht mehr zu versuchen. Denn ja, es stimmt, … so ist es immer gewesen. Haben wir nichts mehr dagegen getan, lief es zumindest im Alltag mit weniger Symptomen. Welten getrennt gehalten und gut war!
Ich weiß nicht …f*ck maaaan… warum finden wir denn keinen Platz in der hellen Welt? Ich hab es doch nun schon monatelang versucht. Vorschnell aufzugeben kann uns wohl keiner vorwerfen, hoffe ich zumindest. Das nützt doch alles nichts! Und das zu registrieren ist hart, denn eigentlich bräuchten wir gerade jetzt Hilfe. Nur so wie das hier läuft ist es doch auch kein Wunder, warum geschwiegen wird. Dazu sind die Schweigegebote im Kopf ganz extrem laut im Moment. Es läuft gerade ganz komisches Zeug und zersetzt uns… und ich versteh es nicht… und stoppen geht auch nicht. Hab Angst vor `nem heftigen Knall!„
Neue Erkenntnisse Geredet, erklärt, gebeten. Schweigen, Stopp!, Schweigegebote. Nicht verstehen, lächeln, „Tschakka“. Hoffnung verloren, keine Hilfe. Maske, dahinter das Verderben, die Pläne, erneutes Spiel ums Leben, verloren und hoffnungslos allein. |
So vergingen einige Wochen mit Schweigen, Angst haben, die Veränderungen wahrnehmen, aber nichts tun und dem Umzug in das größere Zimmer… bis in einem Telefonat mit Frau Sommer klar wurde, dass all die Ängste von Carlotta berechtigt waren. Jemand aus Carlottas System vertraute sich Frau Sommer an und berichtete, dass es nächtliche aktuelle Kontakte zu der Tätergruppe in Kleiningen gab. In Carlotta stürzte mit dieser Nachricht alles zusammen, weil es bereits nach 3 Monaten am neuen Wohnort Täterkontakt gab, doch im Heim berichtete sie auch davon nichts.
Zersprengte Traumbilder Vergangene Bilder, die noch bis vor Kurzem Halt und Stütze für den Kampf um den Wandel waren. Wunderbar leichte, kristallklare, bunte Erfüllung aller Träume, eine Chance auf ein Leben, Lachen, Freuen. Doch plötzlich so furchtbar spürbar, Bilder zerfetzen, Träume zerspringen wie Glas, Wünsche platzen mit einem mächtigen KNALL. Enttäuschung schmerzt tief, Hoffnung wird ausgelacht als Täuschung. Aller Mut auf einen weitergehenden Kampf wird weggewischt. Es scheint, als wäre unser Weg festgelegt, von Anfang an alle Auswege undurchführbar gemacht. So bleibt das Altbekannte als einziger Weg über, machtlose Marionette anderer zu sein. Eine Erleichterung der Situation durch eine absolute Akzeptanz. Stillung alles Flehens, Verbote aller Auswege, denn wenn der Seelenmord im Leben nicht tötet, tut es die Enttäuschung über zersprengte Traumbilder! |
„Es ist sooo eine Horrorzeit gerade wieder. Wir versuchen, irgendwie vor der erschreckenden Erkenntnis wegzulaufen. Müssen wir wahrscheinlich auch, weil es sonst nicht auszuhalten ist.
Es ist so bitter, schweigend das Funktionieren und Lächeln aufrecht zu halten. Wir gehen weiterhin in die Kreativwerkstatt, leben im neuen Zimmer… was ja Zugeständnisse waren, „weil es mit uns ja alles so gut läuft“ pfff… alles weiter… einfach stumpf weiter… würde ja eh keiner verstehen. Wahrscheinlich würde es nur noch verschlimmert werden, wenn die Helfer wieder in Panik verfallen.
Hatte jetzt echt schon gedacht, wenn die äußeren Bedingungen hier für uns mittlerweile genauso gefährlich sind, wie die in der alten Heimat, kann ich ja auch weg hier. Dort hätte ich zumindest Frau Sommer näher dran. Aber mir fiel siedend heiß ein, dass ich sowas ja gar nicht mehr zu entscheiden habe. Wir haben ja diesen doofen gesetzlichen Betreuer aufgedrückt gekriegt, der übrigens mit uns null redet, sondern immer nur mit dem Heim. Und der große Mist daran ist: der hat das Aufenthaltsbestimmungsrecht! Ahhh…
Manchmal stelle ich mir echt die Frage, wo mein Leben noch langlaufen soll. Wie oft haben wir das nun schon versucht? Wie viele Helfer und „Experten“ haben nun schon ihr Wissen bemüht!?? Kämpfe, Kämpfe, Kämpfe… im Auge behalten, dass man nicht an dem Außen oder Innen kaputt geht… und doch endet es immer wieder in der gleichen elendigen Scheiße. Ehrlichkeit scheint unerwünscht oder wir müssen uns dagegen entscheiden, weil wir mit dem Echo nicht klarkamen. Aber eigentlich will und braucht man Hilfe.
Ich habe da schon so viel dran rumüberlegt. Nur komme ich zu keinem vernünftigen Ausweg.
Selbst wenn Innens uns für verrückt erklären, sagen „das ist alles nur Wiedererleben… das ist gar nicht echt und jetzt“, funktioniert das nicht. Dafür ist es zu stark.
Ist das alles irgendwie noch zu schaffen? Oder ist das halt unser Schicksal!? Müsste man nur mal konsequent sein und Einschränkungen aushalten und alles riskieren? Müsste man immer die Richtung „da raus“ beibehalten und unbeirrt aller Kriege und aller Täler weitergehen? (So oft habe ich das genauso gehört – aber es ist halt Theorie, die sich immer einfacher und klarer anhört, als es sich dann in der Praxis darstellt!!!) Irgendwer hat sich dem Dunklen immer gebeugt bisher… Und ja, wir gehen zwar noch… aber halbherzig. Die Hoffnung ist so gut wie verloren und wir lassen uns unauffällig hängen. Ich mag es gar nicht sagen, aber der Tod als Ausweg ist wieder sehr nah. Was uns davon noch abhält, sind wahrscheinlich Träume (die total unrealistisch sind) und das blöde Gefühl, noch nicht mal das voll durchziehen zu können (irgendwer innen wird uns zu retten versuchen). Widerlich!!!
So kann das nicht weitergehen. Es muss ne Lösung oder ne Entscheidung her… und ich hasse uns dafür, dass wir selbst das nicht hinkriegen.„
Carlotta & Co hatten ihre Mühe und Not, mit dieser Situation umzugehen. Einerseits mit dem Wissen und der realen Tatsache zu leben, dass nachts für manche Anteile wieder die Hölle passierte, für andere Anteile ihr Ziel erreicht war, endlich wieder auf ihrem „richtigen Weg“ zu sein. Andererseits für viele Anteile in der hellen Welt, dass kein anderer Ausweg möglich erschien, außer nicht sichtbar zu werden oder auffällig zu werden, weil sie mit den Folgen der Reaktion anderer nicht klargekommen wären. Und so wurde die vorher schon große Schlucht zwischen Carlotta und dem Helferteam und besonders der Abstand zur neuen Bezugsbetreuerin Isa, bevor es zur richtigen Nähe hätte kommen können, immer größer und der Druck auf das System, zwischen den Welten zu stehen, ebenso.
Als Carlotta daran zu platzen drohte, vertraute sie sich in einem schwachen, unüberlegten Moment Jannis an. Seine Reaktion war, wie zu erwarten, schlimm. Er rastete regelrecht aus und versuchte, Carlotta zu erpressen. Er wollte, dass Carlotta & Co direkt zu den Betreuern gingen, um das zu erzählen, und die Polizei eingeschaltet werden müsste, ansonsten würde er das übernehmen. Carlotta versuchte, sich nach dem ersten Schock zu erklären, dass Hilfe holen bei nicht-kompetenten Helfern, die wahrscheinlich wieder völlig kurzgedacht reagieren würden, gerade zu dieser Zeit und in dieser Situation gefährlich sein würde.
Doch Jannis meinte, sie würde völlig falsch reagieren. Logisch und normal wäre, in dieser Situation schreiend zum Team zu rennen und etwas zu unternehmen. Und nicht stumpf dazusitzen, von den Gefühlen völlig abgespalten zu sein und zu grübeln.
Nach dem Telefonat schrieb Carlotta in ihr Tagebuch:
„Tja, was ist bei uns schon normal?? Es versteht keiner! Kein Mensch! Wir sind so allein und von allen Seiten bedroht. An jeder Ecke zieht jemand an uns und will Vorschriften machen oder uns erpressen. Wir hätten es wissen müssen. Schweigen ist nämlich doch Gold! Ich halte das Ganze bald echt nicht mehr aus. Ich würde mir nämlich wünschen, dass ich Hilfe bekäme. Nur nicht das, was die Leute hier unter Hilfe verstehen. Das, was hier unter dem Wort Hilfe angeboten wird, ist Gefahr und nichts anderes. Dass wir dann infolge der Ablehnung immer weiter in Täterkreise abrutschen… ach Mann, ja.
Aber wenn ich das Gezerre an allen Seiten erhöhe, durch ne falsche Entscheidung, dann gehen wir auch daran kaputt.
Und ich muss nicht nur das Gezerre im Auge behalten, sondern hauptsächlich auch die Bedrohung des Überlebens, wenn auf unsere Schritte Rache, Bestrafung oder Auslöschung folgt.
Und DAS versteht wiederum keiner. Wie auch? Die wissen nicht, wie die Täter sind, denken, funktionieren und wie skrupellos die sind, und die wissen auch nicht, wie steuerbar wir scheinbar noch sind. Ich verstehe das auch alles nicht vollumfänglich. Aber das, was ich weiß reicht aus!
Ich muss aufhören zu denken und zu schreiben, sonst nehme ich mir gleich einen Strick, um mich und uns zu schützen! Ja, ich weiß, klingt bestimmt schon wieder unnormal, ist aber so. Punkt.„
Frau Sommer versuchte, telefonisch an Carlottas Seite zu bleiben. Doch die Nächte und die Geschehnisse in diesen zeigten ihre Wirkung. Carlotta & Co konnten bald Vorschläge von Frau Sommer auch nicht mehr hören und zulassen und blockten völlig ab. Carlottas System hatte sich durch die Gewalt der Täter verändert.
Jannis versuchte, weiterhin Einfluss zu nehmen. Doch nach dem einmaligen ehrlichen Telefonat blockten Carlotta & Co sämtliche Versuche von ihm, darüber zu reden, ab. Sie verboten ihm sogar, weiterhin danach zu fragen, Druck zu machen oder sie zu erpressen. Anderenfalls, so sagten sie zu ihm, würden sie die Freundschaft wohl oder übel beenden. Sie würden bei ihm nicht noch einmal einen Alleingang akzeptieren.
Dunkle Mächte Dunkle Mächte haben bereits die Führung übernommen. Regeln das Handeln und Nicht-Handeln. Befehlen Schattengestalten ihr Grauen. Fesseln die Halbtoten und verlangen ihr dunkles Schweigen. Auswege verboten und unerreichbar gemacht. Hilfe gegen uns gewendet. Freundschaft zerstört, nur um zu leben und überleben. Doch ist das wertvoll? Lebenswert? Unerlaubte Fragen, denn sie brauchen uns. Was haben wir schon zu entscheiden? Alles vorbestimmt, gelenkt, gesteuert! Ein eigener Weg? Entkommen? Irgendwie? → So fern wie NIE zuvor. |
Für Carlotta & Co war dies eine extrem schwere Zeit, in der alles parallel verlief.
Tagsüber versuchte das Alltagsteam, so gut es ging alle Schotten dicht zu machen und ihre damalige Lebensrealität abzutöten. Abzutöten durch tägliche Wiederholungen von Routineverhalten, um nicht aufzufallen. Sie versuchte, bei Kontakten zu den Betreuern und Heimmitbewohnern unauffällig zu bleiben.
Sie ging weiterhin in die Kreativwerkstatt, versuchte bei den Mahlzeiten nicht aufzufallen, weil die essgestörten Innies ihrerseits ihre Kompensationsstrategie extrem nutzten. Sie ließ Selbstverletzungen zu, versuchte allerdings, das Ausmaß zu reduzieren, um unbedingt notwendiges Nähen zu vermeiden. Sie versuchte, Verletzungen so gut es ging allein zu versorgen. Für die Schnittverletzungen hatten sie sich Steristrips und Verbandsmaterial aus der Apotheke besorgt. Andere Verletzungen waren fast unmöglich wahrzunehmen. Alle Innies benutzten all ihre eigenen Strategien, um zu überleben.
Da gab es die, die besonders aufs Aussehen achteten und stundenlange Haar- Styling-, Schmink- und Foto-Sessions machten oder andere, die die Stereoanlage voll aufrissen und düstersten Blackmetal hörten und in Kissen gröhlten. Andere besorgten sich Alkohol, den sie auf die vollumfänglich genutzte Medikamentenpalette tranken. Wieder andere machten den „lauten Clown“ und hielten sich viel in der Gruppe auf.
Die extrem verängstigten, hoffnungslosen und suizidalen Anteile versuchten Carlotta & Co fern zu halten. Doch gerade in den Abendstunden kam es immer wieder zu Abstürzen, die das Alltagsteam aber immer versuchte zu verbergen.
Aus dieser Zeit stammt ein Gedicht (von Mathea)
Ich will mich zerstören, … weil ich mich hasse, … weil ich hässlich bin, … weil ich eklig und besudelt bin. Der Körper trägt so eine unheimliche Schuld und deshalb will ich ihn zerstören. Will alles vernichten, was an Erinnerungen da ist. Der verhasste Körper ist so schwer zu tragen. Er stört, er schmerzt auch, wenn ich ihm mal nichts antue. Also warum dann nicht die Angst, Wut und Schuld an ihm rächen? Ihm das antun und zurückgeben, was er mir beschert hat? Er ist schuld und da es mein Körper ist, bin ich schuld. Ich muss mich bestrafen. Der Schmerz tut gut, er nimmt die Last, er lässt mich büßen. Ich liebe mein Blut. Blut heilt. |
Carlotta schrieb in ihr Tagebuch:
„Wenn ich vorher schon Angst hatte, weiß ich jetzt kein Wort mehr dafür. Es ist nur noch schlimm, gruselig, chaotisch hoch tausend. Von Kontrolle weit, weit entfernt. Ich würde nicht mehr sagen: ich/wir versuchen, da durchzukommen und zu überleben, sondern irgendwas im Passiv… sowas wie: wir werden von irgendwas gesteuert und überleben – zufällig.
Und manchmal, da werde ich ganz traurig, wenn ich an die Opfer in uns denke. Also die, die den Horror live und ganz real ertragen. Da will ich nicht dran denken, da gehe ich automatisch gleich wieder auf Flucht… aber trotzdem habe ich immer wieder solche Momente. Wir sind auch echt nicht fair mit denen. Das weiß ich und das fühlt sich scheiße an. Manchmal lege ich mich hin mit dem großen Kuscheltier und versuch, zumindest da etwas Kleines zu tun. Ich halte das nur ganz schlecht aus und dann flüchte ich gleich wieder. Und wenn ich dann noch im Kopf höre „Das sind im Prinzip alles wir. Wir sind auch die Opfer. Diese Trennung in wir und die anderen, ist nur Dissoziation“,… dann krieg ich gleich das Rennen. Das hat alles so eine heftige Kraft. Es fühlt sich an wie eine große gewaltige Welle, die so unheimlich kraftvoll ist, dass sie uns umwerfen und zerbröseln wird. Ich schreibe schon wieder Quatsch…
Ach, aber es stimmt doch auch irgendwie… also beides… alles irgendwie.
Und ja, Jannis hat schon auch Recht irgendwie. Er hat Recht, dass wir eigentlich um Hilfe schreien müssten. Wie gern würde ich das tun… wenn, wenn, wenn… ewige Wiederholungen.
Es ist und bleibt erbärmlich!
… Und einfach zu viel parallel. Ich kriege es nicht hin. Ich fühl mich völlig überfordert und dumm. Alles voller Lücken. Wenn ich doch nur irgendeinen klitzekleinen Ansatz sehen könnte. Aber ich kapier auch einfach nicht, wie das bei uns genau funktioniert. Wer da wen abschaltet, wer losgeht, und die Täter dann den Rest entscheiden. Ich mein… eigentlich entscheiden die eh alles. Auch wenn die gar nicht sichtbar sind. Wieder zur Marionette gemacht. Na Prost Mahlzeit! 🙁 Ich muss wieder aufhören. Wahrheit muss wohl dosiert werden, sonst dreh ich ab.„
Es folgte, was abzusehen war. Jannis kam mit dem Wissen, dass Carlotta Täterkontakte zu ertragen hatte, und dem Frage-/Sprechverbot nicht klar. Als er es nicht länger aushielt, hilflos zuzusehen, rief er eines Tages im Betreuerbüro an und berichtete sein Wissen.
Daraufhin wurde Carlotta ins Betreuerbüro von Kerstin, die gerade Dienst hatte, zitiert. Als Carlotta von dem Telefonat mit Jannis berichtet wurde, geriet sie in Panik und Wut auf Jannis. Sie verstand nicht, wie er sie ein weiteres Mal hatte so hintergehen und ausliefern können. Ihr Verständnis, was sie sonst irgendwie auch für ihn hatte, denn sie war sich klar darüber, dass sie ihn in eine ganz miese Situation gebracht hatte, setzte aus. Ihr war erstmal nur wichtig zu hören, was das nun für Folgen für sie alle hatte. Kerstin sagte, dass sie jetzt erstmal keine klaren Aussagen treffen könnte, wie das Team weiter damit umgehen werde. Darüber müsste noch mal gesprochen werden. Aber Carlotta sollte doch bitte immer zum Team kommen, wenn sie schlimme Verletzungen feststellte oder wenn es anderweitig schlecht ginge.
Carlotta traute dem Ganzen nicht. Natürlich würde sie nicht zum Team gehen, solange sie keine feste Zusage hatte, was darauf folgen würde.
In der folgenden Therapiesitzung mit Herrn Schukow wurde klar, dass er bereits vom Team über die neuesten Erkenntnisse informiert worden war, was Carlotta ein weiteres Mal entsetzte, weil sie nicht gefragt wurde. Was aber noch obendrauf wirklich schlimm war, war seine Reaktion. 2 Sätze waren es, die dies sehr verdeutlichten und Carlotta fassungslos machten. Er sagte: „Ich habe mich erkundigt. Es gibt so eine Sekte wirklich hier in der Stadt! Da müssen sie vorsichtig sein!“, und im Laufe der Stunde noch, kopfschüttelnd wohlbemerkt: „Sie sind wirklich so unterschiedlich!“
Im Tagebuch notierte sie zu dieser Zeit:
„Ich dachte, es geht nicht schlimmer. Aber doch… es ist doch alles nicht zu fassen. Jannis mit seiner saublöden Aktion wieder! Jetzt kann er echt bleiben wo der Pfeffer wächst. Helfen wollen – schön und gut – aber bitte mal den Kopf einschalten dabei! Mann Mann… egal wie das gemeint war und in welch scheiß Situation wir ihn gebracht haben, weil ich dumme Kuh zu schwach war. Das geht einfach nicht. Eigenaktionen machen alles kaputt und nun dürfen wir wieder in noch mehr Angst leben. Klar… schlagt doch alle gleichzeitig zu!! Bitteschön.
So, und nun zu den Betreuern. Die haben sich jetzt beraten. Nicht, dass ich es schon echt schrecklich finde, dass nun alle im Team sowas wissen und uns komisch angucken. Nein, die haben erstens Herrn Schukow mal wieder ohne uns zu fragen informiert und sagen nun als einzige Aussage: Wir machen erstmal gar nichts (gemeint ist damit Anzeige oder Psychiatrie), wir beobachten und beraten uns dann aktuell, je nachdem, wie das jetzt weitergeht. Aber wir sollen jetzt immer kommen, wenn wir was an uns feststellen und es uns schlecht geht. Klar! Gar nichts! Gar nichts… nicht das kleinste Stück haben die verstanden. Denn das „Wir machen erstmal gar nichts“ mit dem Zusatz „wird aktuell entschieden“ ist nämlich nichts, auf das man sich verlassen kann. Und wenn ich das mit Schukow informieren und nicht vorher fragen noch mit einrechne, dann haben die null Vertrauen verdient.
Und der Schukow hat sich selbst disqualifiziert. Wie kann man sowas sagen, wenn man gleichzeitig behauptet, man kenne sich aus!? Frau Sommer ist übrigens unabhängig von den tollen 2 Sätzen der gleichen Meinung. Sie sagt, wir sollen uns nach neuen Theras umgucken. Sie hatte mit Herrn Schukow telefoniert, so wie das vor Wochen abgesprochen war, und war wohl nicht so überzeugt. Was wohl auch kein Wunder ist!
Juchu! Ist es nicht wunderbärlich? Alles erledigt sich von selbst! Alles zerlegt sich um uns rum.
Ach, und die Betreuer hatten dann ne neue lustige Idee. Die standen dann mit allen Dingen, die sie wegen Sicherheitsregeln weggeschlossen hatten, vor unserer Zimmertür und haben uns die wiedergegeben. Mit den Worten: Jetzt müssen wir neu überlegen, da der erste Plan gescheitert ist.
Was das gemacht hat, kann ich kaum beschreiben. 🙁
Und ich muss jetzt auch schon wieder aufhören zu schreiben… ich halte den Irrsinn nicht aus.
Leute, wir müssen jetzt extrem aufpassen, ok?„
Carlotta & Co steckten ganz schön in der Klemme und waren sich dessen auch sehr bewusst, auch wenn das Alltagsteam gar nicht vollumfänglich alles mitbekam, was wirklich passierte. Anhand der Überbleibsel von Symptomen, Schmerzen oder Gefühlen hatten sie aber genug Anhaltspunkte, um sich bewusst zu sein, dass die nahenden Weihnachts- und Neujahrsfeiertage gefährlich werden würden.
Aus Mangel an Alternativen gaben sie dem Drängen von Jannis nach und nahmen sein Angebot, die Feiertage bei ihm zu verbringen, wahr.
In einem Gespräch vorher mit Levi fühlte sich Carlotta sogar annähernd wahrgenommen und verstanden. Er sagte zum Abschluss nämlich Folgendes: „Oh Mann, ich würde euch einerseits manchmal gern eine klatschen und sagen: „Ihr seid doch voll verrückt, das so laufen zu lassen und nichts zu tun. Weil sich doch jeder Tag ohne Gewalt lohnt zu kämpfen. Und dann im nächsten Moment würde ich euch gern tröstend in den Arm nehmen.“, und Carlotta konnte endlich mal weinen.
Das Gespräch mit Levi und auch der Mangel an Hilfsalternativen ließ sie hoffen, dass ihr nächstes Jahr vielleicht irgendwie besser werden würde. Nur wie das genau aussehen sollte, wussten sie alle nicht.
Zwischen den Feiertagen, die mit und bei Jannis ganz glimpflich verlaufen konnten, besuchten Carlotta & Co auch für 2 Stunden Frau Sommer sowie Sunny und Enno. Das tat Carlotta sehr gut und gab etwas neue Kraft.
Doch schon wenige Tage zurück in der neuen Heimat und nach einem Übergriff kippte das ganze wieder.
Carlotta notierte einen inneren Dialog:
„Es ist einfach so schlimm! Ich könnte nur heulen. Wir haben uns ja vorgenommen ein inneres Team aufzustellen, was aufpasst, dass wir nicht mehr abrufbar sind… oder das zumindest registriert, was da passiert, um da irgendwann einmal eingreifen zu können. Doch nichts… es nützt nicht. Knall! Peng! Weg! Ende… nichts mit aufpassen. Da ist nichts möglich. Null!
Und es fühlt sich so unendlich verfahren an. Alle Wege scheinen so aussichts- und sinnlos zu sein und nur ein böses Ende zuzulassen.
Egal wie wir es drehen oder wenden, egal was wir versuchen, egal wie wir kämpfen, wir kommen nicht weiter. Wir rutschen immer tiefer und tiefer und werden bald daran kaputtgehen.
Und diese Augen-zu-Taktik vom Alltagsteam, mal ehrlich, das ist doch auch völlig mistig.
Innen ist doch auch schon alles kaputt… es tut so weh und ist so chaotisch!
Wir allein kriegen es nicht hin und keine Hilfe von außen kann uns helfen –
auch weil es nicht sein darf!
Aber sollen wir wirklich in unseren Tod laufen und so tun, als würden wir nichts merken? Einfach aufgeben und lächelnd daran zu Grunde gehen? Wir müssen die Kids und unseren Körper doch schützen! Das ist doch nicht fair! Aber da gibt es keinen Weg verdammt. Hier ist keine weitere Sicherheit möglich. Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt keinen Platz für uns! Es ist so dunkel und grausam. Es scheint so, als könnten nur wir selber uns von so etwas erlösen. Bevor wir daran sterben, dass es so weitergeht, lieber selber den Gnadenstoß geben. Dass wir endlich Ruhe haben und aus dieser grausamen Welt abtreten können. Vielleicht können diese Fesseln der Sekte nur durch unseren Abgang getrennt werden.
Wir können und wollen so nicht mehr. Es gibt keinen guten Weg.
Das alles jetzt so zu lesen… und nichts mehr zu haben: keine Vergangenheit mehr zum Anknüpfen, denn Frau Sommer sagt, wir dürfen nicht zurück… und eine Gegenwart: nur schwarz, keine Hilfe, keine gehbaren Wege, keinen Schutz, keine Hoffnung auf Veränderung… sondern nur: Schmerz, Angst, Verletzungen, Qual, Gesteuert-Sein… das ist so… ich finde kein Wort dafür.„
Doch sie kämpften weiter.
In ihrer Not versuchten sie als letzten Versuch, allein und in Eigenverantwortung weiter zu kommen: das innere Aufpasserteam immer stärker zu aufzustellen und parallel mit den Dunklen über ein neues Kontaktbuch in Kontakt zu treten, um zu reden.
Das ging aber soweit über alle Kraft- und Nerven-Ressourcen, dass sie Tage später in der Gemeinschaftsküche bei den Abendbrotvorbereitungen einfach zusammenklappten.
Ihnen wurde schwummrig, die Atmung wurde schwer und sie fielen einfach um, hyperventilierten und krampften. Kerstin, die anwesend war, rief sofort den Notarzt, der nach kurzer Zeit feststellte, dass Carlotta nicht ansprechbar und krampfig war, aber alle Werte ok waren. Er entschied, eine Tüte vor Carlottas Nase und Mund zu drücken, was ein übliches Vorgehen bei Hyperventilation ist, allerdings bei Carlotta einen zusätzlichen Trigger darstellte. Glücklicherweise bemerkte das Kerstin, als sich der Notarzt wunderte, dass sich der Zustand von Carlotta nicht verbesserte, sondern eher verschlechterte, und brach das ab. Stattdessen versuchte Kerstin es dann mit Reorientierungstechniken, was auch nach einigen Minuten gelang. Der Notarzt wollte Carlotta eigentlich ins Krankenhaus zur Überwachung mitnehmen. Aber nach einer kurzen Absprache durfte Carlotta im Heim bleiben unter der Bedingung, dass regelmäßig nach ihr geguckt wurde.
An dieser Hochbelastungsgrenze verging wieder einige Zeit, in der Carlotta & Co unermüdlich versuchten, mit sich selbst auf einen grünen Zweig zu kommen und sich zumindest abends gute Begegnungen und entlastende Stunden mit ihren Mädels und Nika zu beschaffen. Zusätzlich hatten sie noch von Frau Sommer eine neue Therapeutenliste für ihre Stadt bekommen, die sie alle anschreiben wollten.
Wie zu erwarten gab es in dieser ersten Zeit der alleinigen Auseinandersetzung miteinander Unmengen von Schwierigkeiten, Chaos, Unruhe, Verletzungen aus Bestrafungen und Krieg untereinander. Das Kontaktbuch füllte sich mit wüsten Beschimpfungen, Drohungen und komischen Glaubensbekundungen zu Satan. Eine wirkliche Kommunikation, ein Austausch und eine Reaktion auf Fragen fand nicht statt.
Jannis, der auch immer wieder erfragte, wie es voranging, und der erst gesagt hatte, dass er froh wäre, dass sie nun anfingen, etwas ändern zu wollen, machte aber bald wieder Druck, weil es ihm zu langsam ging. Nach einer Standpauke von Carlotta, doch nun endlich mit dem Druck aufzuhören, machte er sich wieder selbstständig und rief erneut beim Betreuerteam an, um sich Luft zu machen, dass es nicht sein könnte, dass sie nichts tun würden. Daraufhin rief er Frau Sommer an und machte auch ihr Druck, doch endlich da mal einzugreifen. Und im Anschluss rief er auch noch die Polizei an, um zu erfragen, was denn aus den Anzeigen und Ermittlungen geworden wäre und dass er wünschte, dass sie sich beeilen und dem Fall oberste Priorität geben, da Carlotta dauerhaft unter den genannten Personen und genannten Taten zu leiden hätte.
Das alles hatte zur Folge, dass die Betreuer reagierten, und aus „wir müssen dann gucken, wie es weitergeht und dann aktuell entscheiden“ wurde ein „wenn wir etwas an euch feststellen, können wir das natürlich nicht tolerieren, das wäre rein rechtlich unterlassene Hilfeleistung in einer Einrichtung, in der wir verantwortlich für euch sind“ und zusätzlich ein Kontaktverbot zu Jannis, da Carlotta und Co ziemlich heftig reagierten.
Frau Sommer verlangte einen umfassenden, ehrlichen Brief mit allen Details, die möglich waren, zu den nächtlichen Übergriffen.
Und Carlotta versuchte in totaler Panik, durch all das, aber besonders durch das Wissen, dass Jannis erneut irgendwas bei der Polizei erzählt hatte, ihren gesetzlichen Betreuer loszuschicken, um Erkundigungen einzuholen, was das nun bei der Polizei ausgelöst hatte.