In der Traumaklinik
Die ersten Tage waren sehr viel für Carlotta. All die neuen Eindrücke, Menschen, Gespräche, Diagnostikbögen, Therapien, Interviews zum Thema DIS überforderten sie sehr.
Der kleine Anteil Leonie suchte nachts das Schwesternzimmer auf und fragte „nach dem Arzt für kaputte Fensterscheiben“. Denn der leitende Arzt, Herr Ahlfeld, hatte Carlotta nämlich etwas über Zersplitterung der Persönlichkeit am Beispiel einer gesplitterten Fensterscheibe erklärt.
Nachts hatte Carlotta immer sehr starke Schwierigkeiten, die Kontrolle zu bewahren, hatte sehr starke Ängste und konnte kaum schlafen. Sie hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren und sich dort zu verletzen, weil der Druck so stark war, und sie wusste nicht, wie in dieser Klinik auf Selbstverletzung reagiert wurde. Sie hatte Angst, dort nicht die Hilfe zu bekommen, die sie benötigte. Sie hatte Angst vor Zwangsmaßnahmen. Sie hatte Angst, dass niemand sie verstehen konnte.
Sie schaffte es nicht anders mit ihrer Angst und Anspannung umzugehen – in ihren Arm ritze sie (wahrscheinlich war es eher ein Anteil) HILFE!
In den kommenden Tagen gewöhnte sich Carlotta aber recht schnell an ihre neue Umgebung, die Leute und Therapien, und konnte etwas Vertrauen fassen. Sie verbrachte außerhalb der Therapien viel Zeit mit Tischtennis, Badminton, Skip-Bo spielen, Tabu spielen und malen und schreiben.
Spieße, Dolche, Klingen, in frühester Zeit in die Seele gerammt. Damals war es nur ein kurzer Schmerz, bald spürte ich nichts mehr. Doch die Speere stecken tief, sind in mir verankert – wie die Stacheln eines Igels. Der Boden beginnt jetzt zu wanken, bin zu bewegt, zu unruhig, komme ins Trudeln. Die Spieße bleiben starr, lassen keinen Wandel zu, nageln mich ans Kreuz. Es tut so schrecklich weh, so unendlich. Winde mich wie ein Fisch am Haken. Der Haken rammt sich in den Körper, tiefer und tiefer bei jeder Bewegung. Die Angelschnur ist fest wie Stahl, dick wie Drahtseil. Der Strom ist schnell wie Wildwasser, Strudel ziehen mich unter Wasser LUFT LUFT!! |
In der ersten Visite bekam Carlotta von dem leitenden Arzt, Herrn Ahlfeld, ganz kurz und knapp die Diagnosen Dissoziative Identitätsstörung und schwere Depression mitgeteilt. Sie war geschockt und ihr ging das alles viel zu schnell, obwohl es ihr längst irgendwie klar war. Schon in der nächsten Woche wurde Carlotta den DIS-spezifischen Therapie-Gruppen und Einzeltherapien zugeteilt.
Sie bekam erste Kontakte zu anderen DIS-Patientinnen. Sie war einerseits beeindruckt, wie weit die anderen schon waren, wie klar sie ihre Anteile unterscheiden konnten, Namen wussten und die ganze Situation akzeptiert hatten. Andererseits erschreckte sie der Anblick von Wechseln. Carlotta war noch ganz und gar nicht so weit und fühlte sich wieder einmal unfähig, minderwertig und fühlte sich abgestoßen von dem, was sie dort sah und erfuhr. Sie schwankte zwischen Ablehnung und dem Wunsch, irgendwann auch so klar sehen zu können.
In der ersten Informationsgruppe zum Thema DIS wurde Carlotta alles zu viel, als sie sich vorstellen sollte und sie formulierte: „Ich hab das nicht! Und so bekloppt, wie ihr anderen hier, bin ich noch lange nicht!“ Anstatt Carlotta abweisend zu begegnen, lächelten die anderen Mitpatientinnen Carlotta aber an und sagten: „Bei uns war die Ablehnung am Anfang genauso schlimm! Das wird sich noch ändern!“ Das hatte Carlotta nicht erwartet und traf sie tief. Sie wollte nicht dazugehören… und irgendwie doch, weil sie längst wusste, dass es wohl stimmte, und dass Weigerung nichts gebracht hätte.
Mit der Imagination für DIS-Patienten hatte sie auch große Schwierigkeiten und wehrte sich gegen das „Loslassen“ und Entspannen, denn bisher hatte sie es immer als gefährlichen Kontrollverlust erlebt, wenn andere Anteile die Entspannung ausgenutzt hatten und die Kontrolle übernommen hatten.
Zulassen, anders zu sein als Viele und doch VIELE zu sein. Zulassen, allein zu sein unter Vielen und doch VIELE zu sein. Zulassen, Angst zu haben vor Vielem und doch VIELE zu sein. Zulassen, Panik zu haben vor Vielem und doch VIELE zu sein. Zulassen, bedroht zu werden von Vielem und doch VIELE zu sein. Zulassen, aggressiver zu sein als Viele und doch VIELE zu sein. Zulassen, mehr Kind zu sein als Viele und doch VIELE zu sein. Zulassen VIELE zu sein – VIELE machen viel Angst! |
Doch in der Klinik waren der Boden und die Grundlage gegeben, Carlotta fühlte sich nach der Anfangszeit bald sicherer und in guten, erfahrenen Händen, so dass sich nun auch andere Anteile vermehrt ihren Platz im Leben erkämpften.
Carlotta hatte häufige Zeitverluste und wurde wieder unruhiger – neben der Zufriedenheit, dass es nun weiterging.
Der Druck durch die täterloyalen Anteile wurde infolge der Offenheit gegenüber dem Klinikteam und Mitpatienten immer stärker. Es wurde wieder geritzt und Gedanken wie „Es glaubt dir eh keiner!“ bekamen immer mehr Macht im Innen. Auch die Direktheit und Schnelligkeit von dem Klinikleiter in den Gesprächen ließ Carlotta immer wieder zurückschrecken.
Nach 3 Wochen Therapie bekam Carlotta die Nachricht von ihrer Arbeitsstelle, dass ihr Vertrag nicht weiter verlängert würde und sie somit nun keine Arbeit mehr hätte. Sie fiel in ein tiefes Loch und schämte sich, fühlte sich unfähig und nutzlos. Sie hatte Angst, nun den Anschluss an das „normale Leben“ verloren zu haben.
Sie konnte und wollte zuerst nicht einsehen, dass sie nun die Möglichkeit hatte, sich komplett auf die Therapie zu konzentrieren – ohne Stress nebenher, denn zu diesem Zeitpunkt war schon absehbar, dass es sinnvoll wäre, wenn Carlotta in Intervallen immer wieder in diese Klinik gehen würde.
In der Einzeltherapie war vorerst Thema, immer mehr herauszufinden und die Kommunikation zu verbessern. Es gelang Herrn Ahlfeld bald, erste gezielte Kontakte und Kommunikation zu den Anteilen über ideomotorische Fingersignale, aufzubauen.
Und auch erste gezielte Gespräche mit zutraulichen Anteilen waren möglich. Jedoch war es immer eine Wackelpartie, ob die Worte von Herrn Ahlfeld auch wirklich die Anteile erreichten, an die sie gerichtet waren. Durch unbewusst gesetzte Trigger zeigten sich weitere traumatisierte Anteile, so dass Einzelsitzungen eher einem wilden Chaos glichen als einer wohl gesteuerten Therapiesitzung.
Trotz ihrer Verwirrung, ihres wenigen Überblickes und ständigen Abwehrreaktionen der täterloyalen Anteile gelang es Carlotta Stück für Stück, ihr Inneres mehr und mehr zu erkunden und kennenzulernen. Auch über erste DIS-Literatur wurde ihr einiges klarer und sie begriff, dass sie gar nicht so unnormal und allein war (innerhalb dieser Diagnose), und dass sie nicht so einen Druck machen musste.
Ihre Persönlichkeitsliste konnte Carlotta nun dem damaligen Wissensstand angleichen und mit ihrem behandelnden Arzt besprechen. Doch dies hatte leider wieder zur Folge, dass der täterloyale Anteil, der zu dieser Zeit bekannt war, sich selbst verletzte, um darüber die anderen Anteile zu bestrafen.
Der behandelnde Therapeut wollte daraufhin in den folgenden Therapiestunden vermehrt auf die Täterloyalen, die sich nun auch mit einmischten, eingehen und sich mit ihnen beschäftigen. Es war ein schwieriger Weg, denn sie verweigerten sich und schickten stattdessen traumatisierte Anteile nach vorn, welche dann erstmal wieder beruhigt und zurückgeschickt werden mussten. Carlotta bekam von diesen Sitzungen nie etwas mit. Hinterher bekam sie immer eine Zusammenfassung und war geschockt von dem Erzählten. Sie hatte Angst und war wütend gegenüber ihren täterloyalen Anteilen, weil sie es ihr und den anderen so schwer machten weiterzukommen und den Körper ständig verletzten. Sie begann bereits wieder zu denken, es sei aussichtslos. Aber Herr Ahlfeld , ihr behandelnder Arzt, erklärte ihr, dass es natürlich sinnvoll wäre, die „Guten“ zu stärken, um nicht weiter kampflos den Täterloyalen und Täterintrojekten gegenüberzustehen. Jedoch wären diese „Bösen“ auch nicht böse, sondern hätten keinen anderen Weg gehabt, sich mit der Gewalt zu arrangieren und es als ihr Eigenes anzusehen. Es wäre sein Plan, die „Bösen“ durch die Gespräche mit ihm zum „Überwechseln“ zur „guten Seite“ zu bringen.
Als Hausaufgabe gab es bis zur folgenden Sitzung eine schriftliche Diskussion zum Thema: Täterintrojekte/ihre Aufgaben usw.
Carlotta wurde dadurch Vieles in der Theorie klarer und sie erkannte, dass diese Anteile ja auch nur am Schutz der gesamten Person interessiert waren. Sie handelten nur ganz anders, als sie und die „Guten“. Der täterloyale Anteil Bruno, der zu der Zeit am schwierigsten war, handelte so, weil immer noch Angst vor den Tätern bestand.
Herr Ahlfeld war auch sehr erfreut über die gute kommunikative Leistung. Jedoch war dieser erste Aufenthalt in der Traumaklinik auch nach 6 Wochen vorüber und es musste wieder zu Hause weitergehen.
Wieder zu Hause
Während der Klinikzeit war Carlotta zwar 3 Wochenenden zu Hause gewesen, doch hatte sie sich dort nie wohl gefühlt. All die gespielt wohlwollenden Fragen ihrer Eltern hatten sie überfordert und sie spürte: „Nein, denen erzähle ich gar nichts!“ Einerseits, weil sie ein komisches Gefühl dazu hatte, andererseits auch, weil sie sie schützen wollte.
Mit ihren Freunden hatte Carlotta während der Klinikzeit auch kaum Kontakt gehalten. Und nun, nachdem sie zurück war, klaffte eine große Lücke zwischen ihnen. Carlotta versuchte anfangs noch, durch Erzählen und Erklären den Anschluss wieder zu bekommen… doch es war recht aussichtslos. Sie verstanden nicht, nahmen mehr und mehr Abstand. Carlotta fühlte sich wie eine Aussätzige, hoffnungslos allein und einsam.
Die Termine mit Frau Sommer nutzte Carlotta, um sie auf den neuesten Stand zu bringen, und war glücklich, dort wenigstens verstanden zu werden. Auch zu ihrer Selbsthilfegruppe ging Carlotta wieder regelmäßig – dort traf sie, weil die Gruppe kurz zuvor für neue Mitglieder geöffnet wurde, auf eine ganz liebe Frau, Sunny, die sie zu verstehen und nicht abzulehnen schien.
Außerhalb der Therapien schaffte Carlotta nicht sehr viel, sie war gefangen in einer tiefen Depression. Sie formulierte es in einem Text so:
Das Leben erscheint mir wie ein Film, in dem ich keine Rolle besetze. So unwirklich! Meine Augen scheinen zu schwach und zu wund, um das Leben zu sehen. Meine Ohren scheinen zu taub und zerbrüllt, um es zu hören. Meine Gedanken scheinen zu wirr und negativ, um zu denken. Meine Gefühle scheinen zu aufgewühlt und verletzt, um sie darin zu zeigen. Ich lebe in meiner dumpfen, dunklen Welt – allein gefangen und doch sicher, da keiner an mich herankommt, der mich verletzen will. Fühle mich dadurch wie eine lebendige Tote: gefesselt, gequält, missbraucht, eingesperrt, gezwungen, erschlagen. Und doch bin ich Teil des Lebens, das weiter geht. Muss mich zwingen, Anteil daran zu nehmen, etwas zu schaffen. Es kostet viel Kraft; dennoch ist es zu wenig. Ich falle auf als jemand, der nichts leistet, der nicht mehr funktioniert, der nichts wert ist! Enttäuscht von dem Leben und mir selbst ziehe ich mich wieder zurück. Möchte das Ganze stoppen, meine Ruhe haben, endgültig beenden. Doch meine Hoffnung, dass ich irgendwann leben kann, erhält mich – in meiner schönen, stumpfen, dunklen Welt! |
Ihr wurde bewusst, dass sie sich in ihrer damaligen Umgebung nicht wohl fühlte, keine Ruhe finden konnte, und fasste erstmalig den Plan, nach dem zweiten Klinikintervall auszuziehen.
Sie verbrachte viel Zeit bei ihrer neuen Bekanntschaft Sunny und ihrem Mann Enno, um von „zu Hause“ weg zu sein. Dort konnte sie ein Gefühl von Sicherheit, Annahme entwickeln. Und das machte ihr es jedes Mal schwerer, wieder zu Hause zu sein.
Hier muss erwähnt werden, dass „zu Hause“ bedeutete, dass Carlotta schutzlos ihren Täter ausgesetzt war und zu spüren bekam, wie sie es fanden, dass Carlotta in der Klinik war und was sie dort erarbeitete hatte. Doch all dem war Carlotta sich zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.
Ihre Bulimie hatte sich wieder katastrophal verschlechtert. Sie kotzte fast 10 mal täglich und fühlte sich nur noch dreckig und schlecht – neben den körperlichen Schmerzen, die durch das Erbrechen und die Magensäure im Hals und Mund ausgelöst wurden. Sie schaffte nicht viel mehr als von einem Sofa zum anderen zu flüchten, zu essen und zu kotzen, (immer wieder Nachschub zu kaufen)… sich schlecht zu fühlen und wieder ins Bett zu gehen.
Plötzlich geriet Carlottas Welt durch eine Erinnerung eines Innenkindes (Madita) aber noch mehr ins Wanken. Sie konnte es nicht einordnen und es erschreckte sie zutiefst. Die Erinnerung ließ darauf schließen, dass Carlotta nicht nur durch ihren Cousin (und noch weiteren Freunden von ihm, denn das hatte sie sich in der Zwischenzeit eingestehen können, dass dies wahrhaftig war) Gewalt erfahren hatte, sondern auch noch auf andere sehr erschreckende Weise – Carlotta war am Boden. Sie hatte sich etwas vorgemacht. Selbst als durch die Diagnosestellung klar war, dass die bisherigen Erinnerungen nicht alles gewesen sein könnten, hatte sie darauf beharrt, dass es nur die eine „Geschichte“ mit ihrem Cousin und seinen Freunden gab. Sie fühlte sich von sich selber betrogen, zutiefst verletzt, verwirrt und ängstlich.
Frau Sommer versuchte, diese neue Erinnerung mit der familiären Situation und weiteren Erinnerungen abzugleichen. Und doch blieb es vorerst eine Vermutung ohne weitere Erkenntnisse außer der einen Erinnerung, dass Carlotta innerhalb eines Kultes rituell missbraucht worden war.
Frau Sommer versuchte, Herrn Ahlfeld aufgrund dieser wichtigen Neuigkeiten um einen frühzeitigen Wiederaufnahmetermin in der Klinik zu bitten. Doch das war so schnell nicht möglich.
Carlotta versuchte, viel Zeit bei Sunny und Enno zu verbringen und sich zumindest dort sicherer zu fühlen. Doch nicht nur Carlotta selbst war durch die neue Erinnerung aus der Bahn geworfen. Auch ihre täterloyalen Anteile kämpften nun extrem darum, dass nichts weiter ans Licht kommen durfte. Ihnen war auch das entstehende Vertrauen zu Sunny und Enno nicht recht. Sie bedrohten ununterbrochen von innen und waren in Panik. Und diese Panik war berechtigt, denn Tage später, als Carlotta mal wieder für ihre Fressanfälle einkaufen gefahren war, traf sie auf Nils, einen Täter, der sie nach der normalen Begrüßung ganz grob am Arm packte und fragte: „Na, meine Süße, wie geht´s?“
Carlotta hatte einen FILMRISS für die weitere Situation und wurde erst wieder klar, als sie bereits wieder in ihrem Auto auf dem Supermarktparkplatz saß. Ihr war sehr schwindelig, sie fühlte sich gar nicht zu ihrem Körper dazugehörig und hatte einfach nur Angst, dass sie (dabei wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal wer „sie“ eigentlich waren) nun endgültig wussten, dass geredet wurde und dass sie sich rächen würden…
Den täterloyalen Anteilen war dieser Vorfall nun endgültig zu viel und sie bestraften wieder durch Schneiden.
Carlotta versuchte, Schutz bei Sunny und Enno zu finden, doch die täterloyalen Anteile flüchteten abends noch von dort und bedrohten Sunny und Enno sogar über SMS: „Ich habe Carlotta nach Hause gebracht! Aber eins sag ich dir, leg dich nicht mit uns an! Sind sooo sauer!“ und „Kein Vertrauen! Kein Gequatsche mehr! Sonst gibt es Ärger mit uns! Wir sind alle in Gefahr.“
In der nächsten Therapiestunde bei Frau Sommer erzählte Carlotta von den letzten Vorkommnissen. Frau Sommers Reaktion darauf verwirrte Carlotta – sie schrieb in ihr Tagebuch:
„Komme gerade von der Thera wieder. War ganz gut. Habe ihr alles von dem Durcheinander in der letzten Zeit erzählt, mein Geschriebenes vorgelesen und noch mal alles auseinandergepflückt. Was mich positiv überrascht hat, war, dass sie es gleich voll verstanden hat, und ihr die Bedeutung für mich klar war. Sie ist sogar noch etwas weitergegangen und hat gemeint, dass wir da auf jeden Fall raus müssen. Am besten schon im kommenden Klinikaufenthalt mit den Vorbereitungen anfangen. Sie glaubt auch, dass wir wirklich in Gefahr sind! <- Das macht mir ein mulmiges Gefühl, denn das noch mal von außen zu hören, ist etwas ganz anderes. Ich habe das alles bereits wieder soweit weggepackt und nicht an mich herangelassen, dass ich jetzt mit der Reaktion nicht klarkomme.
Wenn sie das so sieht? Wie müsste ich mich eigentlich fühlen?
Hmmm… bin so gefühlstot.“
Carlottas täterloyale Anteile waren in Aufruhr. Innerlich Bedrohungen wie: „Gleich bist du tot!“ und „Wir sterben, wir sterben, wir sterben,…“ waren durchgängig zu hören/spüren.
Durch diese dramatische Zuspitzung der Ereignisse hatte Herr Ahlfeld eine schnelle Wiederaufnahme in die Klinik möglich gemacht. Seit dem letzten Klinikaufenthalt waren etwa 6 Wochen vergangen.
Zweiter Aufenthalt in der Traumaklinik
Im Erstgespräch traute sich Carlotta jedoch nicht, ihm von ihren Vermutungen bzgl. rituellem Kult-Hintergrund zu berichten. Die Beziehung zu Herrn Ahlfeld war zu diesem Zeitpunkt sehr ambivalent: Einerseits war er DER Fachmann, dem sehr vertraut wurde und zugetraut wurde, den richtigen Weg vorzugeben; andererseits bestand auch eine große Angst vor ihm, seinen Anforderungen nicht zu genügen, und ein Widerstand gegen seine schnellen Forderungen.
In der Klinik herrschte zu dieser Zeit gerade eine chaotische Stimmung, denn vielen Mitpatienten ging es dort richtig schlecht. Eine offen ausgelebte Krise folgte der nächsten und es war Carlotta nicht möglich, sich davon komplett abzuschotten. Sie fragte sich, warum sie nun eins der wenigen Einzelzimmer bekommen hatte. Sie fragte sich, ob sie das überhaupt verdient hätte. Sie fragte sich, warum nicht zum Beispiel ihre Mitpatientin Katha dieses Einzelzimmer bekommen hatte, denn ihr ging es viel, viel schlechter – Carlottas Einschätzung nach. Sie bemerkte nicht, dass sie sich bereits wieder völlig gefühlstot gemacht hatte. Sie zweifelte sogar ihre Erinnerungen an und schrieb in ihr Tagebuch:
„Das mit dem Kult kann gar nicht stimmen! Warum geht es mir im Vergleich zu den anderen noch so gut? Das kann doch dann gar nicht wahr sein! Wahrscheinlich will ich nur Aufmerksamkeit!“
Alpträume Eine neue Nacht wartet auf mich, sie zerrt mich in die dunkle Welt, fernab meiner Hoffnung. Ist sie Antwort meiner Qualen? Bilderrauch taucht den Raum in schwarzes Licht, das verhüllt in schwarze Schleier mich auf meiner Reise verfolgt. Das Gedankenmeer ist offen. Das Orchester des Schreckens fängt an, streicht die Bögen auf und nieder wie Rabensschwingen in dem Raum. Die Ketten rasseln, Feuer erstickt die Luft. Dunkle Gestalten ziehen schneller als Wolken, Blitze ziehen auf. Ist das die Antwort auf meine Qualen? Oder wieder nur eine neue Nacht!? |
Doch Carlottas Körper war dieser ganze Stress auf der Station und den Therapiesitzungen bald endgültig zu viel. Sie erlitt mehrere Zusammenbrüche (fiel oft einfach hin und war für einige Minuten nicht ansprechbar) und wurde von den Schwestern angehalten, mal etwas mehr Ruhe zu halten. So holte sich Carlottas Körper zumindest etwas Erholung, wozu Carlotta zu diesem Zeitpunkt nicht allein fähig gewesen wäre, da sie den kompletten Zugang zu ihren Gefühlen verloren hatte und nur noch „vor sich selbst“ floh.
Für die nächste Therapiesitzung hatte Carlotta einen Brief vorbereitet, in dem sie von ihren Befürchtungen und Vermutungen bezüglich rituellem Missbrauch berichtete. Allerdings war sie nicht fähig, diesen vorzutragen und bat Herrn Ahlfeld, es selbst zu lesen. Daraufhin fragte Herr Ahlfeld in das System hinein, ob jemand etwas zu den Vermutungen/ Befürchtungen sagen könnte.
FILMRISS
Als Carlotta 70 Minuten später wieder zu sich kam, stellte Herr Ahlfeld Carlotta Fragen zu ihrem Sicherheitsgefühl, … ob sie schon mal komische Anrufe, Briefe, Karten erhalten hätte. Oder Anrufe , wo dann keiner etwas gesagt hätte, wieder aufgelegt hätte. Sie war verwirrt und hatte Angst, was diese Fragen zu bedeuten hatten? Ob nun einer ihrer Anteile etwas erzählt hatte… ob es nun eine weitere Bestätigung für die erste Erinnerung gab? Doch Herr Ahlfeld erzählte Carlotta erstmal nichts.
Direkt nach der Therapiestunde kam es wieder zu einer schlimmen Selbstverletzung – 25 Schnitte. Und nun hatte Carlotta noch mehr Angst vor einem eventuellen Eingreifen des Arztes durch eine zwangsmäßige Schutzmaßnahme. Sie fühlte sich ganz und gar nicht mehr als „Herr ihrer Lage“, hatte extreme Angst, wusste aber gleichzeit nicht, wovor sie eigentlich Angst hatte. Eine Mitpatientin vergrößerte ihre Angst dann auch noch, als sie Carlotta berichtete, dass es gut sein könnte, dass sie eventuell nach dieser Aktion und den eventuell neuen Erkenntnissen eine Ausgangssperre bekommen könnte.
In den folgenden Tagen waren sehr schwer für Carlotta, die Kontrolle zu behalten. Immer wieder switchte sie chaotisch zwischen traumatisierten, ängstlichen Anteilen und erwachsenen Anteilen, die den Alltag in den Griff bekommen wollten, hin und her.
Ein Anteil (Nisse) versuchte auf ihre eigene Art, mit der Situation umzugehen und hängte ein Schild von außen an die Zimmertür. Darauf war zu lesen: „Wir sind doch nur Schauspieler!“ Als Herr Ahlfeld ins Zimmer trat und sagte: „Frau Dieks so geht das nicht!“ wusste Carlotta, die nun wieder vorne war, nicht, was er meinte. Er zeigte ihr den Zettel und sie riss ihn panisch ab und wurde knallrot. Er lachte und verließ daraufhin das Zimmer wieder.
Bisher hatte Carlotta immer noch nicht die Zusammenfassung ihrer letzten Therapiesitzung erhalten, denn es war nach Konzept dort so üblich, dass es 3 Sitzungen pro Woche gab: Zwei zum Arbeiten und eine zur Aufklärung.
In der zweiten Sitzung sagte Herr Ahlfeld, dass er es auch so sehen würde, dass es dringend erforderlich sei auszuziehen. Carlotta berichtete, dass sie so komische Sätze im Kopf hätte: „Ihr tragt das Signum. Wir werden euch kriegen. Ihr könnt uns nicht entkommen“, und dass die täterloyalen Anteile sie total bedrohten. Herr Ahlfeld gab daraufhin wieder die Frage ins System, was das mit den Sätzen auf sich habe. Dabei kam heraus, dass ein kleiner Anteil einen Drohanruf von den Tätern erhalten hatte und daher diese Sätze stammten. Daraufhin wäre auch Panik und ein Gefühl der Kontrolllosigkeit bei den Täterloyalen ausgebrochen und sie würden sich lieber selber umbringen, als dies andere tun zu lassen. Doch es gäbe noch einen bisher unbekannten Anteil, der sich nun gegen diese zwei, die sich gedrängt fühlten aufzugeben, wenden wollte.
Carlotta war durch diese rasante Entwicklung und dieses dauerhafte Gefühl von Gefahr total geschwächt… konnte immer weniger die Kontrolle behalten. Das nutzen kindliche Anteile und nahmen sich ihre Zeit. Als Carlotta nachts draußen war, um zu rauchen, switchte sie in Kira, einen kindlichen Anteil, denn dieser fühlte sich von dem Planschbecken im Klinikgarten angezogen (eigentlich um die Füße zu kühlen, da der Sommer sehr heiß war). Kira holte sich noch warmes Wasser aus der anliegenden Teeküche der Klinik, zog sich komplett aus, hängte ihre Kleidung ordentlich über einen Zaun und spielte mit einem Ball im Planschbecken – bis sie von der Nachtschwester entdeckt wurde. Als die Schwester Carlotta zurück holte, war es ihr sehr, sehr peinlich, völlig nackt mit einem Ball in den Händen im Planschbecken zu stehen. Die Station war auch völlig nass und mit unzähligen nassen Fußabdrücken übersäht.
Die Nachtschwester hatte diese Story wohl im Team weitergegeben, denn in der nächsten Sitzung mit Herrn Ahlfeld fragte er Carlotta, was sie denn noch vor hätte…, „ob sie wieder planschen gehen würde“ und lachte. Einerseits genoss Carlotta diese lockere und doch auch in all der Schwere humorvolle Atmosphäre, andererseits war es ihr abgrundtief unangenehm und sie schämte sich so sehr.
In dieser Stunde zeigte Herr Ahlfeld auch ein Bild, welches Kinder, die durch den Kult traumatisiert waren, gemalt hatten. Mit den Worte: „Sorry, aber das kann ich ihnen nicht ersparen!“ hielt er Carlotta das Bild hin. Carlotta weinte sehr. Hatte aber gleichzeitig das Gefühl: Das kann ich nicht annehmen. Es klingt wie eine schreckliche Geschichte – aber eben nicht meine Geschichte! Das soll meine/unsere Vergangenheit gewesen sein??
Ich? Wir? So schwer, euch zu akzeptieren/uns zu akzeptieren,wenn ich mich noch nicht gefunden habe. So schwer, euch zu hören/uns zu sehen, wenn ich mich nicht damit abfinden kann, was euch entstehen lassen hat. So schwer euch und mich als wir zu realisieren! |
Täuschung Täuschung meiner erdachten Kindheit. Enttäuschung über die Menschen, die daran teil hatten. Täuschung meiner „fabelhaften“ Jugend. Enttäuschung über die wiederkehrenden, abgespaltenen Erinnerungen. Täuschung des vorherigen Lebens als ich. Enttäuschung über die Schwierigkeiten, als wir zu leben. |
Der Auszug von „zu Hause“ wurde nun dringend vorangetrieben. Um das vorzubereiten, bekam Carlotta einen Termin bei der Klinik-Sozialarbeiterin. Mit ihr organisierte sie ein Kennenlerngespräch mit einer Organisation, die betreutes Wohnen anbot.
Ein großer, runder Geburtstag Carlottas Vaters stand bevor und Herr Ahlfeld deutete an, dass er nicht wolle, dass sie dort daran teilnahm. Doch trotz der unklaren Bedrohungslage für Carlotta fühlte sie sich als Tochter dazu gezwungen, dort zu sein, wenn ihr Vater im großen Familienkreis seinen fünfzigsten Geburtstag feierte. Herr Ahlfeld bot ihr an, eine ärztliche Begründung zu schreiben, damit sie nicht fahren müsste. Doch in Carlottas Kopf ging es hin und her. Sie hatte neue erschreckende Erkenntnisse, konnte diese aber immer noch nicht in den Familienkontext bringen. Und sie fühlte sich in ihrer Rolle als Tochter verpflichtet.
In der nächsten Therapiestunde arbeitet Herr Ahlfeld mit den Täterintrojekten am Thema 50ster Geburtstag und konnte durch Andeutungen herausfinden, dass nach dem Geburstag auch noch ein Kulttreffen anstand, da es auch auf einen satanischen Feiertag fiel. Da war natürlich für Herrn Ahlfeld klar, dass er alles dafür tun würde, um das Teilnehmen an diesem Geburtstag zu verhindern. Die Täterintrojekte waren jedoch der Meinung: Der Schwur müsse eingehalten werden, denn es ginge um Leben und Tod! Und Bruno, das Täterintrojekt, würde sich nicht aufhalten lassen!
Carlotta war verstört, als sie hörte, das „es“ immer noch geschah, dass es nicht nur ihre Vergangenheit betraf, sondern auch ihre Gegenwart, und dass es irgendwie mit ihrer Familie zusammenhing… und sie nichts von all dem wusste.
Kinder in Not Gefangen in ihrer Welt, finden keinen Zugang. Total abgekapselt und allein mit Dunkelheit, Folter, Qual. Durch Verbote und Bestrafung im eigenen Körper eingesperrt. Mit den Gefühlen des Schmerzes, der Angst, des Misstrauens, der endlosen Not. Völlig unansprechbar! Und leider ist es nicht möglich, ihnen Sicherheit und Hilfe zu versprechen, ihnen zu garantieren, dass alles vorbei ist, … dass sie in Sicherheit sind und alles besser wird. Denn meine Welt – unsere Welt- sieht anders aus! |
Am Abend des Geburtstags war es für Carlotta ein harter Kampf, in der Klinik zu bleiben – ein Kampf zwischen der Angst der verletzten Anteile, der Wut und Treue der täterloyalen Anteile und Carlotta, die unablässlich versuchte, die Kontrolle zu bewahren. Zur Unterstützung bekam Carlotta starke Beruhigungsmittel. Dadurch schlief sie schließlich vor Erschöpfung und der Wirkung der Medikamente auf dem Sofa im Aufenthaltsraum unter stetiger Kontrolle der Nachtschwester ein. Als früh morgens Bruno, der täterloyale Anteil, erwachte, war er völlig außer sich. Er war sauer, drohte, schimpfte und wollte gehen, „um zu retten, was zu retten ist“. Er packte Carlottas komplette Klamotten ein und wollte gehen. Doch die Schwestern ließen es nicht zu. Daraufhin schlug und trat Bruno vor Wut gegen die Tür zur Ergotherapie und war gar nicht mehr ansprechbar. Wahrscheinlich hatte auch er entsetzliche Angst vor der Rache, denn sein Weg wäre gewesen: lieber zu gehorchen und zu ertragen, als sich gegen den Kult zu stellen.
In Folge der Schutzmaßnahmen gab Carlotta auch ihr Handy ab und durfte keine Anrufe auf dem Stationstelefon mehr führen oder annehmen. Desweiteren wurde ihr Zimmer auf Klingen untersucht, und sie sollte sich vermehrt außerhalb ihres Zimmers aufhalten. Eine Ausgangssperre wurde auch verhängt. Sie war so taub und geschockt, dass sie die Schutzmaßnahmen einfach mit sich machen ließ.
In den folgenden Tagen wurde durch Bruno so oft geschnitten, dass Carlotta 7x an 7 folgenden Tagen zum Nähen ins Krankenhaus musste. Carlottas Arme und Beine waren in Folge dessen völlig bandagiert und übersäht von Nähten.
Bruno versuchte nun mit aller Kraft, das gesamte System zur Aufgabe ihres neuen Lebensplans und den Sicherheitsmaßnahmen zu bringen. Als er bemerkte, dass auch dies nichts brachte, wollte er sich selbst töten. Er formulierte es so:
„So, ich wusste es doch! Die sind hinter uns her und werden uns früher oder später auf jeden Fall bekommen – ich weiß das! Und Bock auf ne unehrenhafte Hinrichtung vor allen Leuten, die mal zu mir aufgeblickt haben, habe ich keine. So muss ich tun, was zu tun ist. Leider gibt es keinen anderen Weg….“
Im nächsten Gespräch mit Herrn Ahlfeld, vor dem Carlotta solche Angst hatte, weil sie dachte, sie würde Vorwürfe bekommen wegen der vorangegangenen Aktionen, beruhigte Herr Ahlfeld Carlotta jedoch und sagte ihr, sie solle nicht aufgeben, solle weiter versuchen, stark zu bleiben, denn er hätte das Gefühl, dass es auch mit Bruno weitergehen würde. Carlotta glaubte ihm nicht, sie dachte, er hätte dies lediglich zur Aufmunterung und Stärkung des Willens, weiter durchzuhalten, so formuliert.
Carlotta fühlte sich durch die Worte Herrn Ahlfelds ganz und gar nicht beruhigt. Sie formulierte es in ihrem Tagebuch so:
„Fühle mich so schon so fertig und komme mit dem Verarbeiten der neuen Dinge einfach nicht hinterher. Es geht alles so furchtbar schnell und so unkontrolliert. Stehe kopfschüttelnd, baff und beunruhigt vor mir selbst und weiß nicht, was ich als Erstes und als Letztes machen soll.“
Als Carlotta erneut zum Nähen ins Krankenhaus musste, wusste sie, das dies mal wieder Brunos Reaktion zu verdanken war. Im Krankenhaus kannte sie bereits die Schwestern, den Arzt – sie hatten ihre Wunden auch die Tage vorher schon versorgt. Dies war ihr sehr peinlich und unangenehm. Sie versuchte, sich so gut, wie es ging, unter ihrer Kapuze des Pullis zu verstecken und so zu tun, als wäre sie gar nicht da.
Tränen Unzählige ungeweinte Tränen fordern Tribut. Rote Tränen verleihen ihnen heute Ausdruck. Bis schwarze Tränen in Rinnsalen über unser Gesicht laufen. |
Ihr war bewusst, dass sie in einem ganz schlimmen Zustand war, und doch konnte sie es nicht verhindern, da sie nicht die Kontrolle über ihr System bekam. Vielmehr hatte sie das Gefühl: Das System kontrollierte sie; der Kampf kontrollierte sie.
Endlich stand das vor Wochen geplante Vorstellungsgespräch für betreutes Wohnen an. Eigentlich ging plötzlich alles viel zu schnell, doch vertraute Carlotta dem Weg, der vorgegeben war. Carlotta durfte ausnahmsweise allein mit dem Zug dorthin fahren, weil sie keiner aus der Klinik dorthin begleiten konnte. Die Organisation machte einen guten Eindruck auf Carlotta und sie beschloss zu versuchen, dort aufgenommen zu werden. Die Mitarbeiterin, Frau Trümmer, versprach Carlotta, sich für sie einzusetzen und im Team zu besprechen, ob und wann Carlotta aufgenommen werden konnte, und dann zurückzurufen.
4 Tage später erhielt Carlotta einen Anruf von Frau Trümmer. Diese berichtete ihr, dass in der Teamkonferenz beschlossen wurde, Carlotta aufzunehmen und ihr sogar in Anbetracht ihrer Lage bis zum nächsten Auszug dort im Hause vorerst ein Notzimmer zu geben, damit sie nicht so lang warten musste. Allerdings wären bis dahin noch viele Anträge zu stellen und dies würde noch einige Zeit dauern.
Carlotta freute sich sehr über dieses Angebot. Andererseits hatte sie Angst vor dem Neuen, was dies alles noch in ihr auslösen würde und wie sie das alles schaffen sollte. Auch Herr Ahlfeld freute sich mit Carlotta, dass es nun möglich wäre, zumindest eine äußerliche Sicherheit und Abstand zum Kult zu bekommen.
Doch Carlottas Innenleute drehten durch diese Nachricht total durch. In den folgenden Tagen verschlimmerte sich Carlottas Zustand immer mehr. Ihr war es kaum noch möglich, auch nur ein kleines bisschen zu kontrollieren. Das Endresultat war, dass wieder sehr, sehr häufig und sehr, sehr tief und viel geschnitten wurde.
Herr Ahlfeld reagierte darauf sehr sauer. Er hielt Carlotta vor, dass sie sich mehr dagegen wehren müsste und nicht länger einfach nur dasitzen sollte. Es könnte nicht sein, dass Carlottas Körper ihm wichtiger wäre als ihr selbst! Und wenn das so weiterginge, würde er den Therapievertrag aufheben und würde sie nach Hause schicken und ihm wäre es dann auch egal, was mit ihr dann passierte. Oder er könnte Carlotta auch in eine Geschlossene mit Dauerfixierung einweisen, wenn sie nicht langsam mal etwas dagegen unternehme.
Carlotta war geschockt, verzweifelt und traurig über seine Reaktion. Sie hatte das Gefühl, dass sie keiner mehr verstand und nicht nachempfinden konnte, was es hieß, gespalten zu sein… was es hieß, plötzlich einen ganz anderen Weg einzuschlagen… was es hieß, unkontrolliert und voller entgegengesetzter Meinungen zu sein. Sie war sich sicher: sie versuchte doch alles – nur sah es keiner und konnte keiner nachempfinden, wie wenig Kontrolle sie wirklich hatte.
Sie schrieb ein Gedicht:
Eure Stimmen in meinem Kopf lassen mich nicht ruhen. Bin getrieben, wahnsinnig. Ihr wollt mich beherrschen, mich in eine Richtung treiben, in die ich nicht mehr will. Wollt Zerstörung, Bestrafung, Zerfleischung! Doch sind wir nicht schon zerstört genug durch unser jetziges Da-Sein? Sind wir nicht schon bestraft genug durch unsere Vergangenheit? Sind wir nicht schon zerfleischt genug durch unzählige Narben an Körper und Seele? Ihr seht mit anderen Augen, scheint mir. Ihr habt andere Ideale, einen anderen Glauben, andere Werte und Vorstellungen. Kampf gegen euch, Kampf um die Macht, den Körper. Ihr gegen uns. – Alles in mir! Ich will und kann das so nicht mehr! Verlierer ist doch eh immer einer von uns! |
In den wenigen Minuten der Therapiesitzung, die Carlotta vorne war und etwas mitbekam, wurde ihr klar, dass Herr Ahlfeld konkrete Hinweise über Täter innerhalb ihrer Familie haben musste, obwohl er ihr nichts davon gesagt hatte. Sie vermutete, dass einer ihrer Anteile längst verraten hatte, um wen es ging. Denn Herr Ahlfeld machte mit ihr Familienanamnese und legte viel Wert auf Kleinigkeiten bei der Familie von Carlottas Onkel.
Durch das Reden über Carlottas Anteile über diese ganzen Zusammenhänge und Täter wurde plötzlich ein „neuer Anteil“ Luka aktiv, der in ihrer Kindheit zur Verschwiegenheit verpflichtet wurde und das Reden verhindern sollte. In den kommenden Tagen schlug er immer wieder mit dem Kopf gegen die Wände und rief „Tot machen! Alle tot machen!“
Zuerst war Carlotta entsetzt und verwirrt, was dieses neue Chaos denn nun zu bedeuten hatte. Sie fühlte sich einmal mehr sich selbst, den Erinnerungen und ihrer inneren Dynamik ausgeliefert.
Ich ging den Weg der Entselbstung durch das Erleiden und Überwinden des Schmerzes, der Folter, der Qual; Tausend Mal musste ich das ICH verlassen … stundenlang, nächtelang…verharrte im Nicht-Sein. Tötete meine Sinne, tötete meine Erinnerung, schlüpfte aus dem Ich in fremde Gestalten. Kurze Betäubung …und doch von der Erlösung weit entfernt. Vom Dasein loskommen…es überwinden!!! Konnte es aber nur täuschen, als Nicht-Ich ertragen, vor ihm fliehen, mich verstecken. War auf der Flucht! Letzte Chance, mein Ich zu töten, zu zerstückeln. JETZT: Von allen anderen getrennt, abgesondert. Weiß von keinem Ding der Welt weniger als über uns. Und trotz der Müdigkeit des Lebenswillens – Überleben, um hinter all den Trümmern ein Geheimnis zu finden. |
Mit Hilfe von Herrn Ahlfeld konnte Carlotta herausfinden, dass Luka bewusst unter Folterbedingungen von den Tätern erschaffen wurde, um das Reden zu verhindern. Herr Ahlfeld erzählte Carlotta auch, dass es klar wäre, dass sie schon mit ca. 3 Jahren innerhalb der Sekte „aktiv“ war. Diese Neuigkeiten waren für Carlotta ein böser Schock – versuchte sie sich doch immer wieder selbst zu sagen: „Das ist bestimmt alles nur Einbildung!“ Sie formulierte einen Text:
Fürchterlich stickige Nebel aus dem Morast meiner Seele steigen auf. Ich bin unendlich bang und habe Angst, daran ersticken zu müssen. Es hilft hier kein Schrei, der mich erwachen lässt und befreit und keine Flucht zurück in die gute, alte, rettende Welt. Denn dies, hier und jetzt, ist die Welt! Den Hass, den ich gegen diese Menschen empfinde, bleibt ohne Echo, denn sie brauchen mich. Rabenschwarze Seele – bewegt mich! Schon glaube ich, den rettenden Dolchstoß als herrlich prickelnden Schlag gegen die Brust zu spüren, … die Klinge durch den stickigen Nebel hindurch, … mitten in mein kaltes Herz, endlich, endlich etwas in meinem Herzen! Fühle mich schon fast erlöst. Doch die gefangenen Nebel überfluten mich. Will fliehen, zerplatzen, explodieren…, nur nicht an mir selbst ersticken. |
Trotz der schlimmen äußeren Umstände fuhr Carlotta ein paar Tage darauf in ihren zukünftigen Wohnort, um sich das angebotene „Notzimmer“ anzusehen. Sie war alles andere als begeistert von dem Zimmer, der WG, den Mitbewohnern, der Sauberkeit, … und doch sah sie keine andere Möglichkeit als dort einzuziehen, um Abstand von dem Kult zu bekommen.
Doch in der Beantragungsphase kam heraus, dass das Ganze nicht so leicht werden würde, wie Carlotta es sich erhofft hatte. Carlotta musste alle ihre Finanzen offen legen und es wurde festgestellt, dass sie ein zu hohes Kapital hatte (durch ihr neues Auto und ihr Krankengeld). Die Aussicht darauf, dass sie ihr Auto verkaufen und einen Teil ihres Einkommens sowie in absehbarer Zeit all ihre Ersparnisse für die Betreuung einsetzen müsste, machte Carlotta wahnsinnig wütend, trotzig und verzweifelt. Sie schrieb in ihr Tagebuch:
„Suuuuper… ich bin so sauer! Aber auch gleichzeitig verzweifelt. Heute hat Frau Trümmer von der Wohnbetreuung angerufen. … Im schlechtesten Fall muss ich das Auto verkaufen, wenn ich dort einziehen will. Aber das werde ich nicht! Nicht um meine Betreuung zu bezahlen, die ich nur nötig habe, weil andere mir Unrecht angetan haben und noch Geld mit mir verdient haben! Es ist alles so ungerecht! Eher werde ich so vor die Hunde gehen. Ich werde wegen dem Kack nicht meinen Standard, den ich mir hart selbst erarbeitet habe, kaputt machen lassen. Ich bin lange genug Opfer gewesen. Ich will nicht mehr! Nicht mit mir! Eher erpresse ich mir mein Geld von diesen Schweinen – mittlerweile weiß ich genug! Auch wenn ich bei drauf gehe! Egal!
Alles liegt doch schon in Asche und Zerstörung, und dann werden erhoffte Wege wieder kaputt gemacht und jeder neue Strohhalm, an den ich mich krampfhaft festhalte, knickt kurze Zeit später ein. Wann hat das mal ein Ende? Ich kann einfach nicht mehr! Kacke, Scheiße, Mist… Ich hasse das! Werde im Leben nur hin und her getrieben und ecke überall an (wie ein Schiff). Finde keinen Hafen, meine Anker funktionieren alle nach kurzer Zeit nicht mehr. Wann bin ich völlig zerschmettert?“
Durch diese ganzen Unklarheiten geriet Carlottas Innensystem völlig aus den Fugen. Einige waren zutiefst ängstlich der Zukunft gegenüber und hatten wahnsinnige Angst, nun doch „nach Hause“ zurück zu müssen. Andere wollten aufgeben und sich umbringen, und Carlotta verlor immer und immer mehr den Willen, dagegen etwas tun zu wollen.
Herr Ahlfeld reagierte auf die Suizidalität einerseits besorgt und umsorgend, andererseits formulierte er, dass er den Grund des ganzen „Theaters“ nicht verstand. „Das hier ist kein Sterbehospiz!“ Er hätte mit Carlotta und ihren Anteilen nicht gearbeitet, dass sie sich dann umbrächten! Er würde es nicht ertragen, dass ein Mensch, den er lieb gewonnen hätte, vor seinen Augen sterbe.
Carlotta hörte diese Worte… aber das Gesagte ließ sie kalt. Sie war deprimiert, fühlte sich unverstanden und hatte keine Kraft mehr zum Widerstand gegen all das Schwere. Sie war müde zu kämpfen und ihr wurde alles egal. Zu all dem Übel hatte Herr Ahlfeld nun auch noch 2 Wochen Urlaub.
Einerseits genoss Carlotta die Aussicht auf Pause und Erholung, andererseits kamen immer mehr die Gefühle von Resignation, Ende, Abschied, Therapieaufgabe auf. Sie verzweifelte fast an den ganzen Fragen bzgl. ihrer Zukunft und konnte einfach nicht runter kommen.
In Folge dessen war der 2-wöchige Urlaub Ahlfelds kein bisschen Erholung für sie: Sie war kaum anwesend. Ständig machten sich Anteile in ihr selbstständig. Es wurde wieder vermehrt geschnitten, ihr Essverhalten verschlechterte sich immer weiter. Ihre Anteile kämpften um die Entscheidungen, wie es in Zukunft weitergehen würde. Täterloyale Anteile schrieben mit eigenem Blut Botschaften/Drohungen an die Wände. Kinderanteile weinten und schrien. Und Carlotta wurde immer schwächer.
Keine Ruhe Diese innere Unruhe frisst mich auf, Stück für Stück, ganz langsam, damit es lange weh tut. Kein Halten in Sicht. Bin ein ewig Suchender nach Ruhe und einer Kraftquelle. Doch finde sie nirgends. Hin und her, unruhig, getrieben, keine Zufriedenheit, keine Kraft mehr. Gedanken, Schwindel, Flucht! |
Direkt nach dem Urlaub fand die Hilfekonferenz statt. Dort wurden die Ziele, Maßnahmen und die Finanzierung des betreuten Wohnens geklärt; Carlotta musste nämlich die Mietkosten der WG und die Betreuungskosten selbst tragen. Sie ließ das Ganze eher mit sich geschehen als sich mit einzubringen und war sehr erleichtert, dass dies ohne weitere Probleme vonstatten ging.
Es wurde immer konkreter, dass der Klinikaufenthalt bald endete und ein neuer, ungewisser Abschnitt beginnen würde. Neben all den Fragen, ob sie ihren Alltag „draußen“ und allein schaffen würde, quälte Carlotta die Frage nach ihrer Sicherheit:
„Bin ich denn dort sicher? Wie merke ich, dass ich wieder in den Fängen dieser Leute sein sollte? Fahren meine täterloyalen Leute vielleicht immer noch freiwillig zu irgendwelchen Treffen?
Und dann kommen die mir hier in der Klinik mit Fragen wie: Wie sehen Ihre nächsten kleinen Ziele aus? — LEBEN, einfach am Leben bleiben! Wie soll ich bei all dem positiv denken, wenn man doch aus Erfahrung immer wieder abstürzt!
Wie soll ich das alles bloß allein schaffen, wenn ich es hier mit Unterstützung schon nicht oder nur schwer schaffe!?“
Ende Allein und gefangen in den Wogen der Trauer des Abschieds. Finden keinen Ausdruck, Schmerzen, Verwirrung, Angst- nicht weiter bestehen zu können in der Aufgabe, die „Neues Leben“ heißt. Sind unsere Vorhaben zu schaffen? Oder steht die Zerstörung wieder hinter jedem Ziel und Anfang? Fragen über Fragen, rastlose Gedanken, kein klarer Blick möglich – in der Gefangenschaft unserer Gefühle. Zu nah und vertraut das Negative. Zu wenig Selbstvertrauen, positiv zu blicken. Was hält uns noch? Ein letztes bisschen Hoffnung , ein Kraftrest und Mut, dass das Ende hier nicht unser Ende bedeutet. |
Als Carlotta an ihrem letzten Wochenende in der Klinik Ausgang erhielt, kam es zu einem dramatischen Zwischenfall: Täterloyale Anteile hatten die Kontrolle über Carlottas Körper übernommen und waren auf direktem Weg zu den Tätern gefahren.
Als Carlotta am Sonntag zurück in der Klinik ankam, war sie in einem katastrophalen Zustand. Dissoziierte andauernd, aber kein Anteil traute sich, dem herbeigerufenen Herrn Ahlfeld irgendetwas zu sagen. Ein kleiner Anteil stammelte nur immer vor sich hin : „Alles ist gut!“ „Nichts sagen!“ Carlotta ging es hundeelend, sie hatte Schmerzen und war total hoffnungslos bezüglich ihrer Zukunft.
Als dann durch die täterloyalen Anteile herauskam, dass auch bereits die Adresse der betreuten Wohnung verraten sei, was die täterloyalen Anteile natürlich freute und als ihr Sieg über den Therapeuten gefeiert wurde, meinte Herr Ahlfeld, dass Carlotta bei Täterkontakt dann auch nicht mehr wiederzukommen brauche. Denn er würde nicht versuchen, etwas aufzubauen, was die Täter innerhalb weniger Stunden wieder kaputt machen könnten. Carlotta und ihr System müssten das dann allein regeln und müssten lernen, alle an einem Strang zu ziehen. Sie müssten dann am eigenen Leib merken, dass es abwärts geht, wenn das so weiterginge.
Trotzdem wurde Carlotta zwei Tage später entlassen. Der Aufenthalt dauerte insgesamt 3 Monate.
Unruhe, Angst, Zittern, keine anderen Gedanken, alles andere unwichtig. Versinken in Unsicherheit. Keine Gegenwehr möglich. Feinde im Innen und Außen zerfetzen, quälen, peinigen uns, bis nichts mehr übrig bleibt als Scham, Ekel und Aufgabe. |