Teil 15

Schwere

Die erste Zeit wieder zurück im Wohnheim fiel Carlotta & Co sehr, sehr schwer. Das Alltagsteam war weiterhin sehr wackelig und instabil. Immer wieder hatten sie unter Panikattacken mit heftigen Körpersymptomen und einschneidenden Aussetzern mit Selbstverletzungen, völliger Bewegungslosigkeit, Ohnmachten und tiefgreifenden dissoziativen Zuständen zu kämpfen.

Insgesamt verunsicherte das Carlotta immer mehr, so dass sie regelrecht dauerhafte Angst vor Kontrollverlusten hatte. Dies sogar in Situationen, die früher keinerlei Probleme darstellten.

Der Körper fühlte sich an, als würde er dauerhaft innerlich zittern, hätte eine innere explosive Energie und Druck. So beschrieb sie es. Und damit konnten sie nicht gut umgehen.

Sie versuchten es durch nicht allein-sein und nicht in-Ruhe-sein zu kompensieren. Doch das kostete extrem viel Energie und Pausen waren nicht möglich. Kaum herrschte äußere Ruhe, hatte sie das Gefühl von innerem Beben und Kribbeln.

Das alles auf Dauer machte ihnen Angst vor der Zukunft, dem Tag, der Nacht und total macht- und hoffnungslos ergeben. Sie wussten keine Lösung, obwohl sie versuchten herauszufinden, ob es von Innen irgendwelche Hinweise darauf gab, wie sie ihren Zustand hätten verbessern können.

Sie hatten vor sich selbst und ihrem Zustand zunehmend Angst. Und das Alltagsteam hatte gehörigen Respekt vor den täterloyalen Anteilen bekommen. Sie fühlten sich bedroht, eventuell irgendwann nicht mehr zu existieren als Alltagspersonen. All das vorherige Chaos war nichts im Vergleich zum derzeitigen Zustand. Das vorherige Chaos war im Groben und Ganzen schon bekannt. Aber das „neue“ Chaos fühlte sich riesengroß, unbeherrschbar und undurchschaubar an. Sie waren zu diesem Zeitpunkt mit Essen, Trinken, Körperpflege, „Atmen“ und all dem Inneren schon so an ihren Grenzen, dass bei Anforderungen wie Sozialkontakten (und so sehr hätte Carlotta sich gewünscht, mit den Mädels Ablenkung zu bekommen), Betreuungsgesprächen, Telefonaten überfordert waren.

Zu dieser Zeit etablierte es sich auch, dass Carlotta nicht mehr ihrem Zimmer schlief. Jede Nacht baute sie sich ihre Schlafstätte im Mädchenwohnzimmer und bat die Nachtbereitschaft, bei ihnen öfter mal Kontrolle zu laufen. Sie hatten Angst in ihrem Zimmer hilflos und unentdeckt zu liegen.

Aus ihrem Tagebuch aus dieser Zeit ist folgendes zu entnehmen:

„Es fühlt sich so schlimm an. Wir bemerken immer wieder, dass wir an dem Zustand nichts verändern können, so sehr wir uns auch anstrengen. Nicht mal ansatzweise greift da gerade irgendeine Strategie. Das macht so große Angst. Manchmal bin ich so erschöpft, dass ich daran denke, alles hinzuwerfen und dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Nicht weil ich mich umbringe, sondern weil ich einfach nicht mehr kämpfe und mich oder uns voll dem Dunklen hingebe… Hier auch ausziehen, denn hier gibt´s statt Unterstützung nur Druck… sich isolieren und dann halt nur noch die Zeit leben, die uns zugestanden wird. Ich kann einfach nicht mehr. An allen Ecken und Kanten zerren unterschiedlichste Menschen an uns. Zu einer Seite die „Helfer“ und auf der anderen Seite die Täter. Ich hänge hilflos dazwischen und kämpfe mit den Symptomen, die dieser Kampf auslöst.


Ach F*ck Mann… das ist doch kein Leben! Wir haben grad null, nichts, nada zu entscheiden und werden so terrorisiert, dass wir den Alltag nicht mal hinbekommen und von einem Anfall in den nächsten kippen.“

Als es kurze Zeit später zu einem erneuten Übergriff durch die Täter kam und Carlotta zu starke Verletzungen feststellte, um es wie sonst üblich zu verschweigen, erfuhr sie wieder einmal eine Enttäuschung durch das Betreuerteam.

Tagebuch:

„So viel geschehen, dass man kaum hinterher kommt. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch Lücke von 1 bis 4 Uhr… stehen plötzlich da an den Bahnschienen, Schmerzen… Nach der ersten Verwirrung sind wir dann nach Hause gelaufen. Haben erstmal geduscht und gewartet bis wer im Haus wach wurde.

Haben uns so schwer getan mit der Entscheidung, weil wir so Angst hatten, dass die Polizei eingeschaltet wird. Wollten eigentlich nichts sagen. Aber was sollte ich sagen, wo die Verletzungen herkamen, die eindeutig versorgt werden und untersucht werden mussten?? Naja… und so hab ich es dann gesagt und hab Schmerzmittel verlangt.

Als ein anderer Betreuer dann in den Frühdienst kam, fuhr er mit uns dann ins Krankenhaus. Oh Mann … was für ne Tortur wieder 🙁 es war sooo schlimm. Ein Weggetriggere am laufenden Band.

Naja… festgestellt haben sie einige starke Prellungen und Quetschungen, punktuelle Verbrennungen 3. Grades der Zunge , dann haben wir noch wg. der Hand ne Gipsschiene zum Ruhigstellen bekommen. Und untenrum halt… ich will nicht drüber reden 🙁
Ich hab echt sooo geheult. Ständige Fragen, Warten, Erklärungsversuche. Mussten auch noch mit nem Psychologen reden. Dieser hat uns mit dem Betreuer aber gehen lassen nach der Behandlung.

Alles Kacke! Erstmal geschlafen dann, und dann, als Isa und Kerstin in den Dienst kamen, mussten wir zum Gespräch. Die haben dann verlangt, dass wir freiwillig in die Geschlossene gehen.

Fühlten uns nur noch verraten. Wenn man Ruhe und Zuwendung braucht, dann wird man weggeschickt. Wollten da auf keinen Fall hin. Dann wollten sie den Amtsarzt holen. ERPRESSUNG ZWANG!!!

Aber nicht mit uns! Wir haben intern voll die Panik gehabt. Einige wussten nämlich, warum und wozu  dieser Übergriff war und was die Verletzung der Hand für eine Aussage hat. Es hat mit unserer Patenschaft zu tun. Und wir können das nicht verantworten, jetzt noch mal in die Klinik zu gehen und womöglich noch wen anderes zu gefährden, der oder die statt uns dann… nee. Kann ich nicht.
Ich hab dann gesagt: Ich geh, dann seid ihr mich los. Habe erst Jannis angerufen, aber der drohte gleich wieder mit der Polizei, und dann halt Torben. Der war auch echt so cool und hat sich sofort ins Auto gesetzt und hat uns abgeholt.

Um dann loszudürfen, haben wir eine Kündigung geschrieben, und dabei voll geheult.

Tja, und nun bin ich hier bei Torben. Alleine in seiner Wohnung, er ist bis 15 Uhr arbeiten. Dann muss noch ne Menge organisiert werden. Ich brauche Rezepte über meine Medis und vor allem auch Novalgin. Die Blödsäcke haben mir einfach keine Medis mitgegeben. Und zu nem Gyn muss ich auch noch. Mir die Pille danach besorgen. Das wird dann genug für heute sein, ich bin so fertig. Wenn ich schon mal hier bin möchte ich auch Frau Sommer sehen.“

Ein kurzer Ausbruch

Nach dem ersten Tag bei Torben waren Carlotta & Co zu Jannis in die Wohnung gegangen und haben dort zwei weitere Tage verbracht. Die Zeit gestaltete sich allerdings sehr anstrengend für Carlotta & Co, denn Jannis war durch die neuesten Ereignisse wieder so besorgt und aufgebracht, dass er ihnen ewig in den Ohren hing, mit den Worten „Das geht so nicht!!!“, „Tut was!!!“.

Am zweiten Tag hatten sie einen Termin bei Frau Sommer. Sie besprachen, einen über dem System schwebenden Beobachter zu installieren, der im System nach Lücken bezüglich Sicherheit und Täterkontakt suchen sollte. Und nach einem Anteil, der dieses dann nach außen mitteilen sollte. Sie vereinbarten auch, einen Brief an Herrn Ahlfeld zu schreiben. Diesen Brief schrieben Carlotta & Co (6 gedruckte Seiten) innerhalb weniger Stunden.

Sie nahmen allen Mut zusammen und fuhren zur Traumaklinik von Herrn Ahlfeld, um den Brief dort persönlich abzugeben. Sie wollten diese Gelegenheit nutzen, um auszutesten, wie sich Klinik in ihrem System anfühlen würde. Nach einem kurzen Gespräch mit einer ihnen bekannten Schwester und einem okayen Grundgefühl fuhren Carlotta & Co und Jannis wieder zu ihm in die Wohnung.

Sie waren sehr aufgeregt und gespannt, wie Herr Ahlfeld darauf reagieren würde. Und gleichzeitig stolz, es geschafft zu haben. Am darauffolgenden Tag wurden Carlotta & Co wieder nach Kleiningen ins Heim zurückgebracht.

Wiederkehrende Enttäuschungen

Die Stimmung der Betreuer, insbesondere die von Kerstin, war bei Carlottas Wiederkehr etwas unterkühlt. Sie fühlten sich regelrecht links liegen gelassen. Und so ging sie einfach an ihnen vorbei, packte die Sachen wieder alle aus, und holte sich aus dem Betreuerbüro ihren Notfallpieper. Sie musste einen Suizidvertrag unterschreiben und bekam die Rückmeldung, dass wegen der Kündigung in den nächsten Tagen gesprochen werden würde.

Einen Tag nach ihrer Ankunft schrieb sie in ihr Tagebuch:

„Jetzt sind wir gerade mal einen Tag hier und wir fühlen uns sooooo alleine. Die Betreuer halten alle Abstand. Hätte so ein Bedürfnis, mal mit jemandem ausführlich zu reden. Aber dazu kam es bisher noch nicht. Es kommt mir echt so vor, als würden die uns bestrafen. Und Aussagen darüber, was die nun vorhaben, treffen die auch nicht vor der Dienstbesprechung.

Ich weiß echt nicht… Gestern bin ich die ganze Zeit durch die Gegend gelaufen, und dachte „ich will einen Trostplatz. Ich möchte auch mal über was weinen dürfen. Aber was ist? NIX! Alle meiden mich, als hätte ich irgendwas verbrochen.“

Es tut so weh,
wenn es weh tut.
Es tut so weh,
wenn man nicht vertrauen kann.
Es tut so weh,
wenn uns nicht vertraut wird.
Es tut so weh,
wenn man nicht mehr glauben kann,
… hoffen kann
… und darf!!!
Es tut so weh,
wenn die Worte
„wir können nicht“
als „wir wollen nicht“ verstanden werden.

Als Isa und ihre Kollegen einen Tag später, gegen Mittag, von der Dienstbesprechung kamen, waren Carlotta & Co schon völlig am Ende. Seit Stunden hatten sie mit extremer Aufregung gekämpft wegen des Ergebnisses der Dienstbesprechung bezüglich der Kündigung. Es ging immerhin um eine wichtige, existenzielle Frage.

Doch Isa teilte ihnen mit, dass sie nun in den Feierabend gehen würde, und sie morgen reden würden. Und dass auch die Arztbegleitung zum Gipsabbau von keinem Betreuer begleitet werden könnte. Carlotta & Co reagierten dementsprechend wütend. Sie sagte Isa, wie menschenverachtend und rücksichtslos sie diese Entscheidung fanden. Da sie aber recht schnell bemerkten, dass es hierbei keine Chancen zur Diskussion gab, stampften sie wütend davon.

Einen Tag später war es dann soweit. Isa teilte Carlotta & Co mit, dass die Kündigung, mit einer Frist von drei Monaten weiterhin Bestand für sie hätte. Eine Chance zu bleiben bestehe nur, wenn sie in den verbleibenden zweieinhalb Monaten eine deutliche Veränderung  und verbesserte Situation sehen könnten.

Kurz nach dieser Mitteilung entstand dieser Tagebucheintrag:

„Fuck, fuck, fuck!

Die Entscheidung von denen, dass die Kündigung Bestand hat… puuh… das wird alles so fürchterlich egal. Und wenn die uns wirklich rauswerfen, werden wir alle Hilfe und Vorbereitungen zum Auszug ablehnen. Und wenn die jetzt mit Regeln kommen, die nicht gehen, und voll der Druck kommt und ein Reden darüber nicht möglich ist, wird das alles nicht so nett werden.

Zuerst war ich noch sauer mit dem Gedanken, „das Spielchen mache ich nicht mit. Dann gehe ich sofort!“. Was denken die, mit Druck erreichen zu können? Die haben uns alle verraten und verlassen! Mal wieder ist ein „zu Hause“ kaputtgegangen. Tja, dann machen wir halt alles alleine und gehen lieber alleine unter, als mit irgendwelchen Leuten, die keine Ahnung haben, aber entscheiden wollen.

Ich war dann auch etwas fies, und schrie herum:  „Na dann sortiert ihr die schwierigen Fälle ja im Moment gut aus!“. Denn ich habe echt das Gefühl, Ja-Sager und Bewohner, denen das Wort „Ich bin so ein armes Hascherl“ auf die Stirn geschrieben steht, werden hier mit Kusshand versorgt. Alles, was zu kompliziert ist, wird aussortiert.

Nach der Wut kam die Traurigkeit, so dass ich kurze Zeit später nur noch am Heulen war. „Ich will hier nicht weg! Ich kann nicht mehr! Ich kann im momentanen Zustand nicht kämpfen! Alle Kraft wird gerade fürs Überleben gebraucht! Die Dunklen haben zu viel Macht!“.

Ich will nicht ständig auf Flucht gehen, und dann immer wieder neu scheitern. Da sind so viele Fragen jetzt. Wie geht das weiter in der Zukunft? Das macht mich total verrückt im Kopf. Und wenn das alles zu viel wird, ist das taube Ertragen wieder da. Alles egal. Schicksal. Ist halt so.

Mal ehrlich, es ist doch wirklich unmöglich in zweieinhalb Monaten irgendwas Grundlegendes zu verändern, was Jahre vorher nicht geklappt hat, selbst wenn wir Kraft hätten. Wo ist die Unterstützung? Himmelherrgott! Was tun? Am liebsten stumm, taub, bewegungslos dasitzen, keinen Schritt mehr tun, denn jetzt wird jeder Schritt nur noch lebensgefährlicher. Ich fühle mich durch und durch verraten und alleine.“

Dieser ganze Zustand saugte Carlotta & Cos Akkus nur noch und noch mehr leer. Das Gefühl von drohender Heimatlosigkeit und bald gänzlich fehlender Unterstützung machten Carlotta & Co total traurig und verzweifelt, aber erzeugten auch ein Gefühl von Vogelfrei-Sein, machten instabil und ließen destruktive Gedanken echt groß und mächtig werden.

Allem zum Trotz, aller Verzweiflung und drohender Aufgabe, schrieben Carlotta & Co einen langen Brief an Frau Huskamp, die DIS-Expertin. Sie erhofften sich von ihr Ratschläge für das weitere Vorgehen.

Diese Drucksituation erinnerte Carlotta & Co schon fast an Täterverhalten. Sie musste, durch die Betreuer „gezwungen“, drei Traumakliniken anschreiben, bekam die Aufgabe, die Vorbedingungen zur Aufnahme bei Herrn Ahlfeld zu erarbeiten.

Carlotta schrieb daraufhin in ihr Tagebuch:

„So anstrengend, was die alles von uns wollen. Wir wollen ja auch zeigen, dass wir wollen. Doch alles läuft nur halbherzig. Aus Angst einen Kampf mit der anderen Seite zu eröffnen. Wir hopsen eigentlich von einer Seite zu der anderen. So manche Nacht war schon wieder grausam. Wir hopsen hin und her, um niemanden zu verärgern und um Bestrafungen aus dem Weg zu gehen. Um alle relativ zufrieden zu stellen.

Wenn wir aber danach gehen, was wir derzeit könnten, wäre das nichts. Denn der Spruch, „ich kann nicht mehr“, ist keine Ausrede, Angstaussage, Unwille oder sonst was, sondern echt. Wir sind tief, tief unten. Darauf geben die Betreuer hier aber nichts. Es gibt keinen Trost und keine Zuwendung.

Die Hämatome verblassen. Die Gipsschiene ist ab. Die Medis vom Suizidversuch sind ausgestanden, der totale Systemabsturz, und die Fixierungen vorbei… Doch das Herz, die Seele und Erinnerungen bluten noch.“

In den darauffolgenden Tagen entstand die Idee, eine Stabilisationsphase in der Klinik zu planen.

In Carlottas Tagebuch klang der Prozess der Entscheidungsfindung folgendermaßen:

„Man könnte echt meinen, „Jetzt sind sie völlig durchgedreht!“.

Isa wollte dann recht schnell eine Ja- oder Nein-Entscheidung, für oder gegen den Klinikaufenthalt.

Das Gespräch war dann eher kein Gespräch, sondern eine zweistündige Debatte, mit drei Entscheidungspausen und zehntausendmal Ja und Nein.

Das ging echt von „Fuck off!“, „Ihr habt eh vor, uns rauszuschmeißen, also warum?“, „Das bingt eh alles nichts! Und auf Dauer wird das hier eh nichts.“.

Bis hin zu „Ich will, aber ich kann nicht.“, „Ich habe Angst.“, „Mit Druck geht gar nichts. Dieses Spielchen machen wir nicht mit.“, und „Ich geh jetzt und schlafe, und entscheide gar nichts.“.

Oder *heul* „Wir haben keine Chance. Wir wollen hier nicht weg.“.

Und zum Schluss hat dann „Okay, wir versuchen es, wir haben nichts zu verlieren.“ gesiegt.

Wir glauben zwar nicht dran, aber hoffen.“

In den Tagen vor der Aufnahme versuchten Carlotta & Co alles daran zu setzen, den Klinikaufenthalt möglichst gut vorzubereiten. Sie machten eine Liste mit Arbeitsaufträgen für die Therapie, erstellten eine Mappe mit kopierten Imaginationsübungen, listeten ihre bis dahin bekannten, destruktiven Innies auf und beschrieben den bestmöglichen Umgang mit ihnen.

Als die Betreuer sahen, dass Carlotta & Co arbeiteten, reagierten sie fast fürsorglich. Sie teilten ihnen mit, dass ihnen ganz wichtig sei, dass Carlotta & Co immer Bescheid sagten, wenn sie Hilfe benötigten. Sie würden sogar davon absehen, die Polizei einzuschalten, wenn etwas trotz Sicherheitsmaßnahmen passieren würde. Dass sie allein sehen wollten, dass Carlotta & Co aktiv für ihre Sicherheit kämpften.

Und so schrieben Carlotta & Co noch eine weitere Liste mit einer Aufzählung von Sicherheitsmaßnahmen, die sie von alleine schon machten.

Während dieser ganzen instabilen Zeit war die Therapie bei Herrn Kübler keineswegs unterstützend. Viel eher arbeiteten sie sich immer wieder daran ab, ob Herr Kübler dem Ganzen gewachsen war und die Therapie weiterführen wollte oder nicht. Es stand ganz oft auf der Kippe.

Nachdem Carlotta sich aber in einer Therapiestunde Äußerungen wie: „Ihr spielt Opfer und Täter gleichzeitig.“, und, um noch einen oben drauf zu setzen: „Habt ihr Gefallen an beidem?“ anhören musste und Herr Kübler dann auch noch über Carlottas Outfit diskutieren wollte (wie schon Herr Ahlfeld zuvor), war für Carlotta eigentlich schon klar, dass es mit diesem Therapeuten keine Zukunft geben würde.

Der zweite Klinikaufenthalt in der Geschlossenen in Kleiningen

Carlotta & Co bekamen ein Zweibettzimmer.

Der blöde Zufall dabei war, dass sie in genau das Zimmer kam, in dem sie bei ihrem ersten Aufenthalt vier Tage in Dauerfixierung lag. Der Anblick des Zimmers sowie das Bild an der dem Bett gegenüberliegenden Wand lösten sofort unangenehme Gefühle aus. Sie bat darum, schnellstmöglich in ein anderes Zimmer verlegt zu werden.

Das konnte das Pflegepersonal auch wenige Tage später ermöglichen. Von ihrer neuen Bezugsschwester, Frau Haiken, hatten Carlotta & Co einen echt guten ersten Eindruck. Sie hatte sich auch dafür eingesetzt, das Zimmer wechseln zu können, nicht nur wegen der triggernden Umgebung, sondern auch, weil ihre Zimmernachbarin auch DIS hatte und sie beide sich gegenseitig zum Switchen triggerten.

Schon bald führten Carlotta & Co ein Telefonat mit Herrn Ahlfeld.

Herr Ahlfeld wirkte bei diesem Telefonat nett, aber auch sehr abgeklärt.

Er sagte: Eine Aufnahme wäre, wenn überhaupt, nur mit Vorgespräch möglich, in dem geguckt werden müsste, ob sie alle Therapiebedingungen erfüllen würden. Dann wäre eine Aufnahme nur mit Start auf der geschlossenen Station möglich. „Sie seien ja vorsichtig geworden, und hätten Vorerfahrungen, und müssten das von Auge zu Auge abklären. Sie müssten sich ihre Kräfte auch sparen. Ob das überhaupt Sinn machen würde.“

Carlotta & Co versuchten, sich neben dem anstrengenden Klinikalltag  auch viel ins Zimmer zurückzuziehen und in ihrem Therapiebuch systeminterne Informationen und Abläufe zu ihrer Sicherheit und dem Ausstieg zu erarbeiten.

Doch die Arbeit an dem Thema Sicherheit brachte bald eine Bestrafung in Form von Schneiden mit sich. Sie traute sich zuerst nicht, das zu zeigen, und hätte es lieber selbst versorgt. Aber da sie kein Verbandszeug hatte, musste sie es letztendlich doch vorzeigen, um es versorgen zu lassen. Dazu musste sie wieder zum Nähen ins Krankenhaus.

Sie schrieben auch einen Brief an Herrn Kübler und versuchten, ihm klarzumachen, wie seine Aussagen auf Carlotta & Co gewirkt hatten. Eigentlich hätte sie gerne die Therapie abgebrochen, da sie keinen Sinn darin sah, bei einem so denkenden Menschen noch etwas zu klären. Aber sie durfte nicht. Die Wohnheimbetreuer bestanden darauf, dass sie die Therapie mit Herrn Kübler weiterführte.

Carlotta & Co arbeiteten sehr hart an sich. Sie und ihre Innies schrieben fast pausenlos miteinander in ihrem Therapiebuch und diskutierten hart.

Das hatte nicht nur Selbstverletzungen zur Folge, sondern auch immer wieder Phasen, in denen Carlotta völlig wegdissoziiert irgendwo herumsaß und nichts mitbekam. Darum bat sie Frau Haiken, auch im gesamten Team zu besprechen, dass häufiger nach ihnen geguckt werden sollte, wenn sie sich zum Arbeiten ins Zimmer zurückzogen. Schon bald gab es die Regelung für Carlotta & Co, sich eher ins Zimmer zurückzuziehen, als völlig chaotisch in der „Öffentlichkeit“ auf Station zu switchen. Das machte ihnen Angst, da sie oft extra in die „Öffentlichkeit“ gingen, damit das bemerkt wurde und Hilfe geholt werden konnte, wenn sie abrutschten. Denn das regelmäßige Nachschauen im Zimmer klappte nicht wirklich.

Bald bekamen sie auch schon den ersten Tagesurlaub im Wohnheim. Mit Nika verbrachte sie einen wirklich tollen Tag.

Wenige Tage später bekam sie Post von Herrn Kübler. Er schrieb, dass er sich frage, ob das alles Sinn machen würde, ob er das schaffen würde, und ob er das wolle.

Und auch eine Postkarte von Frau Huskamp kam an, die Carlotta sehr empörte. Immerhin hatten sie ihr einen sehr, sehr langen Brief (7 Seiten) geschrieben, und darin unzählige Fragen gestellt. Und nun kam eine Postkarte mit gerade mal zwei Sätzen an. „Vielleicht muss man sich entscheiden, was man will. Bei der Entscheidungsfindung viel Erfolg. Lieben Gruß, Huskamp“.

Mittlerweile war es Ende Oktober geworden und die Feiertagszeit brachte wieder viel Instabilität mit sich. Danach schrieben Carlotta & Co in ihr Tagebuch:

„Uff… krasse zwei Wochen. Und so lange hier nichts geschrieben. Aber es ging auch nicht. Es ist total viel passiert. Am Freitag, dem 13., und dann rund um Ende Oktober waren total heftige Tage. Mit Selbstverletzungen ohne Ende, Unkontrolle, ständigem Wegswitchen, sich in unmöglichen Situationen wiederfinden, Türen rütteln am Ausgang, gegen Wände schlagen, Kontakthalteanteile, die am Stationstelefon rumlungern, Fluchtversuche bei chirurgischen Versorgungsterminen, Matschhand nach Ausgang, Endresultat davon: Gips…

Sehr, sehr heftig. Musste mir nach diesen Tagen erstmal vom Team rückmelden lassen, was alles war. Und selbst jetzt sind wir noch völlig durch den Wind.“

Und dann, plötzlich, stand der Vorgesprächstermin mit Herrn Ahlfeld an. Der Druck, der dadurch schon am Vortag entstand, machte nach ständigem Hin- und Hergeswitche, zweimal Schneiden, Kopf an der Wand einhauen, einmal Nähen, eine Vollfixierung notwendig. Keine guten Vorzeichen.

Neue Pläne

Nach dreieinhalb-stündiger Fahrt unter riesiger Aufregung kamen sie in der Traumaklinik an.

Das Gespräch dauerte über eine Stunde, in dem sehr viele Themen angesprochen und besprochen werden konnten.

Erst einmal sollten Carlotta & Co eine grobe Zusammenfassung der letzten Zeit geben. Sie berichtete, dass die Sicherung im Alltag abgenommen hatte, machte offen, dass es noch Täterkontakte gab, erzählte von ihrer Schwierigkeit, adäquate und hilfreiche Therapie zu finden. Sie berichtete von dem Druck, den Jannis immer machte, der ja immer wieder die Polizei kontaktierte. Sie berichtete auch von der Affäre mit Sven sowie von der Kündigung des Wohnplatzes.

Daraufhin setzte Herr Ahlfeld sofort als Therapievoraussetzung fest, dass die Kontakte sowohl zu Jannis als auch zu Sven abgebrochen werden müssten. Und eine Aufnahme wäre auch nur möglich, sollte sie im Wohnheim in Kleiningen bleiben. Bei Auszug würde es keine Therapie bei ihm geben.

Er erfragte das Datum des letzten Täterkontakts und sagte zu, Carlotta & Co aufzunehmen unter den bekannten Therapievertragsbedingungen plus eventuellen Verschärfungen, die aber zum Aufnahmezeitpunkt gemeinsam erarbeitet werden sollten.

Eine Aufnahme würde eventuell kurz vor Weihnachten auf der geschlossenen Station erfolgen. Und von dort erst sollte nach ausreichender Stabilisierung ein Wechsel auf die offene Traumastation erfolgen.

Nach diesem Gespräch hatten Carlotta & Co das altbekannte Gefühl, einerseits kompetent und nett, andererseits aber auch wieder mit sehr viel Druck behandelt worden zu sein.

Wieder zurück auf der geschlossenen Station der Klinik in Kleiningen machten Carlotta & Co durch die Aussicht, eventuell bald wieder Therapie mit Herrn Ahlfeld zu machen, und die Unruhe, die dadurch im System entstand, und durch eine Reihe von Feiertagen eine heftige Krise durch.

Gerade mal zwei Tage nach der Rückkehr kam es wieder zu einer viertägigen, dauerhaften Vollfixierungszeit. Denn durch die Feiertage waren dunkle Anteile aktiviert, die darauf reagierten, keinen Ausgang zu haben, den Körper verletzten und mit Blut rituelle Worte an die Wand schrieben. Andere Anteile mussten sich in Form von unterschiedlichen Selbstverletzungen bestrafen, weil es keinen Ausgang gab und dementsprechend „Treffen“ an bestimmten Daten nicht eingehalten werden konnten. Diese Selbstverletzungen machten auch eine einmalige Fahrt ins Krankenhaus, in Vollfixierung, mit der Feuerwehr nötig.

Als nach den vier Tagen in Vollfixierung die schwierigsten Feiertage durchgestanden waren und wieder etwas mehr Ordnung und Kontrolle ins System zurückkamen, konnte Carlotta bei einem Besuch von Isa, in Absprache mit den Ärzten, kurz aus der Fixierung befreit werden.

Dieses Gefühl kann man folgendermaßen beschrieben in Carlottas Tagebuch finden:

„Wow! Was für Tage! Ich habe wieder so viel Zeit verloren. Es muss ziemlich krass gewesen sein. Aber was genau, das weiß ich nicht. Da muss ich erstmal nachfragen.

Isa war da und hat kurz mit uns geredet. Und hat, nach Absprache mit der Stationsärztin, möglich gemacht, dass wir unter ihrer Aufsicht defixiert wurden. Das kann sich kein Mensch vorstellen. Rauchen, aufs Klo, statt auf die Pfanne gehen, und sich waschen dürfen, sind der Himmel. Solche Kleinigkeiten machen einen Menschen echt glücklich. Klospülung, Hände und Körper waschen, sich frische Klamotten anziehen, etwas laufen und stehen, sich frei bewegen können. Das tat echt gut. Aber war leider viel zu kurz. Denn als Isa ging, mussten wir wieder in die Vollfixierung (jetzt gerade ist gnädigerweise der rechte Arm frei, zum Tagebuch schreiben).

Aber gleich ist Visite und ich hoffe, dass ich uns da zumindest ein paar geplante Defixierzeiten herausschlagen kann.

Es ist jetzt etwas später am Tag. Die Visite ist gelaufen. Ich konnte auch erfragen, was alles vorgefallen ist. Wovon ich keine Ahnung hatte.

Mara war wieder voll aktiv. Hat ewig versucht, sich zu erdrosseln. Hat wirklich jede Möglichkeit genutzt, wurde uns mitgeteilt.

Luka hat ewig den Kopf an die Wand gehauen. Und sich in Fixierung sogar einmal den Mülleimer, an den er irgendwie rangekommen sein muss, und das Essenstablett an den Kopf gehauen.

Dann gab es noch einen völligen Zusammenbruch auf dem Flur. Sowas wie einen dissoziativen Krampfanfall?

Dann die bereits erwähnte Blut-an-die-Wand-Malaktion.

Geschnitten haben sollen wir auch. Was eine zweite Krankenhausbehandlung, in Vollfixierung mit der Feuerwehr, nötig machte, von der ich allerdings nichts mitbekommen habe.

Tja, und das alles wegen den beschissenen Feiertagen. Die Angst, uns nicht an die Täterregeln gehalten zu haben, war echt so groß. Und wir sollen geswitcht sein wie die Weltmeister. Dabei wurde mir auch von einem Anteil berichtet, von dem ich heute das erste Mal gehört habe.

Keine Ahnung, was jetzt alles noch fehlt in der Zusammenfassung. In meinem Hirn herrscht ein einziges Chaos. Ich kann erstmal nicht mehr.“

In den folgenden Tagen wurde die Fixierung nach und nach gelockert. Das war auch dringend notwendig, denn der Akt des Fixiert-Werdens, und das Fixiert-Sein wurden immer schwieriger auszuhalten. Sie hatten bald das Gefühl, dass gerade dadurch die Kontrolle flöten ging. So manches Mal weinte jemand von Carlotta & Co, als sie freiwillig die Hände und Füße in die Fixiergurte steckte/hielt.

Auch Ausgänge in Begleitung konnte Carlotta bald wieder machen. Und auch die Teilnahme an Therapien war wieder möglich. Die Frage, ob Carlotta & Co die Therapie bei Herrn Ahlfeld antreten sollten, nahm in dieser Zeit viel Raum ein. Die Kurswechsel waren sehr häufig zu dieser Zeit.

Weiterer Druck entstand bei der Entscheidungsfindung, als die Betreuer Carlotta eröffneten, dass die Kündigung nur aufgehoben werden würde, wenn Carlotta die Therapie bei Herrn Ahlfeld antreten würde.

Insgesamt waren Carlotta & Co zu diesem Zeitpunkt schon 6 Wochen auf der geschlossenen Station und bekamen so langsam einen Klinikkoller. Sie wollten einfach nur noch weg und es wurde immer schwerer, Dinge, die auf geschlossenen Stationen nun mal so sind und passieren, auszuhalten. Und doch wussten sie aus Erfahrung, dass sie ihre Gefühle und Bedürfnisse noch eine Zeit runterschlucken mussten und den Weg der langsamen, geplanten Entlassung gehen mussten.

In einer Oberarztvisite mit dem gut gemeinten Ziel, Carlotta zu ermutigen, wurde von der Oberärztin berichtet, dass sie genug Leute kenne, die den Ausstieg schon geschafft hätten, jetzt ihren Namen geändert hätten und in Sicherheit wären. Carlotta entgegnete und versuchte zu erklären, dass es so einfach alles nicht wäre, solange die Sicherheit von außen nicht gegeben wäre, und sich dann auch niemand trauen würde, andere, sichere Wege zu gehen, sich zu verweigern. Und den Namen zu ändern wäre sowieso erst ein späterer Schritt. Vorher müsste erstmal die Sicherheit gewährleistet sein. Endresultat der Oberarztvisite war dann schlussendlich, dass in der folgenden Zeit auf eine schrittweise Entlassung hingearbeitet werden sollte mit einigen Belastungserprobungen in Form von Tagesaufenthalten und Tagesaufenthalten mit Übernachtung im Wohnheim.

Während dieses schrittweisen Entlassungsprozederes konnte mit der Bezugsschwester, Frau Haiken, noch ein Feiertags- und Schlimme-Tage-Kalender erstellt werden. Das klappte auch ganz gut, war jedoch auch wieder ein Moment des Erschreckens für Carlotta. Denn es tauchten auch nationalsozialistische „Feiertage“ dort auf. Da es aber keinerlei weitere Hinweise in diese Richtung gab, wollte Carlotta dieses Thema einfach nur zur Seite legen.

Immer wieder machten sowohl die Stationsärztin als auch die Oberärztin Druck mit einer nun neuen Idee. Sie hätten ja so tolle Erfahrungen damit gemacht, Erinnerungen und Tatbeschreibungen, Namen und Tatorte aufzuschreiben und bei einem Anwalt zu hinterlegen. Carlotta blieb allerdings stur bei ihrer Einschätzung, dass dieses Vorgehen keine Hilfe darstellen würde, sondern viel eher in einer großen Krise enden würde, da sie ja schon erlebt hatte, was passierte, weil nur eine Sache verraten wurde. Sie fragte sich, wie das denn erst wäre, wenn viele Infos bei einem Anwalt hinterlegt werden würden. Sie fühlte sich unverstanden und blöd behandelt. Als die Ärzte dann so reagierten als würde Carlotta immer alles ablehnen und blockieren, entstand automatisch wieder ein großer Abstand zwischen den Helfern und Carlottas System. Die Helfer hatten zwar teilweise auch Recht, dass Carlotta sich manchmal etwas vormachte und manches nicht richtig abschätzen konnte, aber sie lagen mit ihren Vorstellungen genauso oft daneben. Zu einem Höhepunkt falscher Wahrnehmung kam es, als Carlotta im völligen Klinikkollermodus versuchte, die Entlassung zeitlich voranzutreiben und die Entgegnung von Instabilität und Bedrohung des Überlebens nicht akzeptierte und entgegnete: „Ich war den ganzen Aufenthalt hier nicht suizidal!“.


Nach Sekunden des Schweigens und als Carlotta die fassungslosen Blicke registrierte, dämmerte es ihr so langsam, dass da ja doch durchaus etwas vorgefallen war. Und so stand nun auch Carlotta völlig fassungslos da, wurde rot, schämte sich sehr, und sah dann ein, dass heute vielleicht doch nicht der geeignete Entlassungszeitpunkt wäre. Und so dauerte ihr Klinikaufenthalt doch noch länger an.

Insgesamt verbrachten Carlotta & Co 8 Wochen auf der geschlossenen Station. Doch bevor es Ende November 2006 zur Entlassung kam, gab es einige gescheiterte Belastungserprobungen (Tagesurlaub mit Übernachtung) oder Tagesurlaube und einen drastischen Absturz nach einer Belastungserprobung. Der diesmal sogar einen stationsübergreifenden Alarm auslöste, weil das Verhalten einiger Anteile Carlottas wohl so bedrohlich gewirkt haben musste, dass sie Pflegepersonal von den anderen Stationen zur Unterstützung herbeiriefen. Und so wurde Carlotta heftig tobend von 6 Pflegern gepackt. Andere hatten bereits das mit Fixiergurten vorbereitete Bett herbeigerollt. Sie wurde in die Fixierung gezwängt und durch den herbeigerufenen Arzt per Spritze zwangsmediziert.

Es dauerte einen Tag, bis Carlotta wieder nach vorne kam und ihre Situation realisierte. Sie wusste aber wieder einmal nicht, was genau vorgefallen war und warum sie sich nun dort, in dieser Situation, wiederfand. Und so musste sie auf die Suche nach den Inhalten ihrer Zeitlücken gehen. Das alles bereitete ihr sehr viel Angst. Sie schrieb in ihr Tagebuch:

„Das, was hier alles in diesen fast 8 Wochen passiert ist, ist viel zu viel. Ich als Carlotta habe Angst vor mir selber, Angst vor uns selber bekommen. Diese ewigen Kontrollverluste, Lücken, Katastrophen. Diese Systemverschiebungen machen Angst vor völliger Machtlosigkeit. Ich habe das Gefühl, dass wir uns verlieren. Und das Selbstvertrauen ist voll weg. Traue mir nichts mehr zu, kann keine Situation mehr abschätzen. Vertraue auf nichts mehr. Fühle mich haltlos und verloren. Habe Angst, mich aufzulösen. Keine Kontrolle, Macht und Alltagszeit mehr zu haben. Irgendwie aussortiert zu werden.

Und ich kann die Scheißzukunft nicht klar sehen. Für all die Helfer ist das alles schon fest, aber…

Es macht so große Ungewissheit und Druck. Zu Herrn Ahlfeld zu gehen – ja, im Prinzip gehen zu müssen, weil wir sonst im Wohnheim nicht weiter wohnen dürfen.

Und dort steht mir/uns eine sehr, sehr harte Zeit bevor. Keiner weiß, ob all das zu schaffen sein wird.

Vielleicht ist das alles nicht nachzuvollziehen, aber ich fühle mich bedroht. Herr Ahlfeld wird mit allen Mitteln versuchen, mich zu neutralisieren. Kontakte, Musik, Klamotten, Style und Einstellung. Er will etwas konstruieren. Da haben wir echte Lebens-Existenzängste. Wir wollen das so nicht, und die Hoffnung, dass es mit der Brechstange funktioniert, haben wir nicht. Da gab es doch bisher auch nur Kontrollverluste, Bestrafungen der heftigsten Art, und wir konnten einfach nichts mehr machen.

Ich will nicht sterben. Ich will mich nicht auflösen, weniger Kontrolle haben. Aber so wird es kommen.“

Carlotta war es ein Bedürfnis, mit dem Team zu thematisieren, dass sie das Gefühl hatte, dass bei ihnen mittlerweile viel zu früh fixiert werden würde. Sie glaubte viel mehr, dass eine Begleitung in solchen Ausnahmesituationen ohne großes Eingreifen günstiger wäre als drastisches Gegenangehen des Personals, welches wiederum Gegenwehr in Carlotta auslösen würde.

Denn was Carlotta zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisieren konnte, aber doch wohl ein wenig wahrnahm, war, dass durch die Fixierungen (welche auf einige Innies  1 zu 1 wie Tätergewalt wirkten) weitere Anteile abgespalten werden mussten, um das auszuhalten.

Nach der Klinik ist vor der Klinik

Die Zeit vor der Aufnahme in der Klinik von Herrn Ahlfeld sollte keine geordnete, ruhige werden.

Schon am Entlassungstag aus der Klinik in Kleiningen war es fast so weit, dass Carlotta wieder zurück in die Klinik wollte/sollte (Betreuer). Denn noch völlig gefangen in der Angst vor dem „Draußen“, der fraglichen Kontrolle und Sicherheit und dem völlig verlorenen Selbstvertrauen drängte Isa Carlotta dazu, bei Herrn Ahlfeld anzurufen, um den Aufnahmetermin abzusprechen. So fühlte sich Carlotta schon nach kurzer Zeit wieder unverstanden und alleine, weil sie sich geweigert hatte, bei Herrn Ahlfeld anzurufen, weil das alles am ersten Tag viel zu viel war. Dafür erntete sie Unverständnis. Als alles aus Carlotta herausplatzte, und sie eine Stunde weinte und von all ihren Ängsten, der Hoffnungslosigkeit, den Kontrollverlusten, dem nicht vorhandenem Selbstvertrauen, ohnmächtigem Alltagsteam, den Existenzängsten und dem Selbsthass erzählte, wollte Isa Carlotta direkt wieder in die Klinik zurückschicken. Doch auch das verweigerte Carlotta.

Wenige Tage später riefen Carlotta & Co dann bei Herrn Ahlfeld an und sagten einem Terminvorschlag kurz vor Ende des Jahres zu.

In den verbleibenden drei Wochen mussten Carlotta & Co sich wegen Herrn Ahlfelds Bedingungen für den kommenden Klinikaufenthalt  erstmal nicht schwarze Kleidung beschaffen. Da Carlottas finanzielle Situation zu der Zeit eh nicht die beste war und weil sie auch nie vorhatte, diese Klamotten nach dem Klinikaufenthalt noch weiter zu tragen, kaufte sie nur in Second-Hand-Läden. Das Gefühl, das sie dabei jedes Mal hatte, war wirklich schwer. Man kann sich das gar nicht vorstellen. Aber mit all den vorherigen Erfahrungen, dem was kommen sollte und der Realität, dass sie nicht mehr entscheiden durfte, was sie anzog, fühlte sie sich wie kurz vor der Selbstauflösung und Eliminierung durch andere.

Leider wurde sie mit diesen Gefühlen in ihrem Wohnheim durch die Betreuer sehr missverstanden und alleine gelassen. Aus dieser Zeit stammt dieser Tagebucheintrag:

„Das, was da gerade alles so passiert ist so paradox. Tagsüber wollen und sollen wir Vorkehrungen für den Ausstieg organisieren, und nachts…

Es schaukeln sich beide Seiten total hoch.

Wir sind ziemlich in Not. Und rennen Tag für Tag völlig wirr herum. Haben bestimmt zehn Mal gekotzt. Fernsehen, Musik, Kaffee, Rauchen, alles irreal, wie im Film. Uns geht es echt scheiße. Wir haben ne Sauangst.

Sind dann eben zu Levi hoch und haben uns ihm anvertraut. Ich glaube, er hat das alles voll missverstanden oder als Spielchen angesehen. Er meinte, wir könnten das jawohl so nicht machen: sowas erzählen, und im nächsten Moment wieder runterspielen. Er fragte, was er denn nun damit anfangen soll. Levi meinte dann zum Schluss sogar so: „Soll ich mal zynisch werden? Bekomme ich im Falle des Falles denn wenigstens deine Tasse vererbt?“ Und zusätzlich noch: „Du schaffst es nicht, dass ich eine Träne für dich weine.“ Das alles hat mich ganz schön geschockt, und tut so unheimlich weh. Er sieht unsere Ehrlichkeit, unsere Realität scheinbar als Angriff. Oder dass wir ihm auf Krampf Sorgen machen wollen. Oder manipulativ sind. Aber, Scheiße verdammt, er kommt nicht drauf, dass das unsere wirkliche, verfuckte Realität ist. Und dass es Vertrauen zeigt, wenn wir ihm sowas sagen.

Vielleicht müssen wir aber verdammt nochmal lernen, dass unsere ständige Lebensangst, Bedrohung für andere viel zu viel ist.

Wahrscheinlich ist das wirklich so. Wenn wir Leuten zu viel erzählen, von „der Welt in der wir leben“, können die gar nicht anders reagieren, als sich zu schützen.

Scheiße… will echt mit niemandem von hier mehr reden. Warum muss ich nur so vertrauen und dann immer wieder enttäuscht werden, weil keiner versteht…

Aber wie soll das denn alles weitergehen? Mir geht’s voll scheiße. Ich will Bedarf und nur noch meine Ruhe haben. Aber auf einen vom Betreuerteam will ich jetzt echt nicht treffen.

Wie scheiße sind wir eigentlich? Das ist genau das, was ich meine. Wir sind mit allem alleine, und niemand versteht. Und wenn man sich anvertraut, dann geht alles schief. Aber man braucht doch jemanden zum Reden.“

Wenige Tage später konnte mit Levi geklärt werden, dass er aus Hilflosigkeit so gehandelt hatte. Er entschuldigte sich sogar. Doch das änderte an der Tatsache nichts, dass Carlotta & Co, bis schließlich zur Aufnahme auf der geschlossenen Station bei Herrn Ahlfeld Ende 2006 mit all ihren Problemen trotzdem alleine waren.