Teil 8

Der nächste Versuch

Carlotta wurde recht nett dort empfangen, sowohl von den Betreuern als auch von einigen Mitbewohnern. Sie richtete sofort nach der Ankunft mit Hilfe von Jannis ihr kleines Notzimmer her, packte aus, räumte ein, damit alles fertig war. Jannis durfte auch die erste Nacht bei ihr übernachten, um den endgültigen Abschluss von alt zu neu nicht allzu heftig werden zu lassen. Aber als er dann gegen Mittag des nächsten Tages wegfuhr, war sie plötzlich auf langer, breiter Flur allein dort. In der neuen Umgebung mit komplett neuen Menschen… ohne irgendetwas Vertrautes.

Carlotta und ihr Alltagsteam versuchten, möglichst schnell dort Anschluss zu finden, sowohl mit den Mitbewohnern als auch mit den Betreuern, um schnell eine tragfähige Basis zu finden. Sie versuchte, wenn sie sich außerhalb ihres Zimmers aufhielt, offen auf ihre Mitbewohner zuzugehen und lockere Kontakte zu knüpfen. Die Betreuer waren auch sehr bemüht, ihr den Einstieg zu erleichtern. Sie fragten oft nach Carlottas Befinden, ob sie noch etwas brauchte, Fragen hätte, und banden sie in viele Sachen mit ein. Sie wurde zum Beispiel zu sämtlichen Mahlzeiten geholt und gefragt, ob sie bei den Vorbereitungen helfen würde. Und auch schon einen Strandausflug gab es in den ersten Tagen, an dem Carlotta teilnahm, auch wenn sie sich vorkam wie ein Alien am Strand. Es war alles einfach viel zu viel, zu neu, zu schnell nach der langen Klinikzeit.

Parallel dazu brodelte es in ihrem Inneren immens und sie befürchtete, völlig unverstanden und allein dazustehen, sollte es zu destruktiven Reaktionen auf den Wegzug durch ihre Dunklen kommen.

Die ersten Tage versuchte sie, viel aufzulisten und an die Betreuer abzugeben. Sie schrieb Triggerlisten, Anteilsauflistungen, Ressourcenlisten, Skill-Listen, suchte alte Berichte raus und versuchte so, möglichst in kurzer Zeit viele Infos zu ihr und ihrem System zu vermitteln. Sie hatte das Gefühl, dass darauf adäquat reagiert wurde und die Betreuer auch etwas Ahnung von DIS hatten. Das beruhigte sie ein wenig.

In ihrem Inneren regierte allerdings das Chaos.

Obwohl das hier alles recht gut auf den ersten Blick erscheint, fühl ich mich hier gar nicht gut. Innen ist grad ohne Ende Stress und Chaos angesagt. Andere Umgebung, neue Leute, Angst, Druck… Kids, die ständig verwirrt sind, wo sie sind!? Die Betreuerin, die den Kids erlaubt hat, jederzeit hier sein zu dürfen (vorne sein)… Aber das geht mal gar nicht! Die Betreuerin, die jetzt aus Sicherheitsgründen unsere Zimmerfenster mit abschließbaren Schlössern versehen will… Die Betreuerin, die nach einem Telefonat mit Herrn Ahlfeld möchte, dass wir unser Handy, Geld, Schuhe abgeben. Alles zur Sicherheit!!! Alles gut und schön mit einem großen ABER. Das erhöht den Druck in uns. Es ist kaum auszuhalten. Ich habe mega Schiss, dass das nächste Schneiden oder Schlimmeres nicht mehr weit entfernt ist.

Schon nach einer Woche dort hatten die Betreuer einen Termin bei einem Therapeuten, mit dem sie zusammenarbeiteten, besorgt. Er hieß Herr Pohl und arbeite in einer Institutsambulanz. Carlotta war sehr gespannt und aufgeregt vor dem Erstgespräch, denn davon hing ja viel ab.

Leider hatte dieser Herr Pohl so gar keine Erfahrung im Umgang mit DIS, sagte aber, dass er bereit wäre dazuzulernen. Was er dann aber von sich gab, ließ erahnen, dass das ganz und gar nicht passen würde. Er weigerte sich das Wort Anteil/Innies zu benutzen und bezeichnete diese stattdessen als „Rollen“ und „Zustände“. Er machte zur Regel, dass er nie mit einer Gruppe von „Zuständen“ arbeiten werde, sondern nur mit einem zuständigen Vertreter. O-Ton: „Wenn Sie weiterhin auf ihr Gruppenkonzept bestehen, dann werden Sie in ihrem Leben richtige Probleme bekommen und sehr einsam sein. Denn es gibt keine Leute, die so etwas verstehen. Ich würde ja auch keine Partnerin, Kinder und Jugendliche zugleich haben wollen!“

Sehr verletzt, enttäuscht verließ Carlotta seine Praxis und erzählte den Betreuern des Wohnheims von der Sitzung. Diese reagierten recht schwammig von: „Ja, natürlich ist das, was er gesagt hat nicht in Ordnung.“ bis: „Aber wir wären dafür, dass ihr nicht gleich abbrecht. Vielleicht ändert sich da ja noch was.“

Und in Ermangelung weiterer Alternativen und um nicht gleich einen auf bockig zu machen, ließ sich Carlotta erstmal darauf ein, obwohl sie wusste, dass das höchstwahrscheinlich nie etwas werden würde.

Nach der Sitzung mit Herrn Pohl nur noch geheult! Es ist ja auch zum Heulen… Eigentlich würden wir uns sowas nie sagen lassen. Aber wie heißt es so schön: Man muss ja vernünftig sein! Man darf sich nicht alles selber verbauen. Wird schon! Kopf hoch und weiter! Arrrr… aber wenn es denn mal weitergehen würde!!! Hier geht gar nichts! Jeden Tag das Gleiche: Aufstehen, Frühstück, Rumhängen, Fernsehen, Musik, Schreiben, im Haus dumm rumhängen, Essen, Rauchen, …. Nichts halt! Jeder geht hier seinen eigenen Weg. Die meisten Mitbewohner, die fit genug sind, sind tagsüber weg. In irgendwelchen Beschäftigungen, Werkstätten, Ausbildungen oder sonst wo… in der Stadt oder so. Nur abends kann man sich mal mit einigen, die ich bereits mehr mag, zusammensetzen. Da ist eine voll nette Nika dabei. Die mag ich irgendwie. Ansonsten ist hier tote Hose… und durch dieses doofe Schuhe-Wegnehmen kommen wir ja nicht mal vor die Tür!
Und mit dem Essen haben wir auch voll Stress. Nur zu den Essenszeiten kommt man an was Essbares ran und dann auch nur in der Gruppe, so dass Essen für 10 nicht drin ist. Sonst ist der Kühlschrank nämlich abgeschlossen – wohl wissend der ganzen Essgestörten hier! Das macht voll Druck… fühlt sich zusätzlich an wie auf Entzug.

Ich hab auch so doll Körperschmerzen… und alles ist voll düster grad 🙁

Carlotta war nun schon zum zweiten Mal bei Herrn Pohl gewesen und hatte auch einmal an einer Psychoedukationsgruppe der Institutsambulanz teilgenommen. Das war ja auch alles wohlwollend und gut organisiert worden durch ihre Betreuer, aber Carlotta merkte immer deutlicher, dass das alles nichts für sie war, dass es sie kein Stück unterstützte, sondern im Gegenteil nur weiter herunterzog.

Herr Pohl als typischer Verhaltenstherapeut erfragte in der Sitzung die aktuellen Probleme: wenig Kontrolle, viel Angst, wenig Tagesstruktur, viel Krieg, wenig Sicherheitsgefühl, viel Unzufriedenheit und viele Fluchttendenzen. Und gab Carlotta den Arbeitsauftrag, das alles mal in einen Strukturplan zu packen und abzuarbeiten. Dabei sollte sie mit Belohnung und Strafe arbeiten! Dabei sollte es eine Vertreterperson geben, die dieses durchführen sollte. Damit würde er bezwecken wollen, dass andere in den Hintergrund treten!

Carlotta reagierte wütend und fassungslos. Doch so richtig nach außen konnte sie gar nicht reagieren. In der Zwischenzeit war Carlotta nämlich Stück für Stück bewusst geworden, dass ihr Zustand mit einem innerlichen Programmstart zu tun hatte. Sie war eine zu lange Zeit zu weit weg vom Täterkreis. Sie war gefangen in einer schwarzen Wolke der Dissoziation und fühlte nur noch existenzielle Ängste und hatte einen sehr starken Drang wegzulaufen. Sie wusste nicht wohin damit.

Doch irgendwann wurde es ihr zu gefährlich und sie offenbarte sich den Betreuern. Diese wiederum telefonierten mit Herrn Pohl und baten um Unterstützung. Die Betreuer waren offensichtlich der Meinung, Herr Pohl könnte da etwas richten. Er reagierte aber nur wütend und meinte: „Na dann brauch ich mit ihr ja auch keine Therapie machen, wenn eh alles so hoffnungslos ist!“

Als Reaktion darauf bekam Carlotta noch mehr Sicherungsmaßnahmen durch die Betreuer. Sie sollte von da an regelmäßig kontrolliert werden.

Der innere Druck stieg immer weiter an.

Zeitlich parallel versuchte Carlotta, mit der Sozialarbeiterin der Einrichtung ihren Umzug auch behördlich zu komplettieren. Sie kündigten mit Hilfe ihrer immer noch gesetzlichen Betreuerin Konten, löste Sparbücher auf, um später keinerlei Verbindungen zur alten Heimat zu haben.

Und auch dadurch stieg der innerliche Druck weiter und weiter an.

Als dann auch noch eine kriselige Mitbewohnerin durchdrehte, in der Küche randalierte, auf dem Weg in ihr Zimmer sämtliche Blumentöpfe von den Fensterbänken schmiss, rumschrie und schließlich durch die gerufene Amtsärztin und mit Hilfe der Polizei in Handschellen abgeführt wurde, um in die Geschlossene gebracht zu werden, war Carlottas Kontrolle völlig dahin. Kleine Anteile reagierten völlig getriggert auf diese Aggression. Sie schaffte es zwar noch einige Stunden… aber in der Nacht kam es dann doch leider zu sehr tiefen Schnittverletzungen. Die Nachtbereitschaft versorgte sie erst einmal grob, und Carlotta und ihre völlig aufgelösten angetriggerten Kids sollten im Nachtbereitschaftszimmer schlafen, bis der Frühdienst kam. Die Nachtbereitschaft war wirklich sehr bemüht, Carlotta und ihre Anteile zu beruhigen. Sie las Geschichten vor und war sehr geduldig, bis Carlotta und ihre Anteile sich wieder etwas beruhigt hatten.

Mit dem Frühdienst fuhr sie ins Krankenhaus. Dort wurde nicht nur genäht, sondern es wurden auch Drainagen in die Schnitte gelegt. Im Laufe des Tages wurden diese Schnitte allerdings so schmerzhaft, dass sie erneut abends ins Krankenhaus musste. Dort wurden ihr Schmerzmittel und Antibiotika verschrieben und der Arm mit einer Gipsschiene stillgelegt.

In den folgenden Tagen musste Carlotta jeden Tag zur Hausärztin zur Wundkontrolle. Wegen der ganzen Sicherheitsregeln wurde Carlotta auch jeweils von einem Betreuer begleitet und darum war Carlotta auch echt sehr dankbar. Sie hätte sich nicht ausmalen wollen, wie das alles hätte gehen sollen, wenn sie diese Strecken allein mit dem Bus oder Taxi auf Selbstkosten hätte schaffen sollen. Denn sie war zwar mittlerweile schon ein paar Wochen in dieser neuen Stadt, aber sie kannte sich komplett gar nicht aus, weil sie ja wegen der abgegeben Schuhe nie vor die Tür kam.

Das alles zusammen war sehr, sehr viel.

Als dann auch noch ein kleiner Anteil, Pepe, mit innerem Auftrag (auf Kontaktsuche zu gehen und die Umgebung auf Autos und Tätern abzuscannen) auf Socken aus dem Wohnheim weglief und erst nach mehreren Kilometern durch eine Betreuerin, die mit dem Auto auf Suche gefahren war, wieder aufgefunden wurde und Carlottas Alltagsteam als Reaktion darauf im Gespräch mit ihrer Bezugsbetreuerin Kerstin zugab, dass eigentlich gar nichts mehr unter Kontrolle wäre, beschlossen die Betreuer, dass es Zeit für einen Amtsarzt wäre.

Dieser kam dann auch und wies Carlotta halb freiwillig, halb „wenn ich mich weigere, wird es eh zum Zwang“ auf eine geschlossene Akutpsychiatrie ein. Die Betreuer hatten keine Zeit oder wollten nicht fahren. Deswegen wurde sie mit einem Krankenwagen gefahren.

Akutpsychiatrie
Ausgebrannt und leer
und doch so voll von Chaos,
so schreien unsere Seelen nach Hilfe.
Doch bekommen wir nur:
Fragen, Unverständnis
… und einen leeren, aber lauten Krankenhausflur.
Auf und ab
streichen wir daher
wie im Leben,
obwohl der geplante Schutz
eher wie ein Himmelfahrtskommando aussieht.
Noch kann Hilfe nicht erkannt werden,
sondern wird sogar bestraft.
Noch recken sich nicht alle Arme
dem neuen Leben entgegen.
Noch ist kein Licht
am Ende des Tunnels
zu sehen.
… und doch dürfen wir nie aufgeben!

Die Nacht auf der Station war grauenhaft für Carlotta und ihre Innens. Schon das Aufnahmegespräch hatte gezeigt, dass sie dort völlig falsch war. Diese Station hatte keinerlei Erfahrung mit Komplextraumata und schon gar nicht mit Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung.

Der zweite Horror war Carlottas Zimmernachbarin. Eine alte, verwirrte Dame, die ewig am Schimpfen war und scheinbar komplett auf einem anderen Planeten war. Carlotta versuchte zuerst, sich in dem Zimmer mit ihr aufzuhalten, als diese alte Dame allerdings auch nachts keine Ruhe gab und Carlottas Innens nur noch panisch reagierten, tigerte Carlotta die ganze Nacht durch den Flur.

Carlotta wollte am nächsten Morgen sofort wieder entlassen werden! Und nach endlosen Gesprächen mit der Stationsärztin und den Betreuern, wurde dem stattgegeben.

Wieder im Heim
Carlotta war endlich wieder „zu Hause“.
Zu Hause….
was für ein lachhaftes Wort.
Wenn wir mal ein zu Hause hätten!
Was heißt denn zu Hause?
Sollte man sich da nicht „zu Hause“ fühlen?
Aber das tue ich nicht!
Mal hierhin geschoben, dann wieder dahin…,
alles unter dem Begriff „Hilfe“
pfff
Ich frage mich echt, wo ich hingehöre…
manchmal denke ich:
Die Täter haben Recht!
Ein Leben außerhalb
gibt es nicht! Wird es nie geben!
Aber so darf und will ich ja nicht denken.
Nur scheitere ich immer wieder an der Frage:
Wo gehöre ich/Wo gehören wir hin?
Wir stehen so sehr zwischen den Parteien,
dass es keinen Halt mehr zu geben scheint.
Der Absturz fühlt sich so nah an!

Carlotta wusste nun einmal mehr, was sie nicht wollte. Sie sagte sich: Egal wie es mir geht, auf gar keinen Fall mehr auf diese Akutstation! Ich muss meine Tage nur noch Tag für Tag planen. Kurzfristige Ziele setzen, die ich noch erreichen möchte. Und ein Ziel ist der Besuch von Jannis hier und mein Besuch bei meiner Freundin Julie, um mit ihr ihren Geburtstag zu feiern.

Vor der Sitzung mit Herrn Pohl hatte Carlotta Angst. Sie befürchtete schon, dass er die Entwicklungen und Vorkommnisse ihrer letzten Tage nicht so nett aufnehmen würde. Und damit sollte sie Recht behalten.

Schon bevor Carlotta die ganze Zusammenfassung zu Ende gebracht hatte, fragte Herr Pohl, der für 3 Wochen in Urlaub gehen wollte, wie hoch die aktuelle Suizidalität auf einer Skala von 0-10 wäre. Carlotta antwortete ganz ehrlich mit 50/50 (weil sie diese Punkteskala nicht einschätzen konnte). Daraufhin verließ Herr Pohl wortlos den Raum und kam erst nach circa zehn Minuten wieder. Er sagte, er hätte mit der Akutpsychiatrie telefoniert und er wollte, dass sie sofort freiwillig in die Klinik ginge – er würde einen Krankentransport rufen, ansonsten würde er die Therapie mit ihr ein für alle Mal abbrechen. Er bräuchte das als Sicherheit, um nicht nach dem Urlaub von ihrem Tod zu erfahren.

Carlotta und ihre Anteile reagierten entsetzt!

Die angebotenen 30 Minuten Bedenkzeit benötigten sie gar nicht und sagten: „Dann wars das wohl und verließen den Raum. Draußen wartete eine Betreuerin, die zur Begleitung mitgekommen war. Als sie davon erfuhr, versuchte sie Carlotta umzustimmen. Den Betreuern war nämlich nicht recht, dass sie damit mit ihrer Verantwortung ohne therapeutische Unterstützung allein waren. Sie bedrängte Carlotta, doch vernünftig zu sein und noch mal zu überlegen.

Als die Betreuerin bemerkte, dass der Entschluss bei Carlotta feststand, besprach sie sich auch noch mit Herrn Pohl, doch dessen Plan war nicht aufgegangen, denn die Akutpsychiatrie hatte ihn zurückgerufen und gesagt, dass sie Carlotta nicht gern wiederaufnehmen würden, weil sie nicht absprachefähig wäre.

Und somit dachte Carlotta, von nun an ohne Therapeuten zu sein, was ihr nicht weiter schwerfiel, denn mit Herrn Pohl war es für sie eher schwerer als ohne. Den Betreuern war das ganze natürlich nicht Recht. Allein Nika und noch einige wenige andere Mitbewohnerinnen, zu denen Carlotta in den vergangenen Wochen schon eine vertrauensvolle Beziehung hatte entwickeln können, verstanden und stützten Carlotta in ihrer Wahrnehmung. Wenn die Betreuer schon oft leider keine entsprechende Unterstützung sein konnten, so versuchte zumindest die kleine Mädelsgruppe, sich untereinander gegenseitig zu stützen.

Carlotta hatte nach all der miesen Zeit einen großen Wunsch: zu leben. Sie wollte unbedingt den Besuch von Jannis, ihrem Ex-Mitbewohner, und dann den Geburtstag mit Julie im Juni 2005 feiern.

Sie versuchte deshalb, wenn sie sich außerhalb ihres Zimmers aufhielt, stabil zu wirken und noch mehr nur mit sich selbst auszumachen, damit die Betreuer ihr erlaubten, zu Julie zu fahren. Sie schloss sogar einen Suizidvertrag ab, obwohl sich sowas schon früher als völlig unwirksam erwiesen hatte. Doch das erzählte sie der Betreuerin nicht und ließ sie in ihrer Sicherheit, die sie benötigte.

Am Freitagabend kam dann Jannis zu Besuch und durfte bei ihr übernachten. Und am Samstag fuhren beide in Richtung Süden. Jannis setzte Carlotta bei Julie ab. Die Geburtstagsüberraschung war geglückt! Und so verbrachten Carlotta, Julie, ihr Baby, ihr Ehemann Sven und ein paar Gäste ein paar schöne Tage zusammen.

Wieder viel zu früh zurück im Wohnheim schrieb Carlotta in ihr Tagebuch:

Ich komme gerade aus dem Wochenende bei Julie und Sven wieder. Es war schön… wenn auch an manchen Stellen schwierig.
Am Freitagabend kamen noch weitere Gäste zu Julies Geburtstag und wir haben gefeiert. Nette Musik, Umgebung, Leute. Allerdings fühlte ich mich mal wieder etwas verloren irgendwie. Mit ner halben Flasche Rotwein und 2 Mischen Cola Weinbrand intus wurde es dann etwas leichter… aber irgendwie??? 🙁 Ich bin ziemlich unzufrieden mit mir/mit uns… naja, aber was kann man schon erwarten nach recht langer Zeit in der Klinik, dann komplett abgeschirmt im Wohnheim…!? Ich habe das Gefühl, dass ich mich komplett zurückentwickelt hab. Ich muss unbedingt wieder zurück ins Leben!!!! Echt fast lustig das zu schreiben, wenn wir gleichzeitig suizidal sind.

Komme grad irgendwie gar nicht mehr klar. Jetzt wieder hier zu sein, macht mich fertig. Mein Leben ist so unwert und nur noch grau und von der Vergangenheit geprägt. Was soll das denn alles, wenn ich doch ständig nur unfähig, blockiert bin und auf alles und jeden Rücksicht nehmen muss, nur um nicht ganz abzukacken!? Ich will die anderen in mir nicht mehr! Und ich will am liebsten in die Zeit zurück, als ich von all dem noch nichts wusste und einfach nach dem Motto „Was kostet die Welt“ gelebt habe. Aber das ist alles doch nur Selbstbetrug. Manchmal erscheint es mir viel leichter, wenn ich denk: ich geh einfach wieder zurück in die Kreise – nur um an einigen Stellen etwas mehr Selbstbestimmung zu bekommen. Aber auch wieder Selbstbetrug, ich weiß. Aber SO und HIER geht das nicht weiter. Ich fühle mich wie in nem Affenkäfig mit lauter Regeln, „Schutz“maßnahmen, Einschränkungen… diese ständige Rücksicht, Fragerei kotzt mich total an! Und das alles für nichts und wieder nichts! Und dann noch diese ewigen Suizidverträge… diese „ach so wichtigen“ Wischs…mein Gott!!! Ahhh…

Ich hab keinen Bock mehr darauf. Würde es viel lieber drauf ankommen lassen. Entweder es geht gut oder halt nicht! Pech! Ich habe kein Bock mehr auf all das… und währenddessen zieht das Leben vorbei.

Nur um irgendwann mal irgendwo anzukommen… wobei niemand weiß, wann das ist und ob das je so kommt. Und die Betreuer können mir auch gestohlen bleiben. Die ewig mit ihrem „Wird schon alles!“ „So ein großer Schritt in die richtige Richtung!“ „Das Gewöhnen dauert natürlich“ „Ihr werdet hier auch schon Freunde finden!

Ich will ausbrechen
aus dieser kranken Welt.
Ich will aufbrechen
in eine Dimension aus Leben,
Freude, Tanz und Lachen,
aus Gemeinschaft
und Energie.
Keine Rücksicht mehr!!!!
Ich will leben!!!
Und wenn es den Tod kostet…
ICH WILL LEBEN!!!!

Carlotta hatte längst ein ihr sehr bekanntes Muster bei den Betreuern entdeckt. Sie waren wirklich sehr, sehr bemüht und versuchten, so viel wie möglich richtig zu machen. So unerfahren und jung, wie sie halt dachten, dass es richtig wäre. Und wenn es trotzdem zu Ausbrüchen kam, verdichteten sie mehr und mehr die Regeln und Sicherheitsvorkehrungen und fuhren, wenn sie gar nicht mehr weiter wussten, mit Carlotta zu Ikea, damit sie sich „etwas Schönes für ihr Zimmer – ihren sicheren Raum -“ aussuchen durfte. Mal war es ein bunter Teppich, mal war es ein neues Rollo vor den Sicherheitsschlössern des Fensters, mal war es ein Vorhang, um sich in einer Nische des Zimmers eine Höhle bauen zu können.

Die eigentlichen Bedürfnisse wurden nicht gesehen bzw. überforderten das junge Betreuerteam. Tiefere Gespräche hatten eigentlich immer zur Folge, dass Carlotta noch mehr eingeschränkt wurde.

Aus dieser Sichtweise heraus gab Carlotta ihr Handy nicht wieder im Stationszimmer des Wohnheims ab. Die Betreuer merkten das nicht einmal und Carlotta thematisierte das auch nicht.

Überraschenderweise befanden sich auf ihrem Handy neben zig anderen SMS auch 2 von Sven. Er schrieb, dass er den Besuch von Carlotta sehr genossen hatte und seitdem ewig auf die Fotos gucken müsste. Er schrieb durch die Blume, dass er sich in Carlotta verguckt hätte. Diese Aussagen brachten Carlotta völlig durcheinander. Einerseits war sie wütend, warum er ihr so etwas erzählte und sie in eine saublöde Situation Julie gegenüber brachte. Andererseits fühlte es sich aber auch gut an, da er, aber nicht persönlich er, das Idealbild eines sorgenden Partners abgab, der Julie auch so gut tat, wie Carlotta es gern selbst gehabt hätte. Insgeheim hatte sie Sehnsucht nach genau solch einem Menschen, nur nicht explizit nach ihm, da es für sie ein Tabu war, den Partner der besten Freundin auch nur ansatzweise für sich in Betracht zu ziehen.

Das, was Sven mir geschrieben hat, ist ja alles gut und schön… aber auch ohne Ende frech und ein Tabu! Was denkt der sich? Wie soll ich denn jetzt damit umgehen? Wie soll ich zukünftig mit ihm und vor allem Julie umgehen? Ich habe das Gefühl, dass dieser Ausspruch von ihm jetzt schon super viel kaputt gemacht hat in der Beziehung zu den beiden. Fühle mich noch mehr allein als vorher schon. Als ob er mir nur durch diese SMS ganz plötzlich das gute Verhältnis zu 2 Leuten geklaut hat. Tja… wieder mal ein Schlag in die Magengrube. Wie herrlich passend genau in diesem Moment.

Den Alltagsleuten und Carlotta war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass sich unter der ganzen Sammlung an eingegangenen SMS auf ihrem Handy auch eine an bestimmte Innens gerichtete Nachricht befand, die bereits von dem entsprechenden Anteil gelesen worden war. Wegen des Themas mit Sven bemerkte sie allerdings nicht die Vorgänge in ihrem Inneren, die daraufhin losgingen.

FILMRISS

Intensivstation

3 Tage später wachte Carlotta auf der Intensivstation des Stadtkrankenhauses langsam durch einen schleiernen Nebel wieder auf. Sie konnte sich selbst denken, was geschehen war. Irgendwer hatte mal wieder Schluss machen wollen oder sollen. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie sich in ähnlicher Situation befand.

Ein nervendes Piepen, Kälte, überall Kabel, Schläuche und Manschetten.

Durch ein Telefonat mit dem Wohnheim konnte sie in Erfahrung bringen, dass sie in ihrem Zimmer bewusstlos aufgefunden wurde neben einer Menge leerer Blister und dass sie dann sofort durch den herbeigerufenen Notarzt und Rettungswagen in das Krankenhaus auf die Intensiv gebracht wurde. Dort hatte man ihr ein Antidot gespritzt, ihren Magen ausgepumpt, über eine Sonde Aktivkohle verabreicht und sie unter Monitorüberwachung gestellt.

Als sie wieder richtig wach war, die Blutwerte sich besserten, alle Werte stabil waren und in ihrer Ausscheidung festgestellt wurde, dass die Aktivkohle die Wirkstoffe der Medikamente absorbierte, wurde sie per Krankentransport auf eine geschlossene Station einer zuständigen Psychiatrie (nicht der vorherigen) gefahren.

Neue Psychiatriestation

Sie musste also die nächsten Tage auf der neuen geschlossenen Station verbringen, denn sie hatte sich einen richterlichen Beschluss zur geschlossenen Unterbringung eingefangen.

7 Tage in einem Akut-Zimmer. Das hieß, sie stand ständig unter Beobachtung vom Personal, da die eine Wand des Zimmers nicht aus Wand sondern aus Fenster zum Schwesternzimmer bestand.

Carlotta fühlte sich nicht sehr gut aufgehoben dort. Sie empfand es insgesamt zwar besser als auf der geschlossenen Station der anderen Psychiatrie in Kleiningen, aber es wurde immer und immer deutlicher, dass auch dort das Personal nicht erfahren mit DIS und ihrem Hintergrund war. Selbst der Stationsarzt gab Carlotta nicht das Gefühl, dass er ihren vorsichtigen Ausführungen Glauben schenkte. Und so kam es, dass sie einfach dichtmachte und versuchte kaum noch etwas nach außen dringen zu lassen, sondern stets angepasstes Verhalten zu zeigen und zu lächeln. Auch dort griffen wieder die unbewussten aber doch durch den äußeren Druck ausgelösten Anpassungen in Carlottas Persönlichkeitssystems.

Deshalb konnte Carlotta nach 7 Tagen entlassen werden.

Wieder im Heim

Zurück im Wohnheim schrieb sie in ihr Tagebuch:

Hier wieder angekommen hatte ich erstmal voll das komische Gefühl – als ob alle sauer auf uns wären, als ob alle uns meiden. Aber das stimmt nicht! Ich glaube, die machen sich Sorgen und haben sich erschreckt.
Nika hat das sogar genauso gesagt. Das war wohl alles sehr dramatisch. Was ich ja nicht weiß durch den Filmriss. 🙁

Ich glaube, das ist auch angebracht… Sorgen… ich habe da so ein komisches Gefühl. Kann es aber nicht deuten. Ist echt voll strange gerade – habe Angst vor mir/vor uns!

Ich habe mir vorgenommen, mal mit Frau Sommer zu telefonieren. Sie ist zwar weit weg, aber sie kennt uns und hat Ahnung, was ich leider von allen hier nicht behaupten kann 🙁

Ich muss mit ihr reden, was das mit diesem Suizidversuch auf sich hatte.

Das hört auch alles nicht auf. Suizidalität, Fluchtgedanken, heftige Ängste, „leben wollen“ und das alles gemischt im völligen Chaos, was mich völlig kopfdicht macht.

Im Übrigen kriege ich mal wieder viel nicht mit, bin ständig dissoziiert. Das ist ja nicht ungewöhnlich, aber es fühlt sich anders an.

Carlottas Zustand besserte sich auch in den nächsten Tagen nicht. Sie fühlte sich wie abgeschnitten vom Leben und von ihrem Inneren. Sie lebte zwar, aber hatte kaum Anteil daran. Sie nahm zwar an allen Mahlzeiten, zu denen sie wach war, teil und saß auch regelmäßig mit beim Kaffeetrinken auf der Terrasse inmitten von einigen netten Mitbewohnern und Betreuern, aber sie konnte es kaum ertragen, dass scheinbar jeder den Sommer genoss – nur sie zog sich immer und immer mehr zurück.

Sie konnte nachts nicht zur Ruhe kommen und schlief deshalb tagsüber viel. Sie fühlte sich durch und durch matt und matschig.

Deshalb schrieb sie all ihre Sorgen, Gefühle und all das was in der Zwischenzeit seit ihrem Umzug geschehen war in einen Brief an ihre alte Therapeutin Frau Sommer.

Und dann gab es ja da noch die Geschichte mit Sven.

Sofort als sie nach der Entlassung ihr Handy wiederhatte, schrieb Sven ihr regelmäßig Textnachrichten und umgarnte sie. Er wolle sich so gern mal allein treffen. Sie wäre seine Traumfrau. Wenn Julie nicht wäre…

Carlotta war das zu viel. Es schmeichelte ihr auf eine Art und passte wunderbar in den Aspekt „Ich will das Leben spüren!“, aber insgeheim wusste sie, worauf das abzielte. Sie wies ihn regelmäßig in seine Schranken, wenn sie das Gefühl hatte, dass er sie auf das Körperliche reduzierte. Und doch stoppte sie es nicht komplett.

Eines Morgens wachte Carlotta auf und musste feststellen, dass wieder geschnitten wurde. Ihr komplettes Bett und ihre Kleidung waren mit Blutflecken übersäht. So musste sie wieder einmal zum Nähen ins Krankenhaus. Die junge Chirurgin mit nicht allzu viel Erfahrung nervte sie mit mitleidigen und fragenden Blicken und mit ihrer Langsamkeit beim Nähen. Carlotta war genervt… schon lange schockierten sie Schnittverletzungen nicht mehr.

Am selben Tag erklärten die Betreuer Carlotta, dass sie einen Termin bei Herrn Pohl hätte. Carlotta verstand nicht, wieso die Betreuer da immer noch drauf bestanden, weil doch längst feststand, dass das nicht funktionierte und sowohl Herr Pohl als auch sie die Therapie beendet hätten. Doch es nütze nichts. Carlotta musste zu dem Termin.

Herr Pohl machte zur weiteren Auflage, wenn denn die Therapie mit ihm weitergehen sollte, dass sie ihm einen Vertrag unterschrieb, indem sie ihm erlaubte einzuschätzen, wann sie in die Klinik geht und wann nicht. Für Carlotta stand die Antwort natürlich ganz klar fest.

Aber kaum erzählte sie den Betreuern in der Nachbesprechung, dass sie vorhätte, den ganzen Quatsch nicht zu unterschreiben, gab es Druck.

Carlotta fühlte sich von den Betreuern ganz und gar nicht verstanden und unterstützt. Vielmehr fühlte sie sich nur noch unter Druck und in der Verpflichtung, die Betreuer zu beruhigen, denn nur so konnte sie den Druck auf sich selbst reduzieren. Carlotta war sich schon im Klaren, dass die Betreuer das nicht bewusst machten, um ihr zu schaden, denn sie sah ja mit eigenen Augen, dass sie überfordert und unsicher waren. Wahrscheinlich waren sie nicht in der Lage, Carlottas Lebensrealität live mitzuerleben. Wahrscheinlich hatte sich das formal „eine DIS-Patientin beim Ausstieg unterstützen“ erstmal machbar angefühlt und war dann doch zu viel, was sie sich aber wahrscheinlich nicht eingestehen konnten. Aber all das Verstehen der Lage der Betreuer machte es kein bisschen besser. Es machte sie sogar sehr, sehr traurig und einsam. Das, was Carlotta und ihre Anteile gebraucht hätten, gab es nicht. Und die „Hilfe“, die die Betreuer gaben, bedeutete immer erst einmal erschrockene Gesichter, stumme Stille, einberufene Teamsitzungen mit anschließendem Verlust Carlottas, noch mitreden zu dürfen, weiteren Einschränkung und dem Wunsch der Betreuer auf Bestätigung, dass nun alles gut war.

Einzig und allein das immer weitere Annähern und Zeitverbringen mit Nika und ihren Mädels und einigen anderen Mitbewohnerinnen gab Carlotta kurze leichte Zeiten zwischendurch.

Es entwickelte sich langsam aber stetig eine Verbindung, die daraus bestand, dass sie alle aus bestimmten schwierigen Gründen dort in diesem Heim gelandet waren und jeder mit der eigenen Geschichte versuchte klarzukommen und sie sich gemeinsam ablenkten, unterstützten, verstanden und versuchten, gute Zeit miteinander zu verbringen.

Mein Gefühl, hier wegzumüssen, verstärkt sich immer mehr. Ich weiß einfach nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Alles total durcheinander!
Ich mein… puhhh… diese Situation zurzeit: Ich leb hier meine Zeit ab. Mehr schlecht als recht. Ich bin ständig bewacht, befragt, mit unsinnigen Verträgen vollgestopft, kann nichts allein entscheiden. Was soll das denn?… ich sag mal: wenn es denn wenigstens etwas bringen würde. Aber das tut es nicht!

Alles für die vermeintliche Sicherheit. Für den Ausstieg! Genau!!!

Aber was soll mir das denn alles nützen, wenn es das nicht wert erscheint?

Ganz ehrlich… und das ist zwar hart, aber wenigstens ehrlich: Das vorher war echt sehr, sehr scheiße und ja, wir hätten das auch nicht mehr lang ausgehalten. Aber wenigstens ging es zwischenzeitlich funktioneller, normaler, lebendiger vor sich und war (außerhalb des geforderten Verhaltens) in eigener Verantwortung, Entscheidungsfreiheit. Dort gab es ein Helfernetz, wirkliche Freunde, feste Strukturen, und es ist tieftraurig, dass es das hier alles fehlt. Na gut, mit Nika und den Mädels kann das ja noch werden… denn das braucht natürlich alles Zeit. Aber von der professionellen Seite??… 🙁 Kerstin, meine Bezugsbetreuerin, bringt mich kein Stück weiter und ein ansatzweises Verstehen kann ich da auch nicht erkennen. Irgendwie will hier nur jeder Unkompliziertheit sehen. Alles was unkontrolliert ist, nicht nach Plan läuft, wird durch Druck und neue Regeln „bestraft“.
Zwar gibt es vermeintliche Sicherheit, aber auch nur, wenn ich diesen blöden Brief an die Täter, in dem schon vor Wochen alles verraten wurde, vergesse… aber zu was für einem Preis?
Aber ich trau mir auch nicht mehr… ich weiß nicht, ob das alles Selbstbetrug ist, ob es ein Schönreden der Vergangenheit ist, die wir ja aber auch aus guten Gründen verlassen haben, oder ob es Bagatellisieren ist… denn ich weiß gerade gar nichts mehr, außer dass ich grad eh durchdrehen könnte, weil der Weggeh-Druck sich immer mehr steigert.

Trotz oder gerade weil Carlotta aus diesem ganzen Gefühl ausbrechen wollte, verabredete sie sich mit Sven zu einem Treffen. Sie wollte einfach nur raus, weg, etwas anderes, und so machte sie sich schick und fuhr mit Sven in die angrenzende Stadt. Dort gingen sie erst in einen Gothic-Treff, nachdem es ihnen aber dort nicht gefiel, in einen anderen Gothic-Szeneladen. Den ganzen Abend redeten sie, verstanden sich wirklich gut, tranken, tanzten und verhielten sich schließlich wie ein frisch verliebtes Pärchen mit Küssen, Kuscheln und Händchenhalten. Als Sven Carlotta um 3 Uhr nachts zum Wohnheim zurückbrachte und wegfuhr, war Carlotta viel zu aufgekratzt, um zu schlafen. Sie schrieb in ihr Tagebuch:

Mann Mann… was war das denn? Ich schäme mich so. Ich mag Sven ja echt gerne und die Zeit mit ihm war auch echt toll… endlich mal wieder etwas Leben… einer der zuhört, der mich ernst nimmt… aber er gehört zu Julie verdammt noch mal!!!! Warum ich das mache, weiß ich nicht. Oder vielleicht doch… ich glaube Kaja war da den ganzen Abend auch ziemlich im Co mit mir. Und irgendwie war es total schön und aufregend. Aber ich habe damit nicht gerechnet, dass es SO wird. Das ist krass! Aber vielleicht brauchen wir gerade so etwas Krasses, um zu spüren, dass wir noch leben oder einfach, was schon öfter Thema war „Ohne Rücksicht auf Verluste… leben!“ Aber ich mache damit doch viel zu viel kaputt! Jetzt kann ich nur hoffen, dass Julie es nicht wittert. Ich könnte es nicht verkraften, sie zu verlieren durch meine/unsere Dummheit!

Wieder im Alltag versuchte Carlotta das Thema so weit wie möglich von sich wegzuschieben und einfach weiterzumachen.

Plötzlich erhielt Carlotta einen Anruf auf dem Stationstelefon. Es war Frau Sommer, die aufgrund des Briefes angerufen hatte.

Das Telefonat war ein sehr langes, intensives, erschreckendes und wichtiges! Es wurden viele Themen besprochen und Fragen geklärt. Frau Sommer schaffte es auch, wirklich wichtige Dinge von Carlottas Innens zu erfahren.

Hirntot
Organe arbeiten noch automatisch,
Seele ist geflüchtet,
hat keine Verbindung mehr.
Hirn ist tot,
obwohl es vor Arbeit nicht mehr klar denken kann.
Hat die Leitung verloren.
Im Chaos rotiert es,
scheint im Lebenskampf unterzugehen.
Die Angst zersprengt alle Brücken.
Die Spiralen der Unfähigkeit ziehen ihre Kreise,
verschlingen alle Regeln und Hoffnungen.
Sie kreisen immer schneller und zerstörender,
lassen keinen Bereich aus,
bis alles in Schutt und Asche liegt.