Als sie mit 14 ein eigenes Pferd bekam, stand dieses auf einer Weide neben dem Grundstück eines Ehepaars. Dieses Ehepaar hatte eine kleine Tochter, Rike, die oft am Zaun stand und Carlotta und das Pferd beobachtete.
Mit der Zeit bekamen Carlotta, die Mutter, Fiona, und die kleine Rike engeren Kontakt. Carlotta lud Rike zum Pferd ein, brachte ihr kleinere Dinge in Pflege und Reiten bei… und passte auch ab und zu auf die Kleine auf. Im Laufe der Jahre wurde der Kontakt intensiver.
Diese Familie war eine „Arzt-Familie“ und Fiona fiel bald auf, dass mit Carlotta irgendwas nicht stimmte.
Sie ermöglichte Carlotta, in der Klinik ihres Mannes ein paar Therapiestunden zu bekommen.
Dort wurden aber hauptsächlich die Probleme mit dem Essen besprochen… denn etwas anderes war Carlottas Alltags-Ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst – die Verdrängung und Spaltung funktionierte noch 1A. Zwar hatte Carlotta schon irgendwie das Wissen, dass da „Etwas“ mit ihrem Cousin gelaufen war in ihrer Kindheit, aber das wurde irgendwie nicht als problemrelevant erkannt und wahrgenommen.
Dass die Eltern Carlottas nichts von diesen Therapeutenterminen wissen durften, hatte Carlotta aber schon im Gefühl, und so lief das auch nicht über Krankenkassenabrechnung, sondern über die Kontakte dieser Arztfamilie.
Mit der Zeit wurde der Kontakt zu der Arztfamilie immer intensiver und vertrauensvoller. Carlotta konnte Vertrauen fassen… wohl das erste Mal in ihrem Leben. Auch weil die „neue Mutter“ von ihrer Leidensgeschichte erzählte, dass sie als Kleinstkind, nach einer OP in Krankenhaus, von Pflegern angefasst wurde.
Auch mit einem Freund, den Carlotta mit etwa 18 Jahren hatte, waren viele tiefe Gespräche möglich – er spürte, dass etwas nicht stimmte, und versuchte, in den Gesprächen auf Lösungssuche zu gehen – und PLÖTZLICH kam ein Teil ihrer abgespaltenen Erinnerung mit aller Kraft und Macht zurück.
Carlotta weinte und weinte, dachte sie würde verrückt… sie konnte sich nicht erklären, wo diese Erinnerung herkam, obwohl sie es trotzdem doch schon irgendwie vorher nie richtig vergessen hatte. Es war schon strange: dieses Wissen und Doch-Nicht-Wissen und dann in neuer kraftvoller Gefühlsqualität erinnern. Sie zweifelte an der Richtigkeit, zweifelte an sich. Hatte Angst, nun komplett den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Sie erinnerte sich an (im Verhältnis zu späteren Erinnerungen eher „leichte“) Missbrauchssituationen, die Carlotta etwa um ihr 10. Lebensjahr durch ihren Cousin erleiden musste. Sie erinnerte sich an 3 Situationen, kurze Bilder, in denen ihr Cousin ihr zu nahe getreten war – unter dem Deckmantel des Zusammen-Verstecken-Spielens (der Bruder musste suchen). Als sie sich gemeinsam unter einem Bett versteckt hatten, führte er ihre Hand unter Zwang zu seinem Penis und begann sie auf und ab zu bewegen. Auch er fummelte mit der anderen Hand an Carlottas Genitalien herum. Ein anderes Mal waren Carlotta und er zusammen im Bad und er zwang sie, sich vor die Toilette zu knien (auf der er saß) und ihn oral zu befriedigen. Das dritte Bild war wieder in seinem Zimmer. Er lag auf dem Bett und befriedigte sich selbst – Carlotta musste zusehen bis zum Höhepunkt.
Diese Erinnerungen lösten wirklich eine Menge aus – nichts war mehr möglich, was vorher noch klappte.
Auch die leiblichen Eltern bekamen von dieser Entwicklung mit und reagierten (aus heutiger Sicht) schizophrener Weise besorgt. Damals, mit 18, war Carlotta noch froh, solche Eltern zu haben, die ihr augenscheinlich helfen wollten. Sie schickten Carlotta zur Hausärztin und diese überwies sie zu einer bekannten Therapeutin, Frau Sommer.
Diese Frau Sommer führte mit Carlotta ein Gespräch und telefonierte sofort mit einer Klinik, die sie um einen schnellen Aufnahmetermin bat.
Innerhalb von wenigen Wochen durfte Carlotta dann in diese Klinik gehen – auf eine Traumastation.
Dort fühlte sich Carlotta fehl am Platz. Sie empfand alle Mitpatienten dort als sooo traurig und sooo stark betroffen, dass sie für sich dachte: Hier bin ich falsch. Ich muss hier weg. Bei mir ist das alles gar nicht so schlimm. Ich nehme anderen den Platz weg.
Sie hatte ihre Maske so stark aufgesetzt und war so weit weg von ihren eigenen Gefühlen, dass sie keinen Zugang fand. Sie konnte immer nur völlig emotionslos von den Erinnerungen berichten – auch was in ihrer Familie für sie nicht gut lief (von der „Dunklen Welt“ wusste sie zu dem Zeitpunkt noch nichts). Es war ein wirklicher Kampf zwischen dem, was sie darstellte zu sein, und dem was wirklich in ihr los war. Der Druck war sehr, sehr hoch und es kam zu ersten Selbstverletzungen, Migräne-Anfällen, der Verschlimmerung der Bulimie, die sich aus der Magersucht nahtlos entwickelt hatte, und auch zur ersten bewussten Dissoziation. Zum Beispiel dissoziierte Carlotta innerhalb einer Gruppensitzung so stark, dass sie sich nicht bewegen und sprechen konnte. Allerdings bekam das niemand mit, und als Carlotta allen Mut zusammen genommen hatte und dies in der Abschlussrunde formulierte, hieß es nur “ Das ist kein Thema für die Gruppe, sondern fürs Einzel“. Und somit war das auch vom Tisch gefegt. Im Einzel wurde es nie angesprochen.
Auch nach 8 Wochen konnte sie sich nicht eingestehen, dass sie richtig dort war. Sie litt heimlich still und leise vor sich hin und konnte keine Hilfe annehmen und sich äußern.
Als sie zurück nach Hause kam, wurde ihr klar, dass sie etwas ändern musste.
Sie fragte die Arztfamilie, ob sie übergangsweise bei ihnen leben könnte, denn sie spürte, dass etwas mit ihrer eigenen „Familie“ nicht richtig für sie war.
Sie bekam ein Zimmer oben unter dem Dach in dem Fachwerkhaus der Arztfamilie.
Doch sie hatte sich dieses Leben in der „neuen Familie“ leichter vorgestellt, als es wirklich war.
Es war zwar aufregend und schön, neue Horizonte zu erleben: Kunstausstellungen, Konzerte, Antiquitätenmessen, Urlaube in teuren Hotels… aber sie wusste innerlich: Hier gehöre ich nicht hin.
Die regelmäßigen Urlaube in deren Ferienhäuser in Südfrankreich waren zu der Zeit allerdings immer tolle Auszeiten für Carlotta. Sie hatte sogar vor, nach Frankreich auszuwandern.
Allerdings stellte diese Arztfamilie – die treibende Kraft war allerdings der Vater – Ansprüche an sie, die sie nicht erfüllen konnte. Sie hatte das Gefühl, sie wollten sie zu einer Intellektuellen heran erziehen.
Sie durfte kein berieselndes TV mehr sehen, sondern nur Wissensreportagen (und bestenfalls auch in Fremdsprachen). Durfte nur noch klassische Literatur lesen. Nur noch klassische Musik hören… Sollte herausragende Leistungen im Abschlussjahr des Gymnasiums bringen… Das war komplett entgegen ihrer vorherigen „Welt“, sie hatte ständig Versagensängste und auch eine innere Ablehnung gegen so viel Druck. Immer versuchte sie zu gefallen und doch schaffte sie es nicht. Zumal die Psyche zu dem Zeitpunkt noch sehr wund und Carlotta nicht sehr leistungsfähig war.
Das zweite Problem war, dass Carlotta täglich ihre „alte Familie“ sah, denn ihr Pferd stand ja bei ihr auf dem Grundstück.
Es war wirklich ein Spießrutenlauf für Carlotta. Sie versuchte, jedem irgendwie gerecht zu werden. Auch wenn die verschiedenen „Parteien“ gegeneinander redeten. Nie miteinander, sondern immer nur in Gegenwart von Carlotta über den jeweiligen anderen – mit einer Ausnahme: Carlottas Mutter besuchte eines Tages Fiona, um ihr mitzuteilen „dass es nicht so weitergeht, dass sich ihre Tochter immer bei Ihnen rumtreibt.“
Nach einer kurzen Zeit konnte Carlotta einfach nicht mehr. Der Druck wurde zu groß, sie fühlte sich zu kaputt. Sie hatte Angst zu zerreißen. Sie fühlte sich völlig allein auf dieser Welt und nirgends zugehörig. Sie wusste innerlich: Ich geh zurück zur „alten Familie“, da lebe ich zwar im Unglück, aber habe den Kampf nicht mehr.
Es war die erste Niederlage in dem Versuch, sich von den Eltern zu lösen.
Sie packte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihre Sachen und verschwand bei der „neuen Familie“ ohne ein Wort zu sagen und ging zurück zu den „alten Eltern“.
Das war dann auch der Grund, weshalb die Arztfamilie sehr enttäuscht und sauer auf Carlotta war.
Carlotta traute sich auch nicht, sich dem zu stellen und hatte so für ihr Gefühl diese Arztfamilie verloren, weil sie zu schlecht und kaputt war und ihr nicht gerecht werden konnte.
In der „alten Familie“ folgte nun eine sehr, sehr schlimme Zeit.
Carlotta fühlte sich aller Auswege beraubt. Sie fühlte sich hoffnungslos verloren und fiel in eine tiefe Depression. Aß sehr, sehr viel, um sich zumindest über diesen Weg zu beruhigen. Die Bulimie wurde im Verlauf dessen auch immer schlimmer. Schule und Abitur waren auch nicht mehr möglich…
Die „Eltern“ bekamen Carlottas Probleme natürlich mit, unternahmen aber nichts Sinnvolles. Es gab nur Vorhaltungen, sie solle sich doch mal langsam zusammenreißen… Der Kühlschrank und Vorratsschränke wurden mit Schlössern versehen, damit Carlotta nicht so viel aß in ihren Fressattacken. Aber wirklich geredet und Hilfe angeboten/Lösungsvorschläge gemacht wurde nie.
Erwachen – mit dem Gedanken: heute wirst du es schaffen, heute wird alles anders. Maß halten. Kontrolle. Doch bald schon dreht sich alles nur noch um eins. Der Kampf tobt: Sucht gegen Kontrolle. Verloren!!! Nur noch einmal, ist eh schon egal! Körperhass! Selbsthass! Einschlafen – mit dem Gefühl wieder versagt zu haben es nie anders zu schaffen. …Aber morgen!! Teufelskreis! |
Als Carlotta eines Abends den verzweifelten Versuch unternahm, doch mal wieder raus zu gehen und sich nicht hängen zu lassen, lernte sie einen Mann, Torben, kennen. Zu ihm war das Vertrauen von Anfang an da. Relativ schnell konnte sie sich ihm mit dem, was sie zu diesem Zeitpunkt wusste und fühlte, anvertrauen. Es wurde ihr immer klarer, was die Vergangenheit für Folgen an ihr hinterlassen hatte.
Sie konnte nun wieder etwas Mut fassen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und neue Ziele formulieren. Schule und Abitur nachzumachen waren kein Thema mehr, da sie auch viel zu enttäuscht von ihren ehemaligen Schulfreunden war. Diese hatten sich in der schwierigen Phase nach und nach von ihr abgewendet.
Sie fasste mit 19 den Entschluss, eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zu machen. Da sie noch ein halbes Jahr bis zum Beginn der schulischen Ausbildung Zeit hatte, organisierte sich Carlotta ein Vor-Praktikum in einer Reha-Klinik für ältere Menschen.
Diese Aufgabe gab ihr unheimlich viel Kraft und machte ihr Freude, so dass ihre Einstellung zum Leben deutlich positiver wurde.
Und doch waren da diese ganzen Probleme. Sie hatte das Gefühl, dass seit der ersten Erinnerung das Tor zur Hölle offenstand und sie es nicht mehr schließen konnte, so sehr sie es auch versuchte und wollte.
Sie bekam nun viel öfter mit, wie sehr und wie oft sie wegdriftete, welch düsteren Gedanken und Gefühle in ihr schlummerten, wie wenig Kontrolle sie über ihre Reaktion hatte.
Ambulante Therapie
Als es alles nur noch schlimm und keine Lösung in Sicht war, nahm Carlotta den Kontakt zu der Therapeutin, Frau Sommer, wieder auf, die ihr damals den Klinikplatz ermöglicht hatte.
Von nun an ging Carlotta regelmäßig 1x pro Woche zur Therapie. Es war ein harter und zäher Kampf um das Realisieren/Anerkennen ihrer Probleme. Oftmals fiel Carlotta wieder in die Rolle der starken und unantastbaren Carlotta, obwohl sie sich so sehr gewünscht hätte, einfach mal loszulassen und all das Unerklärliche zu erzählen.
Frau Sommer hatte ein gutes Gefühl für Carlotta und wusste, ihr Verhalten zu deuten. Sie gab ihr genügend Zeit, um nach und nach weicher und durchlässiger zu werden. Sie gab ihr genug Raum und Zeit, selber zu entscheiden, wann und wieviel sie sich öffnete. Sie gab ihr die “Hausaufgaben”, sich und ihr Leben deutlicher zu betrachten.
Indes startete die schulische Ausbildung zur Physiotherapeutin. Es bereitete Carlotta viel Freude und fiel ihr recht leicht mitzukommen. Und doch gab es immer wieder Situationen, wo sie an ihre Grenzen geriet. Dann nämlich, wenn Übungen in Gruppenarbeit – jeweils zu zweit – am Körper des Partners geübt wurden. Sie hatte große Angst, sich in Unterwäsche zu zeigen und berühren zu lassen, und doch wollte sie es durchziehen. So ging sie Tag für Tag an ihre Grenzen und darüber hinweg. Sie versuchte, sich taub zu machen, und oft gelang es ihr auch.
In der Therapie gab es zu dieser Zeit einen Durchbruch. Carlotta äußerte zum ersten Mal, dass sie das Gefühl hatte, “mehrere Charaktere” zu haben, die jeweils anders situativ reagieren.
Ich möchte hier anmerken, dass Frau Sommer in diesem Moment wohl erleichtert aufatmete, denn (das hat sie Carlotta erst Jahre später erzählt) sie hatte schon viel länger das Gefühl gehabt, das Carlotta gespalten war.
Nun konnte zum ersten Mal in der Therapie Stück für Stück und ganz langsam und vorsichtig an dem Erkennen/Kennenlernen/Auseinanderhalten der “verschiedenen Charaktere” gearbeitet werden. Die Worte “Anteile”, “Personen” …. waren zu der Zeit echte Unwörter. Sobald Frau Sommer diese benutze, wurde Carlotta kratzbürstig und schrie fast: “Nööö, das bin ich nicht und sowas hab ich schon lange nicht! Schluss jetzt damit” Und war jedes Mal kurz davor, die Therapie abzubrechen, denn sie hatte mal etwas von “Multipler Persönlichkeitsstörung” gehört oder gelesen, was sie einerseits überrascht hatte, weil es ihren Problemen so ähnlich war, aber auch zutiefst schockierte in der Schilderung und den Ursachen. Und da Carlotta sich zu dem Zeitpunkt sicher war, das sie “nur” diese Sache mit ihrem Cousin erleben musste (naja, vielleicht noch einige andere Sache), empfand sie es als UNMÖGLICH, dass sie so etwas Schlimmes hätte.
Carlotta fiel es zu diesem Zeitpunkt unheimlich schwer, sich anzuvertrauen. Die Therapie verlief damals vielmehr im “Zick-Zack-Kurs”. Mal ging es ein Stück voran – aber meist nur dann, wenn es Carlotta unmöglich war, die starke und funktionierende Fassade aufrecht zu erhalten. Dann musste sie, um sich zu entlasten, sich anvertrauen… und es konnte weitergearbeitet werden.
In anderen Phasen war fast keine Therapie möglich, denn Carlotta hatte sich und ihre Gefühle so fest eingeschlossen und wollte soooo krampfhaft “normal” und “funktional” sein.
Carlotta fühlte sich zu der Zeit wie ein Dampfkochtopf. Sie spürte den enormen innerlichen Druck. Und jedes Mal, kurz bevor es von allein zu explodieren drohte, fühlte sie sich gezwungen, etwas Druck rauszulassen. Aber immer nur so viel, wie nötig war, um den Deckel wieder draufzuschrauben.
Dieser ganze Prozess dauerte etwa 2 Jahre.
Carlotta war 21, als sie in einer Nachbarstadt nun auch eine Selbsthilfegruppe fand, und fühlte sich einerseits sehr gut dort, da alle ein gemeinsames Thema hatten – andererseits fühlte sie sich auch dort durch ihr eigenes Verhalten abgegrenzt, denn sie konnte oft nicht viel dazu sagen. Sie wollte sich so gern anvertrauen. Sie wollte so gern aussprechen, was sie innerlich quälte. Doch sie hatte Angst, die ihr dies unmöglich oder nur in klitzekleinen Schritten möglich machte. Sie war der Überzeugung, wenn sie erstmal angefangen hätte, sich fallen zu lassen – nichts und niemand hätte sie auffangen können. Oftmals, wenn sie versuchte zu reden, schnürte sich ihr der Hals zu, sie driftete ab, sie geriet in Panik. Und auch die Tage danach waren schwer für Carlotta, weil es dann schwer möglich war, das Thema wieder zurückzudrängen. Und eins wollte Carlotta ganz gewiss: Nicht auffallen! Nicht unnormal sein! Nicht aus der Menge herausfallen!
Das waren ja auch die Dinge, die in ihrer Familie als “Credo” angesehen wurden. Und dort musste sie sich anpassen.
Oftmals war es ein verzweifeltes Schauspielern, dass alles gut sei, damit um Himmels Willen nie jemand auf den Gedanken gekommen wäre (und wie gern hätte sich Carlotta dies auch vormachen können), Carlotta hätte es nicht unter Kontrolle. Und genau das war das, was Carlotta am meisten fürchtete: Kontrollverlust. Denn auch wenn sie zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, um was es sich handelte, was da so eine vernichtende Kraft in ihr hatte, war sie sich zu dem Zeitpunkt schon bewusst, dass es etwas ganz, ganz Gewaltiges sein musste, was sie jederzeit umhauen könnte.
Carlotta stand unter so enormem Druck zu der Zeit. Einerseits die Kontrolle zu behalten und “aus der Normalität” nicht herauszufallen. Andererseits aber auch, nicht den Druckkochtopf mit wachen Augen explodieren zu lassen.
Ihr Essverhalten wurde zu dieser Zeit ganz, ganz schlimm. Sie aß Unmengen an Lebensmitteln, um sie hinterher wieder zu erbrechen. Meist fühlte sie sich hinterher noch ekliger und kranker. Und noch weiter weg von der “Normalität”.
Ihre Gedanken waren zu der Zeit auch oft bei Selbstverletzungen oder sogar Selbstmord, … weil sie keinen Weg mehr wusste.
Dies waren dann wieder Dinge, die ihr Angst bereiteten, und sie nahm wieder etwas mehr Hilfe an.
Es war ein harter Kampf zwischen funktional bleiben und den vielen kraftvollen Gefühlen Raum zu geben. Sie konnte sich nicht erlauben, sich komplett und mit voller Aufmerksamkeit und Kraft in die Therapie zu „stürzen“, denn ihr Alltag forderte sehr viel von ihr.
Sie war immer noch in der Ausbildung zur Physiotherapeutin und hatte schulischen Unterricht und Praktika im Wechsel. Oftmals geriet sie durch die körperlichen Übungen in Flashback-Situationen, die sie schwächten und es nötig machten, die „Mauer um ihre Gefühle“ wieder zu erhöhen.
Nachmittags war es ihre Aufgabe, ihr Pferd zu versorgen, was sie teilweise genoss, andererseits aber auch anstrengte.
An Wochenenden hatte Carlotta nun einen Nebenjob angenommen, um ihre Kosten für Auto (Sprit, Steuer, Versicherung, Reparaturen), Pferd (Futter, Versicherung, Pacht, Tierarzt), Kostgeld (!!! man bedenke, dass Carlotta gerade erst 19 oder 20 Jahre alt war und durch ihre schulische Vollzeitausbildung nichts verdiente!!!) annähernd bezahlen zu können. Sie kellnerte in einer großen Gaststätte in der Umgebung. Oftmals bis zu 20 Stunden pro Wochenende. Ihre körperliche Situation verschlechterte sich immer weiter, denn sie bekam Sehnenscheidenentzündungen an den Armen und ihre Fußgelenke waren überanstrengt (da sie eigentlich schon seit längerem ihre Außenbänder hätte wiederherstellen lassen müssen). Und trotzdem wäre es ihr durch den finanziellen Druck nicht möglich gewesen, weniger zu arbeiten. In der Schule (Ausbildung) schlief Carlotta sogar einige Male vor Erschöpfung ein, was natürlich wieder mit ihrem perfektionistischen Selbstanspruch kollidierte und sie wieder einen Grund mehr hatte, sich selbst zu hassen und sich unfähig zu fühlen.
Die Beziehung zu Torben hatte auch problematische Zeiten, da sie oft in Erinnerungen rutschte, kaum Nähe und Sex ertrug, wenig Zeit hatte, Torben von Carlottas Eltern nicht wirklich gewünscht war.
Was Carlotta zu diesem Zeitpunkt nicht wusste und wahrnehmen konnte: Sie war immer noch Opfer der Sekte und ihrer Familie. Sie wurde nachts immer noch gequält, gefoltert, vergewaltigt, zur Prostitution geschickt, …, war mittlerweile so abgerichtet, das sie selbst zur Täterin an anderen wurde.
Therapiestunde um Therapiestunde erarbeitete Carlotta sich Grundlagen der stabilisierenden Traumatherapie. Konnte teilweise schon Gefühle/Gedanken nach außen bringen und fasste immer mehr Vertrauen. Dissoziative Zustände, die Carlotta in den Sitzungen wahrnahm, erschreckten sie jedes Mal, aber es wurde ihr mehr und mehr vertrauter.
Als es bei einem Verlängerungsantrag für weitere Therapiestunden zu dem Thema Diagnose kam, war Carlotta sehr, sehr erschrocken. Frau Sommer sagte ihr, dass sie eine Dissoziative Identitätsstörung oder zumindest eine starke dissoziative Störung vermutete. Carlotta verweigerte sich komplett und fasste den Plan, nun ihr Leben komplett umzukrempeln. Nur noch das Leben zu leben, das sie sich unter „gutem Leben“ vorstellte: Spaß, Lebensfreude, Freunde… alle düsteren Gedanken und Probleme zu verdrängen. Sie war recht radikal: Schnitt ihre langen Haare ab, nahm in 6 Wochen 10kg ab, war nur noch unterwegs, wollte die Therapie beenden….
Doch alles sollte nichts nützen, denn bereits einige Wochen später musste sie bemerken, dass es so nicht funktioniert. Sie schrieb in ihr Tagebuch:
„Ich weiß, der Mensch, der ich im Moment scheine zu sein, bin ich nicht! Es ist anstrengend so zu bleiben, wie ich es mir vorgenommen habe. Und ich schaffe es nicht. Vieles wird dem Vorherigen wieder ähnlich, obwohl ich mit allen Mitteln dagegen kämpfe. Nach außen bin ich noch nicht verändert, doch ich spüre den immer größer werdenden Druck und das schlechte Gefühl für mich selbst. Alles ist zum Kotzen! Und keiner bemerkt es – wie immer! Noch nicht mal Frau Sommer sieht es: Sie hat durch meine Verweigerung und mein Auftreten vorgeschlagen, die Therapiestunden weiter auseinander zu ziehen. Warum merkt denn keiner, dass es nur Show ist??? Ich bin dem Absturz näher denn je. Ich kotze wieder regelmäßig und fühle mich scheiße! SOS zu rufen wäre jetzt schön,… aber wie?? Da muss erst meine komplette Fassade abgebröckelt sein und gar nichts mehr gehen!“
Mit ihrem Freund Torben war nun auch Schluss und ihre Oma war an Krebs gestorben.
Es spitzte sich immer und immer mehr zu. Sie wusste gar nicht mehr, was sie tun konnte, um diese rasante Welle, die sie zu begraben drohte, aufzuhalten. Sie fühlte sich ständig zum selbstverletzenden Verhalten in Form von Schneiden getrieben. Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Zustand und dem, was in ihr brodelte. Ihre Bulimie weitete sich immer weiter aus…
Schließlich schrieb sie in ihr Tagebuch:
„Ich weiß nicht, wohin das noch alles führt! Ich will das alles nicht, ich will normal sein! Für andere bin ich normal – leider, denn leider sieht mich niemand so wirklich. Aber es darf mich auch keiner sehen, denn der könnte mich kaputt machen. Ich lüge, lüge und lüge – will aber eigentlich die Wahrheit sagen – und alle glauben mir meine Lügen. Ich kann so nicht weitermachen. HILFE! Ich will nicht komplett zusammenbrechen. Alles, was ich mir hart erkämpft habe, ist in Gefahr. Ich kann nicht mehr! Echt nicht! 6 Längs- und 7 Querschnitte – HILFE!“
Der Druck, sich zu öffnen, wurde immer größer. Allerdings der Druck, im Alltag zu funktionieren, auch…
Schließlich stand Carlotta kurz vor ihrem Examen und hatte weder die Kraft noch die Zeit, sich intensiver mit Therapie auseinanderzusetzen.
Als sie durch ihre Not über ihren Schatten gesprungen war und sich an Frau Sommer gewendet hatte, bekam sie neben einem Notfallplan zusätzlich Antidepressiva, um diesen schlimmen Zustand abzupuffern und handlungsfähig zu bleiben.
Zu der Zeit versuchte Carlotta auch durch Marihuana und andere Substanzen, dem Ganzen zumindest zeitweise zu entfliehen. Sie versuchte, sich krampfhaft aufs Lernen für das Examen zu konzentrieren und alles andere wegzudrücken.
Doch es war kaum mehr aufzuhalten, denn mittlerweile meldeten sich auch verschiedene Anteile bei Frau Sommer und klagten ihre Not, oder andere versuchten, durch Drohungen das Schweigen zu erzwingen (Schweigegebote).
Trotzdem gelang es Carlotta, im März 2002 ihr Examen (10 Prüfungstage mit 39 Einzelprüfungen: schriftlich, mündlich, praktisch) erfolgreich abzuschließen.
Anstatt sich nun etwas Ruhe zu gönnen, fing Carlotta gleich 2 Tage nach bestandenem Abschluss der Ausbildung in einer Physiotherapiepraxis an zu arbeiten, ganz nach den Wünschen ihrer perfektionistischen Mutter. Nebenbei arbeitete Carlotta immer noch an den Wochenende in der Gaststätte.
Sie versuchte, sich völlig über die Arbeit und Leistung zu definieren, und versuchte, ihre Probleme wieder hinter einer dicken Mauer zu verbannen – zumal sie erfahren hatte, dass die Schweigegebote und Drohungen zu mächtig waren. Sie war der Meinung, Therapie würde so auf dieser Grundlage eh nicht funktionieren, und ganz ehrlich passte ihr das leichtgläubig auch gut in den Plan – nämlich endlich mal normal zu sein, zu leben, zu arbeiten,…
Doch diesen Plan hatte sie ohne ihre bedürftigen Anteile gemacht.
Immer wieder hatte Carlotta dieses „duselige“ Gefühl, Kribbeln… und das Wissen, nicht wirklich etwas kontrollieren zu können.
Eine Krise reihte sich an die nächste. Ihr Körper signalisierte auch das „Stopp“. Trotzdem arbeitete sie zuerst noch weiter auf 2 Arbeitsstellen und sah nicht den Sinn darin, zu handeln und sich wieder auf Therapie einzulassen.
Doch Stück für Stück erfuhr sie durch eigenes Empfinden, dass sie so nicht weitermachen konnte.
Frau Sommer hatte sowieso nie komplett den Kontakt abbrechen lassen und hatte immer mal wieder nachgefragt und Gesprächsangebote gemacht. Und doch darauf bestanden, dass Therapie nur freiwillig sein könnte – egal was sie selbst empfohlen hätte.
Zu dieser Zeit musste dann auch noch ganz plötzlich Carlottas Pferd Chitano wegen einer Kolik eingeschläfert werden, und sie verlor weiteren Halt und Sicherheit.
Carlotta hatte zu dieser Zeit oft das unbestimmte Gefühl, „weg“ zu müssen. Irgendwohin, wo sie sicher war und Ruhe hatte. Doch wusste sie auch keine Stelle, wo sie das hätte finden können.
Auf ihrer Arbeitsstelle fühlte sich Carlotta durch ihren Zustand nicht mehr wohl. Es waren einfach zu viele Leute, es war zu laut und hektisch. Es war zu „körperlich“. Ihren Zweit-Job schmiss sie hin und konnte wenigstens darüber etwas körperliche Entlastung finden.
Doch nun hatte sie an den Wochenenden frei und ihr Inneres wurde immer lauter.
Sie versuchte, sich Hilfe über ein Selbsthilfeforum zu holen.
Dort schrieb sie im September 2002:
„Hallo! Es kostet mich starke Überwindung, hier mal meine Gedanken und Gefühle, die ich zur Zeit spüre, offen zu zeigen. Ich bin in meiner Kindheit auch Opfer geworden. (Gemeint sind diese wenigen Erinnerungen, die sie an die Geschichte mit ihrem Cousin hatte.) Lange Zeit wusste ich nichts davon. Bis der Tag kam und alles über mich hereinbrach. Ich konnte nicht mehr, ich wollte nicht mehr. Habe es den Tag zum ersten Mal erzählt. Bin in eine Klinik gekommen. Für alle anderen in meiner Umgebung war es danach wieder in Ordnung. Und ich war wieder ein Jahr stumm. Dann habe ich mir endlich eine Therapeutin gesucht. Dachte es wird bald vorbei sein. Doch dann kommt noch mehr ans Tageslicht: Ich soll multipel sein. Kann es nicht glauben, will es nicht glauben. Doch es passt mit meinen Anwandlungen gut zusammen. DOCH ES DARF NICHT SEIN! Ich will normal sein. Will so sein wie alle in meinem Alter: Will raus, ohne Gedanken zu haben, will Spaß haben dürfen, will ohne Probleme Freunde/einen Freund haben, will eine sein und einfach gut schlafen können. Ich bekomme das Gefühl, dass es nicht nur ein Täter war. Aber wer noch?? Vielleicht stehe ich gerade vor ihm und merke es nicht!? Ich merke so vieles auf einmal nicht mehr. Alles ist durcheinander. Um alles zu erfahren muss ich reden/muss es zu lassen – doch wie??? Ich darf nicht! Ich habe Sätze in mir, die mir/uns das verbieten. Ich kann nicht offen sein, sonst bin ich tot und das stimmt – das spüre ich. Ich habe Todesangst und Angst durchzudrehen gleichzeitig. Eine Helferperson formulierte das mal so: „Es ist eine Zwickmühle! Es ist ja auch schwierig sich zwischen Cholera und Pest entscheiden zu müssen!“ Möchte doch einfach nur funktionieren. Meine Arbeit erledigen und leben. EINFACH NUR LEBEN – MUSS ES DENN SO SCHWER SEIN??? Habe kaum Hoffnung… und doch bin ich hart und halte durch. Hoffe das irgendwann einmal etwas Positives passiert und meine Therapeutin eine Chance hat gegen all das, was der/die(?) Täter noch an Macht über mich hat/haben. Bis dahin bin ich allein und hoffe. Lange kann ich bloß nicht mehr. Drückt mir die Daumen. DANKE.“
Sie war wieder mehr in Kontakt zu ihrer Therapeutin und begann, langsam auf die Suche/Erforschung ihrer Innenwelt zu gehen. Dabei hatte sie ständig das Gefühl, dass alle anderen Leute drumherum einen besseren Durchblick bei ihr hatten als sie selbst.
An einem Nachmittag, Ende des Jahres 2002, knickte Carlotta nach getaner Arbeit durch Unachtsamkeit mal wieder mit ihrem linken Fußgelenk um. Bei der ärztlichen Untersuchung stellte sich heraus, dass es so instabil war, dass es nach dem Abschwellen operiert werden sollte. Somit bekam Carlotta einen Gips und war krankgeschrieben.
In folgender Zeit hatte sie viel Zeit und Ruhe zu überlegen.
Sie war insgesamt eineinhalb Monate krankgeschrieben. Sie hatte zwar Angst, dass diese lange Krankheitszeit ihr negativ zu Lasten gelegt werden könnte. Und doch war es für sie leichter, es zu ertragen, „krank“ zu sein aufgrund einer körperlichen Erkrankung. Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass sie im Notfall jederzeit bestimmt eine neue Stelle finden würde… und dass dies vielleicht sogar auf lange Sicht gar nicht abzuwenden wäre, denn sie spürte, dass sie nicht mehr lange um einen stationären Klinikaufenthalt drumrum kam.
In der ambulanten Therapie ermutigte Frau Sommer Carlotta, eine Aufstellung (Landkarte) der Persönlichkeiten zu erstellen, die sie bis dahin kannte. Doch dies gelang Carlotta nicht – das innere Chaos weitete sich aus.
Deshalb führte Carlotta nun ein „offenes Tagebuch“, in das alles notiert werden sollte, was ihr „komisch“ vorkam; bzw. erkannte Wechsel (Switches) und dazu die jeweilige Beschreibung, um das Ganze etwas klarer vor Augen haben zu können für die Persönlichkeitsliste.
Als Carlotta die Texte aus dem offenen Tagebuch in der folgenden Therapiesitzung vorlas, war Frau Sommer sehr zufrieden und stolz auf das Erreichte. Doch Carlotta verspürte nur noch Angst! Die inneren Schweigegebote „Wenn du etwas sagst, bist du tot!“ versetzten sie in Angst und Schrecken.
Als Carlotta dann wieder arbeitsfähig und auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle war, fuhr sie durch Innenanteile gelenkt fast gegen einen Baum. Sie dachte schon: „Dieser Baum ist meiner! Ich werde sterben!“ Jedoch im letzten Moment wurde das Lenkrad herumgerissen und sie schleuderte etwas… kam dann jedoch wieder auf der Straße zum Stehen. (Jetzt im Nachhinein ist klar, dass täterloyale Anteile entweder wirklich den Suizid wollten oder einfach erschrecken wollten, weil deren Meinung nach zu viel preisgegeben worden war. In dieser Notsituation hatte Valerie, der Anteil, der die Aufgabe hat, Carlottas Körper das Leben zu retten, jedoch eingegriffen und das Auto sicher zum Stehen gebracht.)
Diese Warnung verunsicherte Carlotta zutiefst und machte ihr sehr viel Angst. Sie fühlte sich ohnmächtig, hilflos und unsicher in der Entscheidung, mit der Therapie fortzufahren. Sie wusste nicht weiter, …. sie hatte vor sich selber Angst. Sie fühlte sich so machtlos gegenüber ihrer Innenleute.
Im Selbsthilfe-Forum und in ihrem Tagebuch schrieb sie:
„Das macht mich alles so müde! Ich sehe kein Ende und keinen Horizont mehr! Ich hoffe, dass sich bald etwas zum Guten wendet! – Von allein! Denn die Zügel darüber spüre ich schon lange nicht mehr in meinen Händen!“
Sie arbeitete trotz ihrer Angst und Unsicherheit weiter an ihrer Persönlichkeitsaufstellung und geriet dadurch immer weiter ins Chaos hinein. Ihr ging es schlechter als je zuvor. Sie wusste nicht, wo hinten und vorne war, war durcheinander, unruhig und zittrig, konnte keine Ruhe finden, lief herum und wusste gar nicht genau, wohin. Dachte und dachte,… und nichts wurde klarer. Sie wusste eigentlich auch gar nicht genau, an was sie dachte.
Infolgedessen musste sie öfter ihre Arbeitsstelle verlassen, da es einfach alles zu viel für sie wurde.
Eine erste Persönlichkeitsliste konnte Carlotta Frau Sommer per Fax zusenden und war einerseits sehr froh darüber, andererseits hasste sie ihren Zustand.
Sie schrieb in das Fax neben der Aufstellung:
„Bin froh gewesen über die Liste! Hab die Phase des Durcheinanderseins schon als gut und hilfreich angesehen und dachte, „du wolltest doch immer mehr von dir kennenlernen. Jetzt zeigen sie sich und es ist zwar durcheinander, aber wie soll ich sie denn sonst kennenlernen? Bleib ruhig, die wollen sich doch nur zeigen!“ Das stimmt auch. Denn ohne die vielen Situationen im Grenzbereich hätte ich die Beschützer und die „Bösen“ nie kennengelernt und genau überlegt, sie zu unterscheiden! – Ich müsste zufriedener sein! Ich lerne mich kennen! Ich kann es aber nicht! Es herrscht Chaos! Ich habe Angst. Schlafe nicht mehr. Je mehr ich weiß und höre, desto konfuser wird es. Ich kann nicht mehr! Ich weiß nicht weiter!“
Die Vorschläge von Frau Sommer, die Innenanteile in „sichere Orte“ zu bringen und trotzdem jeden, egal ob wütend, sauer oder hilflos, zu begrüßen und trotzdem zu bitten, vorerst Ruhe zu geben, konnte Carlotta nicht umsetzen. Sie hatte das Gefühl, dass sie eh nichts ausrichten und verändern konnte – dafür war der Kontakt noch nicht gut genug.
In der nächsten Stunde bei Frau Sommer erfuhr Carlotta, dass nur noch 20 Therapiestunden bewilligt waren und es kaum Hoffnung auf eine Verlängerung gäbe, sondern sie 2 Jahre Wartezeit hätte.
Sie versuchte, dies wieder durch ein Festkrallen am Leben und Machen zu regulieren. Sie fühlte sich ständig getrieben und konnte keine Ruhe mehr finden – hatte nur noch Angst. Sie versuchte krampfhaft zu funktionieren, doch musste sie immer wieder erkennen, dass sie es nicht schaffte. Sie fühlte sich wie ein Versager – auch auf der Arbeit, denn sie musste sich weiterhin oft krankschreiben lassen. Es plagten sie Selbstmordgedanken und doch war ihr bewusst, dass sie eigentlich gar nicht sterben wollte, sondern nur ihr derzeitiges Leben nicht ertrug. Sie versuchte, Halt bei ihren Bekannten zu suchen, doch auch diese verstanden ihre Lage nicht. Carlotta fühlte sich hoffnungslos allein und verloren. Ein Trost und Spannungsabbau blieb ihr – die Bulimie. Sie stopfte Unmengen an Essen in sich hinein und erbrach alles wieder. Jedoch fühlte sie sich hinterher nur noch schlechter, stinkig, abartig und unfähig. Doch sie kam aus dem Kreislauf nicht heraus. Jede Situation, die sie zum Ablenken benutzen wollte, triggerte sie so, dass sie sie nach kurzer Zeit wieder abbrechen musste. Sie fragte sich sehr oft, was das alles wohl noch bringe? Und doch gab sie nicht auf.
Was in der „Parallelwelt“ zu dem Zeitpunkt mit Carlotta passierte, konnte sie immer noch nicht wahrnehmen. Fluchtgedanken und Schmerzen versuchte sie auf ihre derzeitige psychisch instabile Lage zu schieben. Aber ihre Anteile wussten und erfuhren es am „eigenen Leib“ ganz anders.
Es war längst in den Sektenkreisen bekannt, dass Carlotta mit Hilfe von Frau Sommer geschafft hatte, erste Erkenntnisse über ihre Anteile zu erarbeiten und diese auch geordnet zu notieren. Dies war auch nicht schwierig für die Täter herauszufinden, denn dafür mussten sie nur die Anteile nach vorne rufen, die sie sich einzig und allein zu dem Zweck erschaffen hatten, um Therapieinhalte zu speichern und an sie weiter zugeben.
Mehrere Anteile Carlottas wurden daraufhin mit härtesten Mitteln unter Druck gesetzt, dort einzugreifen und nichts mehr zu sagen. Andere Anteile, in der Fachwelt täterloyal/täteridentifiziert genannt, funktionierten längst automatisch, da sie die Handlungen/Meinungen ihrer Täter als ihre eigenen ansahen und dafür kämpften, dies auch so zu belassen.
Der Kampf war also eröffnet.
Carlotta wurde immer und immer instabiler und gefährdeter. Sie hatte nun fast täglich Kontakt zu Frau Sommer über Fax, Telefon, oder in den Sitzungen.
Als die Selbstmordgedanken und die Ängste unaushaltbar wurden, beschloss Frau Sommer mit Carlotta, dass nun ein Klinikaufenthalt unausweichlich war. Zwar wusste Carlotta immer noch nicht, ob es die richtige Entscheidung war und hatte Angst, ihre Arbeitsstelle zu verlieren, dennoch wollte sie ihren Zustand so nicht länger aushalten müssen.
Frau Sommer konnte über ihre Kontakte recht schnell einen Platz in einer Traumaklinik in der Nähe organisieren. Damals war Carlotta 23 Jahre alt.